Im Trenchcoat nach Tokyo: Vom englischen Krimi zum japanischen Detektivspiel
In die Rolle von Detektiven zu schlüpfen, fasziniert uns immer schon – auch Videospiele machen da keine Ausnahme. Aber was macht Phoenix Wright zu Miss Marples würdigem Nachfolger?
Als jemand, der gerne und viele Detektivromane liest, zog es mich zum Ermitteln ganz natürlich auch in die Sphäre der Videospiele. Doch wo beginnen? Bei quellentreuen Umsetzungen bekannter Romane wie »Sherlock Holmes: The Devil’s Daughter« und »Agatha Christie: The ABC Murders«? Sicher ein guter Anfang. Doch wie führen solche Klassiker zu den ebenso etablierten Kultspielen aus Japan wie »Ace Attorney« oder »Danganronpa«? Wie so oft, wenn man die Entwicklung eines Kulturphänomens nachverfolgt, macht die Geschichte nicht an einer Landesgrenze halt.
“Als ich alle Beweise zusammengetragen hatte, lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und begann, zu denken.”
-Hercule Poirot in »Mord im Orientexpress«
Klassisch europäisch…
Detektivromane sind eine der beliebtesten Geschichtenformen unserer Zeit: Von bretonischen Entführungen über Berliner Politmorde in den 1920er bis hin zu Verschwörungen im Vatikan ermitteln die unterschiedlichsten Detektivinnen und Detektive alles, was sich das menschliche Gehirn Verstörendes ausdenken kann. Gute drei Jahrhunderte geht die westliche Begeisterung am Lösen von Kriminalfällen zurück: Lange vor Miss Marple und Sherlock Holmes ermittelten bereits E.T.A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi und Edgar Allan Poes C. Auguste Dupin. Noch viel frühere Formen der Detektivarbeit lassen sich in »Tausendundeiner Nacht« und in bestimmten chinesischen Märchen finden.
Die Linie von Edgar Allan Poe zu Agatha Christie, und letztlich auch die von den »Sherlock-Holmes«-Romanen zu Spielen wie »The Devil’s Daughter« ist also schnell gezogen: Britische und europäische Autoren und Autorinnen beeinflussen sich in üblicher Literaturmanier gegenseitig und entwickeln die Spezialitäten ihrer Narration stetig weiter. Das imperiale und postimperiale Großbritannien hat als Oppressor und Großmacht seine Literaturgeschichte ebenso verteilt wie seine Sprache. Dass im Westen beliebte Literatur ebenso verspielt wie verfilmt wird, liegt daher im normalen Verlaufsmuster multimedialer Entwicklung. Auch, wie Romane wie auch ihre Verfilmungen als thematische und ästhetische Quellen für Detektivsequenzen in Spielen Modell stehen, ist nur natürlich. Jede Analyse, die Batman in »Arkham City« oder »Batman: The Telltale Series« mit der Batvision seiner Maske durchführt, jede Blutspur, die Geralt in »The Witcher 3« mit seinem Hexersinn zum Tatort zurückverfolgt, steht letztendlich in dieser Tradition.
…typisch japanisch?
Doch der Einfluss westlicher Detektivliteratur hört nicht dort auf, wo heute Englisch gesprochen wird oder wo andere Kolonialmächte mit Britannien in Kontakt standen. Denn bei genauerer Betrachtung folgt auch Phoenix Wright, zumindest in seiner Funktion als Ermittler und nicht als Anwalt, in den Fußspuren von Sherlock Holmes. Lange vor dem Zweiten Weltkrieg brachten japanische Autoren den westlichen Detektivroman nach Hause, um ihn dort nach ihren gesellschaftskritischen Bedürfnissen zu adaptieren. Fantastische, erotische und schlichtweg seltsame Vorkommnisse waren von Beginn an Teil japanischer tantei shōsetsu oder »deductive reasoning fiction«, wie das Genre seit den 1950ern genannt wurde. Auch Sozialpessimismus, der die anhaltenden Korruptionsfälle und soziale Ungleichheit der japanischen Gesellschaft behandelte, fand nach dem Krieg Einzug in Detektivromane und stand in Wechselwirkung mit dem ähnlich ausgerichteten U.S.-amerikanischen Subgenre des Hardboiled oder Detective Noir. Wunderbares Beispiel: Die Detektivromane von Seishi Yokomizo, die ab 1946 im Serienformat in Japan erschienen und seit 2022 auch bei uns erscheinen, begonnen mit dem Erstlingswerk »Die rätselhaften Honjin-Morde« um seinen zerzausten Detektivjüngling Konsuke Kindaichi.
Spiele wie »Danganronpa« und »Ace Attorney« sind in ihrer Abgefahrenheit also nicht nur Teil genereller beliebter Erzählstrategien japanischer Medien, sondern insbesondere auch Erben früher japanischer Kriminalfiktion: Was heute oft als ›typisch japanisch‹ verschrien wird, dient als Ventil in einer starren Gesellschaft. Detektivromane boten sich für diese Art der Extravaganz ganz besonders gut an, denn was eine ermittelnde Figur von ihrer Umgebung abhebt ist weit mehr als ihre scharfe Auffassungsgabe. Detektive sind Außenseiter – sie müssen ihre Umgebung irritieren. Wo schon Hercule Poirots mächtiger Schnurrbart Verbrecher aus dem Konzept bringt und Sherlock Holmes’ Drogensucht ihn zur tickenden Zeitbombe macht, da lassen sich übernatürliche Ereignisse oder Drahtzieher, die sich hinter sprechenden Puppen verstecken, sehr organisch einfügen.
Am Ende steht die Moral
Diese Eigenheiten japanischer Detektivspiele dienen heute wiederum im Westen als Inspiration, da sie längst zu Kultobjekten geworden sind: Das jüngst erschienene britische »Paradise Killer« mit seiner Ermittlerin Lady Love Dies bedient sich ganz offen bei Suda51-Spielen wie »The Silver Case« und Spike Chunsofts »Danganronpa«. So schließt sich der Kreis: Von Scuderi über Wright bis Love Dies, von England nach Japan und wieder zurück. Die Grundstruktur einer guten Detektivgeschichte hat sich dabei nicht wesentlich verändert: Vergleicht man den Ablauf von »Paradise Killer« mit dem Inhaltsverzeichnis eines Romans von Agatha Christie wie »Mord im Orientexpress«, so ist die Struktur der Detektivarbeit die gleiche geblieben. »Fakten«, also unumstößliche Beobachtungen, stehen immer »Beweisen« gegenüber: Den unzuverlässigen Aussagen der Zeuginnen und Zeugen. Gelöst wird der Fall schließlich »im Sitzen«, wenn Hercule Poirot, sich im Sessel zurücklehnend, nachdenkt und Lady Love Dies oder Phoenix Wright ihre Beweise dem Richter präsentieren: Beweise und Fakten werden miteinander kombiniert, die Spreu vom Weizen getrennt und die hoffentlich richtigen Schlüsse gezogen. Diese Struktur sorgt dafür, dass die Rezipierenden, ob sie nun lesen oder spielen, stets miträtseln und erst zum Schluss, gemeinsam mit dem Ermittler, den Schuldigen erkennen.
Hardboiled, Love Dies
Das lässt auch eine moralische Grauzone zu. Am Ende von »Mord im Orientexpress« verlässt Hercule Poirot den Zug, ohne die Täter zu verhaften, da er ihre Selbstjustiz den Gesetzen überlegen sieht. Spiele lassen uns genau solche Szenarien noch besser ausleben, indem sie uns Wahlfreiheit lassen. Nicht alle Täter in »Paradise Killer« sind gleich schuldig, und obwohl es nur eine Art der Strafe gibt, haben sie nicht alle die gleiche verdient. Was macht es da schon, wenn der Ermittlerin ein Schuldiger durch die Lappen geht? Menschen sind schließlich fehlbar, erst recht wenn sie leiden – sonst bräuchte es ja keine Detektive.
Dieser Artikel erschien zuerst im GAIN-Magazin, Ausgabe #16. Leider wird die GAIN mit Ausgabe #21 eingestellt. Wer noch ein Magazin möchte oder die letzte Ausgabe bestellen will, kann hier im Shop suchen.