Wem “gehört” das Mittelalter in digitalen Spielen?
Eine Geschichte, wie sie unspektakulärer nicht sein könnte: Ein Entwickler*innen-Studio veröffentlicht Informationen über ein angekündigtes Spiel, inklusive einiger Bilder von in besagtem Spiel auftretenden Figuren, und im Internet erleben Gamer™ einen kollektiven Wutanfall, der übermorgen schon niemanden mehr interessiert. Wasser ist übrigens nass und der Himmel blau. Weiter im Text.
Natürlich ist es nicht ganz so einfach. Selbstverständlich ist es nicht überraschend, dass sich im Moment Gamer™ darüber beschweren, dass Thor im neuen God of War: Ragnarök angeblich nicht männlich genug aussieht und Angrboda eine Schwarze Frau ist. Ganz besonders nicht, nachdem das Bild, in dem Angrboda zu einer weißen Frau umretouchiert wurde, aus GamerGate-Kreisen zu kommen scheint. Diese Leute stecken schließlich schon seit Jahren in einer Krise der Deutungshoheiten über das Medium Spiel und “Nerd”-Subkulturen im Allgemeinen. Wo noch vor 10-15 Jahren scheinbar weiße cis-hetero Männer als Gamer™ das einzige Maß aller Dinge zu sein schienen, haben sich inzwischen viele andere ihre Sichtbarkeit immer deutlicher erstritten. Es ist zwar immer noch zu kurz gegriffen, zu behaupten, der Mythos Gamer würde im Medium keine Rolle mehr spielen, aber seine Hochzeiten sind schon länger vorbei und dementsprechend gänzlich unüberraschend ist es, dass “Arschlochgamer” noch im Untergehen verzweifelt um sich schlagen, um eine alleinige Deutungshoheit zurückzugewinnen, die in dieser Form schon länger mehr oder weniger verloren ist oder wenigstens immer weiter schwindet.
Trotzdem ist der Fall von God of War zumindest eine kleine Notiz am Rande wert, denn er stellt die neueste Episode eines schon länger um sich greifenden Trends von rechter Mittelalterrezeption im Gaming dar. Gerade “Wikinger” und “Germanen” im weitesten Sinne haben eine lange Tradition als Projektionsfläche u.a. von insbesondere cisnormativen Geschlechterrollen und Weißsein, die auch bei neuheidnischen und anderen esoterischen Strömungen auf dem rechten Spektrum sehr beliebt sind. Wie für rechtsradikale Geschichtsrezeption typisch wird dabei ein scheinbar urtümlicher Zustand im Mittelalter konstruiert, in dem die Welt mehr oder weniger noch “in Ordnung” war, weil Männer noch Männer, Frauen noch Frauen waren und die (eurozentrische) “Welt” von weißer Cisheteronormativität dominiert wurde.
“Das Mittelalter” als rechtsradikale Spielwiese
Die Wurzeln dieser und ähnlicher rechtsradikaler Wikinger- und Mittelalter-Mythen liegen im Kern in völkischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. In Deutschland haben z.B. schon die Nazis in ihrer Propaganda regelmäßig Bezug auf mittelalterliche Herrscher wie die Ottonen genommen, um das “Deutschland” des 20. Jahrhundert legitimatorisch mit dem Ostfrankenreich gleichzusetzen und damit einen historischen Anspruch für ihre großdeutschen Pläne zu formulieren. Ein Phänomen, das im übrigen z.B. auch die Wolfenstein-Reihe aufgegriffen und mehrfach durch den Auftritt sowohl Heinrichs I. als auch Ottos I. als Alchemisten und Erschaffer von Monstern in den Spielen persifliert hat.
Im englischsprachigen Raum dagegen hat gerade in den letzten Jahren wieder der Begriff “Anglo-Saxon” als Konstrukt für eine angeblich urtümliche, weiße Bevölkerung im englischen Frühmittelalter Konjunktur, weshalb der Begriff inzwischen auch von Wissenschaftlerinnen wie Mary Rambaran-Olm scharf kritisiert und sein rassistischer Kontext wiederholt entsprechend eingeordnet wurde. Und als Rechtsradikale in den USA Anfang des Jahres das Kapitol besetzten, gingen Bilder von einem QAnon-Anhänger, der oberkörperfrei und mit einem Fellhelm mit Hörnern bekleidet eine US-Fahne schwenkte, um die ganze Welt. Der Mann hat sich selbst als “Schamane” bezeichnet und scheint mit seinem Outfit eine Mischung aus Wikingermythos und kulturelle Aneignung indigener Religionen betrieben zu haben, doch das Wikinger-Element war auch hier präsent.
In Deutschland nehmen oft Fantasien von wahlweise einem deutschen Großreich im Stil des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation oder einem urtümlich-freien “Germanien” vor den Feldzügen der Römer nach Norden samt heidnischer Symbolik den Platz ein, den Wikinger und “Anglo-Saxons” im englischsprachigen Raum besetzen. Mythen wie der der Inseln Thule oder Atlantis sind hier immer wieder Brücken, die sich zwischen “Wikinger”- und “Germanen”-Rezeption schlagen lassen. Diese Mythen sind auch oft international deutlich anschlussfähiger, weil sie ihre (früh-)mittelalterlichen und spätantiken Vorlagen auf deutlich abstrakterer Ebene adaptieren als nationale Erzählungen wie z.B. Unterdrückungserzählungen mit mittelalterlichen Wurzeln in Osteuropa oder Fantasien vom Heiligen Römischen Reich als deutsches Großreich, das es nie war. Was aber rechtsradikale Zielgruppen sowohl der neuheidnischen als auch christlichen Mittelalterrezeption alle eint, sind Rassismus, Antisemitismus, Misogynie, Queerfeindlichkeit und Ableismus.
Valkürliche/Willkürliche Unterkomplexität
Die historischen Realitäten – so weit sie rekonstruierbar sind – waren natürlich deutlich komplizierter. Das liegt zum einen daran, dass Quellen und archäologische Funde sehr oft mehrdeutig zu interpretieren sind, aber auch daran, dass viele der Kategorien, über die wir heute streiten z.B. im Mittelalter anders wahrgenommen wurden. Im 12. Jahrhundert beschäftigte sich so z.B. Hugo von St. Viktor mit dem Widerspruch, dass man bisher einerseits die Rechtmäßigkeit einer Ehe v.a. an ihren Vollzug und damit an Sex geknüpft hatte, andererseits damit aber die Jungfrau Maria entweder nicht rechtmäßig mit Josef verheiratet gewesen war oder ihren Schwur der Jungfräulichkeit gebrochen haben musste. Seine Lösung für dieses Problem war schlicht, die Kategorien “Ehe” und “Sexualität” zu trennen, und stattdessen skizzierte er Ehe als eine monogame Partnerschaft, die auch zolibatär funktionieren könnte. Daraus ergibt sich zwangsweise, dass in diesem Konzept theoretisch sowohl Asexualität als auch gleichgeschlechtliche Beziehungen einen Raum hätten. Hugo reagiert darauf tatsächlich sogar direkt in seinem Text und definiert Sex und v.a. Kinder als eine Pflicht zweier Ehepartner und schließt auch direkt gleichgeschlechtliche u.a. damit aus, dass er eine Ehe daran knüpft, dass eine Frau einem Mann per se untergeordnet sei, Männer untereinander aber eben nicht. Hugo, ein christlicher Geistlicher, reagiert damit letzten Endes auf die Möglichkeit von Queerness, ohne dass die entsprechenden Begrifflichkeiten, wie wir sie heute verwenden würden, für ihn existierten.
Das ist nur ein Beispiel, aber es verdeutlicht die Komplexität des Themas und warum es so einfach ist, zu versuchen, bei ganzen Epochen auf unterkomplexe Weise z.B. jede Form von Queer History auszublenden. Das ist unseriös, natürlich, und hat herzlich wenig z.B. mit Forschungen zu Sexualität oder Gender im Mittelalter zu tun. Doch wie so oft interessiert so etwas Rechte mit ihren Mittelaltermythen nicht. Stattdessen wird eine Rosinenpickerei betrieben, die vor allem dazu dient, eine rechtsradikale Utopie zu zeichnen. Und für diese rechtsradikalen Fantasien ist es, ganz zynisch gesagt, nichts anderes als ein Glücksfall, dass historische Gruppen wie “Wikinger” (d.h. eigentlich Normannen bzw. diverse Gruppen im heutigen Skandinavien), “Germanen”, aber selbst frühmittelalterliche christliche Bevölkerungsgruppen geschichtswissenschaftlich oft schwer zu fassen sind und ihre Geschichte dementsprechend anspruchsvoll ist. Je komplizierter das Thema, desto leichter lassen sich Teile auch willentlich falsch verstehen und aus dem Zusammenhang reißen. Ein Lesefehler einer Saga des 13. Jahrhunderts ist z.B. bei Leugner*innen der Klimakrise beliebt, um zu behaupten, dass es im Mittelalter in Skandinavien schon einmal wärmer gewesen wäre als jetzt. Das ist Unsinn und verkürzt den Forschungsstand mindestens fahrlässig.
Reaktionäre Mittelaltermythen und Spiele
Zurück zu Spielen: Nein, nicht alle “Gamer” sind rechtsradikal, aber spätestens seit GamerGate ist klar, dass die Opfererzählung vom unterdrückten (cishetero) Gamer, den “die Frauen” verachten, in Kombination mit propagierten Idealen von toxischer Nerd-Maskulinität und einer daraus resultierenden guten Portion Sexismus einen Anknüpfungspunkt für Rechtsradikale bieten. Und in den letzten Jahren standen bei vielen Protesten über angeblich forcierte Diversität Geschichte und insbesondere reaktionäre Mittelaltermythen im Zentrum. Ganz egal, ob wir über die Debatte über Witcher 3 (2015), Kingdom Come: Deliverance (2018), Crusader Kings 3 (2020) oder jetzt God of War sprechen, das scheinbare Totschlagargument entweder gegen die bloße Existenz z.B. einer Schwarzen Frau oder gegen die Kritik z.B. an Sexismus ist immer und immer wieder ein plumpes “Das war aber (nicht) so”. Bei Witcher 3 und Kingdom Come war es ein angeblich rein weißes (und natürlich rein hetero- und cisnormativ-männliches) Osteuropa im Mittelalter, bei Crusader Kings 3 war es die vage Behauptung, dass Geschichte™ eben von weißen hetero Männern gemacht wurde und queere Menschen quasi nicht existiert hätten, und bei God of War trifft Rassismus auf normative Konzepte von Männlichkeit und fatmisia.
So weit, so unspektakulär. Niemand, der*die in den letzten Jahren aktuelle Debatten über historisch inspirierte Spiele und soziale Gerechtigkeit auch nur lose verfolgt hat, dürfte davon überrascht sein, dass es eben nach wie vor eine Ecke der reaktionärer Spieler*innen gibt, die bei erstbester Gelegenheit auf die Barrikaden gehen, weil sie finden, dass eine Frau in einem Spiel nicht genug Makeup trägt. Ein größeres Problem ist, dass zu viele Spiele ihr Mittelalter entlang reaktionärer Leitlinien konstruieren und das selten bis nie in der öffentlichen Diskussion eingeordnet wird. Nicht nur unter anderem, sondern ganz besonders in Deutschland.
Medieval Dynasty und der Erbenautomat
Ein sehr simples und im Kern harmloses Beispiel dafür ist z.B. Medieval Dynasty, das als eine Art Mittelaltersandbox mit einer herzlich unspektakulären, aber nicht einmal schlechten Prämisse operiert. Spieler*innen steuern einen jungen Mann, der nach einem Überfall auf sein Dorf aus seiner Heimat zu seinem Onkel in ein anderes Dorf flieht, dort aber feststellt, dass besagter Onkel längst tot und von seinem Erbe nichts übrig ist. Die Dorfbewohner sind aber nett zu ihm, und so bleibt er und baut sich nun ein wenig außerhalb zuerst sein eigenes Haus, woraus dann ein ganzes Dorf wächst, um das Spieler*innen sich kümmern müssen.
Das beinhaltet auch, dass der Avatar heiraten kann (und soll), um so den Fortbestand seiner “Dynastie” zu sichern. Ein Umstand, den das Spiel durch einen mindestens hölzernen Text erklärt hat, der die Ehefrau des Avatar im Grunde zum Tamagotchi erklärt und ausführt, dass sie wichtig sei, um einen Erben zu bekommen, man als Spieler*in aber aufpassen sollte, dass sie auch immer Essen und ein Dach über dem Kopf hat, weil sie den Avatar sonst verlässt und den kostbaren Erben mitnimmt. Spielmechanisch heißt das also: Wer seine Frau nicht gut genug füttert, der verliert seinen Erben. Wie das eben so läuft.
Im Fall von Medieval Dynasty ist das im Grunde schon wieder lustig, weil das Spiel mit seiner Ehefrauen-Mechanik ein wenig lächerlich offensichtlich herausstellt, wie hölzern es nicht nur soziale Beziehungen, sondern auch mittelalterliche Ehen begreift. Zwar impliziert das Spiel durch seine Brautwerbungsmechanik auch, dass der Spieler*innen-Avatar und seine Frau sich mehr oder weniger lieben, oder wenigstens ertragen. Gleichzeitig legen die Spieltexte auch recht deutlich offen, dass eine Ehefrau eben vor allem als Heilerin auf der einen und als Mutter eines Sohnes auf der anderen Seite gedacht ist. Der Text hat sich seit dem auf dem Screenshot abgebildeten leicht geändert, die Mechanik als solche bleibt aber dieselbe, genauso wie die Tatsache, dass sie so wenigstens übergangsweise veröffentlicht wurde. Denn Early Access hin oder her: Spielmechaniken sind nicht einfach bedeutungslos. Was erzählt es über das Frauenbild von Medieval Dynasty, wenn die Ehefrau des Spieler*innen-Avatars konzeptuell nicht viel mehr als ein Erbenautomat ist? Und was erzählt es über das Mittelalterbild des Spiels? Nicht viel Gutes.
Das Problem an dem Konzept einer Ehefrau als Erbenautomat, in den man(n) Essen und ein Zuhause einfüllt und dann ein Kind (bzw. genauer gesagt einen Sohn) herausbekommt, ist vor allem, dass es seine Geschlechterrollen in einem mittelalterlich inspirierten Setting wieder einmal sehr restriktiv denkt. Mütter werden in den Bereich des Häuslichen verbannt und spielmechanisch wie in ihrem Verhalten als NPCs komplett passiv dargestellt, indem sie den ganzen Tag ihr Baby im Arm halten und sonst nichts tun, während Männern Aktivität und Handlungsspielräume zugewiesen werden.
Nun ist Medieval Dynasty nicht das Maß aller Dinge und letztlich ist das Spiel wie gesagt ein verhältnismäßig unspektakuläres Beispiel, allerdings reiht es sich unkritisch in eine Form von Realismuskonzeption ein, die als Einzelfall höchstens ungewollt witzig ist, aber im Kontext des Mediums Teil eines größeren Phänomens von im Kern zutiefst reaktionären Mittelalterbildern wird. Allgemein gesprochen: Der “Realismus” eines guten Teils dessen, was unter dem Label der Mittelalter-Spiele erscheint, ist in der Krise. Oder eigentlich nicht in der Krise, denn er funktioniert genau so, wie er soll, legt damit allerdings auch noch immer sehr viel darüber offen, wer im Zentrum dieser Mittelalterentwürfe steht und wer nicht. Das Mittelalter dieses Realismus ist männlich, cis, heterosexuell, weiß und christlich. Diese Feststellung an sich ist erst einmal unspektakulär, bleibt allerdings wichtig, um diesen Umstand als solchen überhaupt einmal sichtbar zu machen.
Das “Mittelalter” ist popkulturell und gerade in digitalen Spielen im Allgemeinen so beliebt, dass seine Rezeption längst genauso von der Epoche selbst als Vorlage als auch seinen Interpretationen in phantastischen und nicht-phantastischen Genres getragen wird. Das macht es einerseits müßig, zwischen Fantasy und scheinbar rein historischen Genres zu unterscheiden, weil die Grenzen ohnehin fließend sind. Es muss aber in Konsequenz auch bedeuten, dass es allgemein einen deutlich kritischeren Blick auf “Mittelalter” in all seinen popkulturellen Ausfertigungen braucht, gerade in digitalen Spielen. Es ist schlicht nicht harmlos, wenn in Game of Thrones sehr viele Frauenfiguren sehr schnell sowohl vergewaltigt als auch ermordet wurden, genauso wenig wie es harmlos ist, wenn Assassin’s Creed: Valhalla mit vagen Bildern von brutalen, plündernden Wikingern aufwartet, das gleichzeitig als cooles Abenteurertum romantisiert und weite Teile von dem, was mit dieser Gewalt einhergeht, bewusst ausblendet. Ebenso ist es nicht harmlos, wenn Medieval Dynasty seine Ehefrauen zu Gebärmaschinen reduziert.
Tatsächlich müsste das Mittelalter als popkulturelle Kulisse aktiv divers gedacht werden. Und damit meine ich nicht, dass es keine Diskriminierung oder restriktive Strukturen in mittelalterlich inspirierten Spielen mehr geben soll oder darf, sondern dass die Autor*innen dieser Settings die bloße Existenz z.B. von Frauen als vielschichtige Menschen mit eigener Agenda darin anerkennen müssen. Das klingt banal und ist es auch, aber wir sind noch lange nicht an dem Punkt an dem diese Banalität in der allgemeinen Diskussion wirklich angekommen sind.
Der Wolf mit Wollmütze: Ancestors Legacy
All das, was ich bisher geschrieben habe, bedeutet nicht, dass es ein Spiel wie Asassin’s Creed: Valhalla nicht geben darf oder es gar boykottiert gehört, doch es lässt auch tief blicken, dass die einzigen kritischen Einordnungen des Mittelalter- und Wikingerbildes des Spiels aus wissenschaftlicher Richtung zu kommen scheinen. Denn während Assassin’s Creed: Valhalla nur scheinbar unreflektiert mit ein paar Bildern spielt, nutzen andere Spiele wie z.B. Ancestors Legacy dieselben Bilder ganz bewusst und sehr deutlich. So sind z.B. die verschiedenen Fraktionen in diesem Spiel keine Fraktionen, es wird nicht einmal mit einzelnen Herrscher*innen und ihren Anhänger*innen oder Herrschaftsgebieten wie Königreichen o.ä. gearbeitet. Die zentrale Einheit, in der Ancestors Legacy seine Fraktionen einteilt, ist eine andere, nämlich die der “Nation”. Ein Detail, aber eines, das sofort hellhörig werden lassen sollte. Zunächst einmal sind “Nationen” als Kategorie ganz allgemein nichts, von dem es üblich wäre, sie aufs Mittelalter anzuwenden. Das Konzept kommt in der Form, wie wir es heute meist verstehen, erst deutlich später auf. Sowohl herrschaftlich als auch identitär passt es auch aus der Retrospektive nicht auf mittelalterliche Realitäten. Selbst das mittelalterliche Heilige Römische Reich wurde nicht vom Gedanken einer Nation zusammengehalten, das hätte es auch gar nicht gekonnt. (Oder gemusst.) Herrschaftsgebiete waren oft deutlich kleinteiliger, ihre Grenzen von Zufällen wie Erbfällen und Teilungen abhängig und je nach besitz- und lehensrechtlicher Lage kompliziert. Die Einheitlichkeit, die eine Nation impliziert, gab es schlicht nicht. Weder politisch noch kulturell, sprachlich oder religiös. Die nachträgliche Projektion einer solchen Einheitlichkeit zugunsten von Gründungsmythen von Nationen dagegen haben eine lange Tradition in völkischen und rechtsradikalen Kreisen.
Dazu passt übrigens auch, dass Ancestors Legacy nicht nur vom Studio hinter IS Defense und Hatred entwickelt wurde – ein Umstand, der im deutschsprachigen Raum in der Besprechung des Spiels nur sehr selten kritisch beleuchtet wurde. Zur Erinnerung: Die Leute, die vorher einen Amoklaufsimulator und eine spielgewordene, rassistische Mordfantasie von der Verteidigung von Europa gegen einfallende Muslime entwickelt haben, wagten sich damit ans Mittelalter. Buchstäblich mit einer Elhaz-Rune (“Lebensrune”) im Logo. Und niemand hielt es für nötig, das einzuordnen?
Aber gut, tun wir mal so als könnte man das übersehen. Und als ob die Tatsache, dass Destructive Creations und Warhorse Studios, die Kingdom Come: Deliverance entwickelt haben, sich als “Brothers in Arms” bezeichnet haben, und vage Akkuratesse-Beteuerungen des Studios ebenfalls nichts zu bedeuten hätten. Oder dass Ancestors Legacy 2018 und damit im selben Jahr wie Kingdom Come: Deliverance erschienen ist, das eine große Diskussion provoziert hat, nach der eigentlich mehr Leute bei Ancestors Legacy hätten hellhörig werden können und müssen. Ancestors Legacy startet noch immer mit einer Wikinger-Kampagne, die fast vollständig aus vagem Knurren von hypermaskulinen Männern und Aggression in einer dunklen Kulisse besteht. Ab der ersten Minute zeichnet das Spiel ein auffällig “wildes”, aggressives und ganz klar von plündernden und nicht durchs Christentum eingeengten Heiden geprägtes Bild, das es auch nie abstreift. Bärtige Männer grölen mit tief angesetzt Stimme etwas von “brothers”, “Valhalla” und “Odin”. Ein reaktionäres Wikingerbild wie aus dem Bilderbuch, das auch im weiteren Verlauf nicht besser wird. Aus dem Deutschen Orden wird da z.B. plötzlich in einer anderen Kampagne schon im 13. Jahrhundert ein “Staat”, der mit einer Intention der Kolonisation und Staatsgründung nach Osteuropa expandiert. Der Protagonist dieser Kampagne wird übrigens gezwungen, zum Christentum zu konvertieren, wobei explizit von Katholizismus die Rede ist, ganz egal, dass in vorreformatorischen Zeiten diese Unterscheidung hier aus dem historischen Kontext heraus (zumindest in Bezug auf den in dieser Zeit rein katholischen Deutschen Orden) keinen Sinn ergibt, sondern stattdessen zur polnischen Unterdrückungserzählung in einem mittelalterlichen Kleid beiträgt.
Nennt das Kind beim Namen
Diese Liste ließe sich noch ein gutes Stück erweitern, aber es ist für diesen Text im Kern auch müßig, ein drei Jahre altes Spiel jetzt noch im Detail zu zerpflücken. Ancestors Legacy ist ein offensichtliches U-Boot eines rechten Studios, die damit einen scheinbar unproblematischen Mittelalterentwurf voller reaktionärer Motive aufmachen, der gerade harmlos genug wirkt, um sich selbst von den “Skandalen” von Hatred und IS Defense rein zu waschen, aber gleichzeitig noch immer dieselben Geister rufen kann. Diese Strategie ist typisch und ein sehr großes Problem bei der Bewertung von sehr viel Mittelalterrezeption in Popkultur im öffentlichen Raum. Ein Symbol oder ein Motiv kann, wie z.B. bei Medieval Dynasty mit den Geschlechterrollen, keinen aktiven bösen Willen dahinter verbergen, genauso kann aber auch die scheinbare Uneindeutigkeit Strategie sein.
Der Punkt, auf den ich allerdings eigentlich hinaus möchte, bringt uns zurück zu God of War und den Protesten über einen dicken Thor und eine Schwarze Angrboda im Spiel. Diesen Protesten, genauso wie Ancestors Legacy und Kingdom Come: Deliverance, liegen reaktionäre Mittelalterbilder zugrunde, deren Popularität es überhaupt ermöglicht, dass sie als unkritisch aufgenommen werden können. Historische Authentizität als Bauchgefühl von Vergangenheit lebt auch davon, was z.B. im Medium Spiel an Mittelalterentwürfen unkritisch besprochen wird. Genau deshalb müssten diese und ähnliche Spiele, aber auch Kontroversen wie die um God of War viel klarer benannt werden als das, was sie sind. Es geht nicht um “mythologische Korrektheit” oder “Realismus”, sondern um Projektionen, die sehr einfach nachzuvollziehen sind. Dabei läge es eigentlich in der Verantwortung einer zeitgemäßen Spielepresse, genau so etwas sinnvoll einzuordnen. Und nicht erst, wenn insbesondere Wissenschaftler*innen aus den Historical Game Studies, wie etwa 2018 bei Kingdom Come: Deliverance, lautstark Alarm schlagen, weil ihnen sonst niemand zuhört.
Die entscheidende Frage, die dem auch zugrunde liegt, ist – wie immer – wessen Geschichte(n) Spiele eigentlich erzählen. Wem wird in den Mittelalterentwürfen in Spielen genauso wie in der Besprechung dieser Spiele Raum zugestanden und wem nicht? Wessen Existenz wird regelmäßig als “unrealistisch” weggeredet und für welche U-Boote dient das dann wiederum als Tarnung und Legitimation für ihre eigenen Thesen und Geschichtskonstruktionen? Das sind anspruchsvolle Themen, ich weiß, aber sie sind auch wichtig. Und bei aller Liebe: Weder im Jahr 2018 noch im Jahr 2021 war und ist es schwer, diese Dinge zu recherchieren und gemeinsam mit Expert*innen (und v.a. auch nicht immer denselben) sauber zu kontextualisieren. Nicht nur von den ewig gleichen Freelancer*innen, die sich ganz offensichtlich seit Jahren darum bemühen, aber natürlich auch nur begrenzt etwas bewegen können, sondern auch von den Redaktionen selbst. Und nicht nur wenn es um NS und Kolonialismus geht, auch wenn beides sehr wichtig ist, sondern auch für andere Epochen. Sonst brauchen wir uns alle nicht über die Geister wundern, die Spiele wie God of War: Ragnarök gewollt oder nicht weiter rufen.
Hi Aurelia, gewohnt souveräne Abhandlung zu diesem ermüdenden Thema, danke.
Hi Aurelia, gewohnt souveräne Abhandlung zu diesem ermüdenden Thema, danke.
“Der Mann hat sich selbst als “Schamane” bezeichnet und scheint mit seinem Outfit eine Mischung aus Wikingermythos und kulturelle Aneignung indigener Religionen betrieben zu haben, doch das Wikinger-Element war auch hier präsent.”
Das dieses Aufgreifen von vermeintlichen früheren Kleidungsstylen meist sowieso extrem quatschig sind, geschenkt (die Hornhelme, pahahaha). Aber was ist daran denn jetzt kulturelle Aneignung indigener Elemente? Oder sind Wikinger/Nordgermanen hier als indigen gemeint, so ganz falsch wäre das ja nicht, der Begriff indigen ist ja sowieso ziemlich unbrauchbar.
Das nur aus Interesse, freue mich über eine Antwort.
Hi, danke für deinen Kommentar! Nein, der Verweis auf die kulturelle Aneignung kommt tatsächlich u.a. von der Bezeichnung als “Schamane” und dem Fellhelm. (Hier wird das z.B. auf Twitter diskutiert: https://twitter.com/queertyyr/status/1347204910522241028) Er hatte außerdem Runen-/Wikinger-Tattoos (und der Bison-Fellhelm hat durch die Hörner bei vielen Leuten auch die Wikinger-Konnotation hervorgerufen, obwohl der eigentlich eigentlich keine Wikinger-Anleihe war). Ich möchte explizit “Wikinger” u.ä. *nicht* als indigene Gruppen bezeichnen, besonders nicht in diesem Kontext. Der Begriff hat eine dezidiert koloniale Dimension in dem Sinne, dass er Gruppen meint, denen im Zuge von Kolonialismus viel Gewalt von weißen Europäer*innen angetan wurde, und passt damit nicht auf Leute wie “Wikinger”/Normannen (und genauso wenig auf “Germanen”), zumal letztere meistens große, spätantike oder frühmittelalterliche Bevölkerungsgruppen meinen, die einfach irgendwo gelebt haben und die es sowieso nicht mehr gibt.