Mara, oder: Vom stählernen Penis zur Shin Megami Tensei-Ikone
Jeden ersten Sonntag im April wird am Kanayama-Schrein im japanischen Kawasaki das Kanamara Matsuri abgehalten, ein Fest zu Ehren der Fruchtbarkeitsgötter. Dabei wird eine enorme Phallusskulptur unter einem Baldachin durch die Straßen getragen, während Menschen Eispenisse lutschen und sich als Phalli verkleiden. “Kanamara Matsuri” bedeutet “Festival des stählernen Penisses”, wobei Matsuri die Festivitäten bezeichnet, Kana aus den Namen der Schmiede- und Fruchtbarkeitsgötter Kanayama-hiko und Kanayama-hime stammt und “Metall” bedeutet und Mara für “Penis” steht.
[Contentwarnung: Penisse, soweit das Auge blickt]
Wer diesen Blog schon länger liest oder mein Buch kennt, weiß, was jetzt kommt. Auftritt Shin Megami Tensei.
Mara, der “Throbbing King of Desire”
Einer der beschwörbaren Dämonen, der über die gesamte Shin Megami Tensei-Reihe (kurz SMT) auftritt und auffallend oft eine Rolle als Boss oder Miniboss einnimmt, ist Mara. Obwohl viele Dämonen über den Verlauf der SMT-Serie (zu der auch die Persona-Subserie gehört) ihr Aussehen gewechselt haben, meist bedingt durch unterschiedliche Künstler*innen oder Story-Erklärungen, ist Mara ein ganz besonderer Fall. Mara besitzt zwei Formen, die oft beide im selben Spiel vorkommen und seit Beginn der Reihe weitestgehend unverändert sind: Eine schwächere, die einer grünen Version des ebenfalls in vielen Spielen der Reihe vorkommenden Gegners Slime ähnelt, sowie eine starke Form, die meist auch die ist, die von den Protagonist*innen der Reihe zu Hilfe gerufen werden kann. Jene stärkere Form besteht aus einem großen Mara mit mehreren Tentakeln, der auf einem goldenen, dornigen Streitwagen reitet. Beiden Formen ist eines gemein: Mara hat einen unübersehbar an die Eichel eines Penisses angelehnten Kopf. Damit dieser Umstand auch wirklich von niemandem übersehen wird, reißt Mara, wenn er als Boss auftritt, in so gut wie jedem Shin Megami Tensei sehr anzügliche Witze. In Persona 5, Persona 5 Royal und Strikers etwa wird Mara als “Throbbing King of Desire” (dt. ‘pulsierender König der Gelüste’) vorgestellt. Außerdem lernt Mara in den meisten Spielen Fähigkeiten, deren Namen in Verbindung mit seinem Aussehen und seiner Attitüde ordentlich zur Zweideutigkeit beitragen, beispielsweise “Firm Stance”, “One-Shot Kill” oder “Heat Riser”.
In gewisser Weise ist der phallische Mara zum ironischen Aushängeschild der SMT-Reihe geworden, mit dem man Uneingeweihte irritieren und sich über die bizarren Shin Megami Tensei-Spiele lustig machen kann. Wer die Serie oder zumindest die Persona-Subserie einigermaßen kennt, weiß jedoch, dass die Kreaturen der Reihe immer einen mythologischen Hintergrund haben. Götter, Engel und Dämonen der verschiedensten Mythologien werden hier zusammengemischt und gehen Allianzen sowie Kriege weit über die Grenzen ihrer kulturen Pantheons hinaus ein.
Ein Deva, ein Wort
Dem Umstand, dass das -mara in Kanamara Matsuri “Penis” bedeutet und Shin Megami Tenseis Mara sowie die Mythologien im Kopf zusammenführend, habe ich mich also auf die Suche gemacht nach der Herkunft dieser Verbindung. Die Herkunfts-Texte, die in vielen SMT-Spielen existieren, ordnen Mara nicht als japanischen, sondern indischen oder sri lankischen, buddhistischen Dämonen (sog. ‘Deva’) ein. Mara im buddhistischen Sinne hat mehrere Bedeutungen, die alle mit negativen Charakterzügen wie Gier, Hass, Lust oder dem Tod in Verbindung stehen. Eine davon hat einen starken Bezug zu den Herkunftsmythen des Buddha: Devaputra-Mara, eine dämonische Manifestation der Gelüste, versucht Siddhārtha Gautama zum Sex zu verführen und mit einer Armee zu vernichten. Devaputra-Mara wird bisweilen als phallusköpfiger Reiter des Deva Girimehkala dargestellt, der ebenfalls oft in den SMT-Spielen vorkommt und daher für Maras Darstellung durch den goldenen Streitwagen ersetzt worden zu sein scheint – der außerdem eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zur Sänfte der Penis-Büste beim Kanamara Matsuri aufweist.
Das Konzept von Mara als Metapher für bestimmte Gelüste kommt also aus dem Buddhismus. Damit ist klar, wo wir nach der Wortherkunft des Namens suchen müssen: im altindischen Sanskrit. Das altindische Verb māra bedeutet “töten” und leitet sich aus der indo-europäischen Wortwurzel mṛ ab, die “sterben” oder “verschwinden” bedeutet. Das japanisierte Wort māra (魔羅, 摩羅 oder 末羅 geschrieben) lässt sich bereits 938 A.D. in japanischen Wörterbüchern nachweisen: Es bedeutet nichts anderes als “Penis”. Es wurde ursprünglich von buddhistischen Mönchen als derivative Bezeichnung eingeführt und spielt auf die versuchte sexuelle Verführung des Buddhas durch Devaputra-Mara an. Heute wird māra auch umgangssprachlich verwendet. Damit ist klar, woher das -mara in Kanamara Matsuri kommt: Aus dem Slang der buddhistischen Mönche.
Der Dämon Mara in Shin Megami Tensei bringt also zusammen, was zusammen gehört: Die Sage vom Devaputra-Mara, dem phallusköpfigen Dämon, der den Buddha zum Sex verführen wollte, und das japanische Lehnwort aus dem Sanskrit, das von den Mönchen als Slang für Penis geprägt wurde. Kein Wunder, dass Maras Auftritte in Shin Megami Tensei oft vor sexuellen Anzüglichkeiten nur so gespickt sind.
Übrigens: Das Kanamara Matsuri wird heute zur Aufklärung über Geschlechtskrankheiten genutzt und veranstaltet jährliche Spendenkampagnen zur Forschung gegen AIDS.
Eine Antwort
[…] Keine Angst, es geht nicht um Mara. […]