Was passiert, wenn eine Linguistin an einem Schachbrett sitzt?
Ein Gastbeitrag von Martina Gerdts, die bereits Was können wir vom Gaming lernen? Wie Online-Veranstaltungen einfacher erträglich werden bei uns veröffentlicht hat.
Vor einiger Zeit hatte ich mit dem Herausgeber von Language At Play eine E-Mailkonversation darüber, dass es sicherlich spannend wäre, über Schach und Linguistik zu schreiben. Schach ist berühmt dafür, ein Strategiespiel zu sein, logisches Denken ist wichtig. Das sollte für eine Person, die wissenschaftlich arbeiten möchte, eine gute Übung sein, nicht wahr?
Schach und Sprachen?
In meiner Jugend habe ich einige Jahre Schach gespielt. Die Zeit bei Schachturnieren habe ich manchmal auch zum Üben von Sprachen, die ich gerade lernte, genutzt. Darüber habe ich bereits einen Artikel geschrieben. Für mein Studium habe ich das Schachspielen fast komplett aufs Eis gelegt. Die Idee, dass Schach und Linguistik gut harmonieren sollten und man theoretisch vom Einen Dinge fürs Andere lernen konnte, ließ mich aber nicht los.
Der Selbstversuch
Wie der Titel dieses Artikels bereits nahelegt, habe ich mich in die Höhle des Löwen getraut und mich wieder an ein Schachbrett gesetzt. Etwas Hintergrundwissen: Im Vereinsschach werden häufig Langzeitpartien gespielt. Hierbei haben die Spieler*innen jeweils zwischen 90 und 120min Zeit für 40 Züge und je nach Abmachung kommen danach noch ungefähr 30 bis 60min dazu, manchmal gibt es auch noch pro Zug zusätzlich eine halbe Minute dazu. So ein Spiel kann also einige Stunden dauern, trotzdem ist man nicht frei von Zeitdruck während eines Spiels. Nun habe ich mich also für ein solches Spiel angemeldet und auch teilgenommen, zuvor hatte ich zur Übung schon an einem Turnier mit wesentlich kürzerer Spielzeit teilgenommen, so dass ich nicht komplett ohne Vorbereitung am Brett saß.
Die Beobachtungen beim Spielen
Eine wichtige Fähigkeit beim Schachspielen ist es, die nächsten Züge vor dem inneren Auge durchgehen zu können, um zu testen, welcher Zug der beste nächste wäre und wie man nach dem kommenden Zug des Gegenübers vorgeht. Die Spieler*innen, die mehr mögliche Züge berechnen können und dabei entscheiden können, welches Szenario das günstigste für einen ist, haben in der Regel den Vorteil in einer Partie.
Was auch wichtig ist: Man muss die ganze Zeit voll bei der Sache sein. Einmal einen falschen Zug gemacht, einmal nicht aufmerksam auf alle möglichen Züge geachtet, und man kann das komplette Spiel an die Wand gefahren haben, auch wenn man davor und danach jeden Zug großartig berechnet, bewertet und durchgeführt hat.
Letztendlich hängt es aber auch vom Gegenüber ab, wie tiefgreifend ein Fehler ist. Wenn mein*e Gegner*in Züge übersieht oder selbst Fehler macht, kann es sein, dass ich am Ende trotzdem fein aus der Partie rauskomme. Es geht nicht darum, ob ich die beste Leistung meines Lebens spiele, sondern darum, einigermaßen konstante Leistung zu bringen und qualitativ und quantitativ weniger Fehler als die Person, gegen die ich spiele, zu machen.
Woran erinnert das Schachspiel bei der linguistischen Arbeit?
Nun geht es um die Parallelen und auch um ein paar Unterschiede zwischen Schach und Linguistik, auf die ich während des Spiels aufmerksam wurde. Züge im Gedanken durchgehen, sich die Positionen vorstellen, die Szenarien bewerten und dann entscheiden, welchen Zug man durchführen möchte, das erinnert sehr an das taktische Vorgehen beim Aufbau von wissenschaftlichen Arbeiten. Wenn ich linguistische Forschung durchführe, muss ich mir Argumente zurechtlegen, Szenarien, z.B. Grammatikstrukturen, überlegen und darüber nachdenken, was mit diesen passiert, wenn sich bestimmte Faktoren verändern. Ich kann mit Datenmaterial aus Korpora oder durch Befragungen auch testen, wie sich die Grammatikstrukturen tatsächlich verändern. Dies wäre das Äquivalent zur Partiebesprechung oder zum Training, wo wir Züge zurücknehmen können und verschiedene Szenarien einfach aufs Brett stellen und gucken, was passiert, oder, wenn wir in dem Spiel selbst einen Zug durchführen und checken, wie darauf reagiert wird. Dort können wir keinen Zug zurücknehmen, aber beim nächsten Mal mit einer ähnlichen Stellung auf dem Brett können wir dennoch davon lernen. Das taktische Vorgehen ähnelt sich also tatsächlich.
Als eine Linguistin, die sich am liebsten mit dem Erklären von grammatischen Strukturen beschäftigt, ist mir aber auch ein Faktor aufgefallen, wo das Schachspiel vielleicht sogar ähnlicher zu anderen linguistischen Bereichen ist als derjenige, der mir am angenehmsten ist. In der praktischen Arbeit spielt es tatsächlich eine Rolle, dass Zeit nur in eine Richtung läuft. Für das Erklären von Strukturen ist Zeit komplett irrelevant, außer, dass Abgabetermine ständig vor der Haustür stehen. Für praktische Versuche ist es aber relevant, bestimmte Abläufe und Reihenfolgen zu planen und dann auch so durchzuführen. Bei Befragungen kann ich nicht dafür sorgen, dass die Teilnehmenden plötzlich einen Satz vergessen, den ich aus Versehen gesagt habe. Genauso kann ich Fehler in der Durchführung nicht ungeschehen machen. Wenn etwas schiefgeht, kann es sein, dass ich einfach nochmal komplett neu anfangen muss, auch wenn der Plan in der Theorie perfekt aussah. Dies erinnert sehr daran, wie beim Schach konstante Aufmerksamkeit benötigt wird, damit Pläne, die man per se ja für theoretische und praktische Arbeit überall braucht, in der Praxis denn aber auch ordentlich umgesetzt werden.
Gucken wir uns nun ein anderes Szenario an: Die Analyse von gegebenen Satzstrukturen. Wenn dort ein Fehler passiert, habe ich den Satz nicht verloren, so wie ich die Probanden oder das Spiel vielleicht verloren hätte. Natürlich kann es passieren, dass mir irgendwann auffällt, dass meine Hypothese vorne und hinten nicht passt, aber alles, was ich an Wissen zum Thema zusammengetragen habe, kann mir trotzdem helfen, das Problem zu lösen. Bei der Analogie zum Schachspiel erinnert mich dies an das langfristige Vorgehen. Ich trainiere und übe gewisse Figurenstellungen, damit ich mir Wissen aneignen kann, das ich für alle zukünftigen Spiele mit ähnlichen Stellungen verwenden kann. Das Wissen verschwindet ja mit einer verlorenen Partie nicht. Letztendlich sind die grammatischen Strukturen wie Stellungen von Figuren beim Schach. Ich kann bei theoretischen Überlegungen den Aufbau verändern und in der Praxis dann testen, ob diese Struktur oder Stellung so Sinn ergibt.
Das Fazit
Die Frage war, was passiert, wenn eine Linguistin vor einem Schachbrett sitzt. Ich habe dafür keine riesigen Massen an Linguistinnen vor Schachbretter gesetzt, es war mehr eine Art Case Study mit mir selbst. In meinen Beobachtungen bin ich darauf eingegangen, was für Gemeinsamkeiten und Unterschiede mir aufgefallen sind und wo ich Möglichkeiten für Synergien vermute. Eine direktere Antwort auf die Frage, was passiert, oder wegen der Fallstudie eher „was passieren kann“, ist letztendlich aber ein ausgestreckter Zeigefinger auf diesen Artikel. Wenn man eine Linguistin vor ein Schachbrett setzt, kann es passieren, dass sie Stellungen im Schach mit Stellungen von grammatischen Elementen miteinander vergleicht und dann einen ganzen Artikel über Schach und Linguistik schreibt.
Über die Autorin:
Martina Gerdts ist Masterstudentin in Romanistischer Linguistik mit einem Bachelor of Arts in Portugiesisch und dem Nebenfach Spanisch. In der Linguistik verfolgen sie Adjektive und Adverbien, während sie in ihrer Freizeit fröhlich vor sich hin tweetet. Als selbsternannte Gamerin im Ruhestand ist sie nach einer langen MMO-Zeit aktuell nur noch ab und zu beim Handy- und Browserspiel „Forge of Empires“ zu finden. Mehr Infos über sie findet ihr über ihre Homepage.