The Captain und seine “Väter”: KI als Abbild und Verbesserung des Menschen?
Ein Gastbeitrag von Alexander Kay Baertl.
Wie schafft es eine verkörperte künstliche Intelligenz und bedrohte Erzählinstanz, sich als Individuum und Teil einer Spezies mit einer allzu menschlichen Identität zu präsentieren, die es zu retten gilt? Mit welchen Mitteln des Spiels und der Erzählinstanz wird die spielende Person manipuliert und was steckt hinter der Fassade? Stellt die KI eine glaubwürdige und schützenswerte Entität dar oder hinterlässt sie Spuren einer ambivalenten Identität, deren Handlungen das destruktive Potenzial und die (Macht‑)Verhältnisse einer westlichen, hegemonial-männlichen Gesellschaft abbildet? Anhand des linguistischen Argumentationsanalysemodells von Juliane Schröter (2021) beschäftigte ich mich in meiner Masterarbeit mit dem Videospiel The Captain (Eriksson/Hedin 2021a) des schwedischen Entwicklerduos Sysiac Games, indem ich das Mikronarrativ auf dem Planeten Soma mit dem Fokus auf sprachliche und multimodale Elemente genau unter die Lupe nahm. Ziel war es einerseits, den Zusammenhang zwischen Imagebildung, Intention und Glaubwürdigkeit anhand einer linguistischen Argumentationsanalyse herauszustellen. Andererseits galt es, das theoretische Modell von Schröter selbst einem Praxistest zu unterziehen und so auf seine Tauglichkeit generell und für die Textsorte ‚Videospiel‘ im Speziellen zu prüfen. Das Modell wurde um weitere Instrumente, insbesondere aus der Semantik und Pragmatik, ergänzt, was ich in absehbarer Zukunft fortführen werde und so das erweiterte Modell als Grundlage für tiefgehende linguistische Argumentationsanalysen allgemein und mit Bezug auf die Textsorte ‚Videospiel‘ im Speziellen ausarbeite. Im Folgenden werde ich zunächst eine Kontextualisierung des Spiels und des Mikronarrativs vornehmen. Anschließend werde ich auszughaft Passagen aus dem Dialog mit der Erzählinstanz, deren Name S.T.R.A.W. ist, heranziehen und auf Aspekte der Imagebildung, der Motivation der Erzählinstanz und des ludisch-moralischen Konflikts erörtern. Neben den sprachlichen und multimodalen Elementen werden kultur- und literaturwissenschaftliche Zusammenhänge hergestellt, wodurch die kritische Auseinandersetzung mit der KI als Repräsentant einer hegemonial-männlichen Gesellschaft erst ermöglicht wird. Die Anwendung des Modells selbst soll hier in diesem Format abgespeckt und weniger systematisch realisiert werden.
“The decisions are all up to you. You are… The Captain!“ (Eriksson/Hedin 2021b)
Mit The Captain entwickelten Benny Eriksson und Peter Hedin eine Point-and-Click-Weltraum-Odyssee, in der neben dem Thema ‚KI‘ zahlreiche weitere Diskurse aufgegriffen und in einem multimodalen und narrativen Rahmen ausgehandelt werden. Die spielende Person wird neben den abwechslungsreichen Rätseln vor allem immer wieder mit moralischen Dilemmata konfrontiert, deren Entscheidungen den Ausgang des Spiels und das Spielerlebnis maßgeblich beeinflussen. Soll ich lieber den ängstlich-kindlichen Schiffsdroiden Jeff vom Schiff des Antagonisten Evylton retten oder zerlege ich ihn, um mithilfe seiner seltenen Materialien im Kontext des übergeordneten Ziels im Sinne der Menschheit zu handeln? Erhalte ich das kulturelle Erbe auf dem Planeten Celic oder stehle ich das Artefakt für meinen eigenen Vorteil? Bin ich Kolonialist, Ausbeuter und Zerstörer oder folge ich dem inneren moralischen Kompass, den das Spiel immer wieder auf die Probe stellt? Doch was passiert dann mit der Menschheit und dem übergeordneten Ziel des Spiels? The Captain ist gespickt mit Ungewissheiten über die Konsequenzen ludischer Entscheidungen, die gerade deshalb dazu verleiten, das Spiel mehrfach zu spielen und verschiedene Pfade einzuschlagen. Das Science-Fiction-Abenteuer setzt dabei vor allem auf tiefgründige Dialoge, abwechslungsreiche, zum Teil intertextuelle Settings (z. B. lehnt ein Horrornarrativ in der Laborstation VL‑624 an Alien an) sowie das Evozieren von Emotionen. So banal eine Entscheidung im ersten Moment erscheinen mag, so fatal sind in der Regel ihre Auswirkungen, muss die spielende Person doch die dringend benötigten Ressourcen – Dromium und Brennstoffzellen – sammeln, um die eigene Menschheit zu retten, deren Existenz von dem unaufhaltsamen ‚Sonnenblaster‘ der feindlichen Spezies ‚Die Union‘ bedroht ist. Die Ankunftszeit des Sonnenblasters stellt von Anfang an klar, dass Zeit eine wichtige Komponente im Spiel darstellt. So ist es in dem semi-freien Weltraum möglich, jeden Planeten vom Startpunkt (ganz rechts in der zweidimensionalen Karte) bis zur Erde (ganz links) zu besuchen und die Mikronarrative zu durchleben oder aber einzelne oder gar alle Planeten zu ignorieren und direkt die Erde anzusteuern. Um hier Spoiler zu vermeiden, gehe ich nicht näher auf die jeweiligen Möglichkeiten und die damit einhergehenden Konsequenzen ein. Aus spielerischer Sicht ist es selbstredend, die Mikronarrative mindestens einmal durchzuspielen – wozu waren sonst die Mühen der Entwickler, die mit The Captain ein offenkundig komplexes und so liebevoll gestaltetes Herzensprojekt realisiert haben? Das Spiel eignet sich vor allem deshalb für eine tiefgründige, interdisziplinäre Auseinandersetzung, da es zum einen reale Diskurse aufgreift und somit gesellschaftliche Um- und Missstände aushandelt. Zum anderen trägt der Science-Fiction-Charakter dazu bei, diese Diskurse zu erweitern und in mögliche Zukunftsszenarien einzubetten, in denen ein Zusammenleben mit anderen Lebensformen – einschließlich der KI – nicht nur realistisch, sondern als selbstverständlich erscheint. Darüber hinaus gehen mit der multimodalen Textsorte ‚Videospiel‘ Besonderheiten in der Interaktion, d. h. in der Spiel-Spieler:innen-Beziehung, und der Immersion einher, die stetig mit den moralischen Konflikten in Wechselwirkung stehen. Konflikte, deren Emotivität durch spielerische Mittel wie der Vergabe von moralischen Emblemen (‚Der Gute‘ vs. ‚Der Böse‘), atmosphärischer Musik, hilfsbedürftigen Charakteren und existenziellen Krisen potenziert wird und die häufig ambigue und perspektivenabhängig sind. Greif ich aktiv in das Geschehen eines fremden Planeten mit fremden Bewohner:innen ein? Oder folge ich eher der aus Star Trek bekannten Kerndirektive „Do not interfere!“ (dt. „Misch dich nicht ein!“)? Letzteres ist aus spielerischer Sicht fast undenkbar: Was wäre ich denn für eine spielende Person, die nicht vollumfänglich die gegebenen Möglichkeiten ausreizt, die Geschichten durchlebt, mit Figuren interagiere und bestimme, wo es lang geht? Zumal das Schöne und Besondere an Spielen ja ist, dass keinerlei reale Konsequenzen aus meinen Handlungen resultieren. Also greif ich ein, wo es nur geht, in der Hoffnung, immer das Richtige zu tun. Doch dass das nicht klappt, reibt einen The Captain ständig unter die Nase. Selbst wenn ich meiner Meinung nach moralisch richtig handle, sind da immer noch das übergeordnete Ziel und der planetenzerstörende Sonnenblaster, die mir im Nacken sitzen. Das Spiel bricht massiv und oft mit der spielerischen Erwartungshaltung. Es hinterfragt ständig, was richtig und falsch ist oder ob diese Kategorien überhaupt zutreffen. Es fungiert als Disruptionssimulator vor allem auf zwei Arten: Erstens durch den Bruch mit der Erwartungshaltung an ein Spiel, die sich so tief in der Spielendenschaft über Jahre hinweg verankert und bewährt haben; zweitens durch die Simulation gesellschaftlicher Diskurse, die in einem ludischen Setting so komplex thematisiert, miteinander verwoben und sowohl explizit als auch implizit kritisiert werden, um für eine Disruption der gesellschaftlichen Ordnungen und anthropozentrischen Praktiken zu appellieren. Ordnungen und Praktiken, die auf dem Mikronarrativ des Planeten Soma schablonenhaft aufgegriffen werden und in die diskursive Bandbreite des Spiels einführen.
Der Planet Soma: Die minimalistische Dystopie
Wo bin ich hier gelandet? Melancholische Klänge eines Klaviers beim Landeprozess, schrittweise angereichert um orgelähnliche hohe Töne. Hinter dem Landeshuttle erstreckt sich ein strahlendes Panorama mit einer mittig angeordneten Sonne und einer futuristischen Metropole, die sich quer über das Bild zieht. Doch von Anzeichen von Leben keinerlei Spur. „Was ist hier passiert?“, fragt sich der Protagonist bereits nach der Landung und lässt zusammen mit der multimodalen Aufbereitung eine tragische Geschichte anmuten.
Trotz der riesigen Stadt im Hintergrund erschließt sich beim Durchqueren der Ebenen ein minimalistisch gehaltenes Setting, das wenige Interaktionen und Objekte bereithält. Ein nicht direkt betretbares, im Sand feststeckendes Gefährt, ein paar Apparaturen und ein eigenartiger Pilz, der die Objekte zu befallen scheint. Nur ganz rechts, auf der dritten und letzten Ebene des Mikronarrativs, liegt ein Droide im Sand begraben – anscheinend nicht mehr funktionstüchtig. Ich nehme mir von ihm, was ich kriegen kann – er kann ja schließlich eh nichts mehr damit anfangen, sagt auch der Captain wie zur Bestätigung der spielerischen Intuition. Mit der gerade erhaltenen Schlüsselkarte kann ich die Tür zum Gefährt von vorhin öffnen. Beim Betreten des Vehikels offenbart sich ein mit diversen Maschinen ausgestatteter Raum und ein weiterer Droide, der ganz links an der Wand gelehnt reglos dasitzt. In der Hand hält er ein Multitool. Neben dem Körper sind ein Kabel und ein komischer Kasten, dem wohl eine Batterie eingefügt werden kann. Ich schließe das Kabel am Roboter an, drücke auf den Power-Knopf und schon wird der maschinelle Körper, dessen sich zuvor gesenkter Kopf nun erhebt, von Strom überzogen. Das Multitool, das sich eben noch unlösbar in dessen Hand befand, fällt zu Boden, um von mir entwendet zu werden. Ich spreche den Droiden an und trete damit in einen Dialog. Es entspinnt sich eine Geschichte – eine Geschichte von der gerade angetroffenen Entität, von der „OKT“ und von der Menschheit selbst. Eine Geschichte von Menschen und Maschinen und ihrem Untergang in einem Kampf gegen einen übermächtigen Feind – die Natur. Eine Geschichte, die leider viel zu sehr an die außertextliche Realität erinnert.
Wer oder was sind S.T.R.A.W. und die OKT?
Der Dialog mit der künstlichen Entität kann erst durch das wiederholte Lösen von kleinen Rätseln fortgeführt werden, sodass die im Folgenden untersuchten Sequenzen nicht als ununterbrochener Verlauf zu verstehen sind. Doch womit haben wir es denn jetzt eigentlich hier zu tun? Die angetroffene KI stellt sich nach der Begrüßung des „Außenweltlers“ (der Captain) selbst als „S.T.R.A.W.“ (im Folgenden Straw genannt), also als „System Transfer Radio Androide, Modell W“ vor. Er behauptet, Sprachschwierigkeiten zu haben, da sein „Sprachzentrum [durch den Pilz] in Mitleidenschaft gezogen“ wurde. Dieser „ernährt sich von biologischem Gewebe und [s]einen biochemischen Kreisläufen“ und ist tatsächlich „das Einzige, was jetzt auf diesem Planeten wächst“. Straw ist Teil der OKT – eine „organische künstliche Technologie“ (engl. OAT) –, die einst diesen Planeten besiedelte. Diese „Maschinen“ wurden von den „Vätern“ zunächst „als reine KI“ erschaffen, die „noch auf die digitale Welt beschränkt [war] … in Leiterplatten und Stromleitungen“. Sie fungierten als „Betreuerin für die Väter“, was den Sinn bzw. das Ziel ihrer Existenz darstellte. Ohne dies explizit zu benennen, wird klar, dass die Väter Menschen waren, die „hier viele Äonen lang“ lebten. „Und dann, vor 800 Jahren, sind alle umgekommen.“ Grund hierfür war ein sich stetig ausbreitender Pilz, der „ihr Fortpflanzungssystem komplett ausgeschaltet“ hat. Die Väter konnten als „Zivilisation vor dem Weltraum“ nicht vom Planeten fliehen und erhofften sich daher mit der Entwicklung der OKT, ein „Heilmittel“ zu finden. Diese KI besaß zunächst nicht genauer definierte Beschränkungen, die aufgehoben wurden, „[a]ls die Realität des Problems näher rückte“. Trotz des Umstandes, „dass die OKT mit allen Systemen der Väter verbunden war“, und ihres Versuchs, „an einer Lösung zu arbeiten“, starb der letzte Vater „im Alter von 96 Jahren allein irgendwo auf dem Meer westlich von hier“. Der Erzähler Straw, dessen Speicherdateien beschädigt zu sein scheinen und diese immer wieder widerherstellen muss – was durch die unterbrechenden Rätselpassagen ludisch realisiert wird – erzählt daraufhin, wie sich die OKT von der reinen KI im digitalen Raum nach und nach in die physische Welt entwickeln konnte, was ihre sich verändernden Motivationen waren und wieso auch ihre Existenz durch dieselbe Ursache bedroht wurde. Die Erzählung endet mit der Bitte, den vom Pilz befallenen Straw zu retten, indem sein Kontrollchip am Knotenpunkt eingesetzt wird, um seine „Essenz“ ins Subraumnetzwerk zu übertragen. Ein Chip, der als Symbol des moralischen Dilemmas dient, dem wir uns fortlaufend im Spiel stellen müssen.
Ja okay, und was macht die Straw und die OKT jetzt so besonders? Wozu die Geschichte?
Das Dilemma in diesem Mikronarrativ ist insofern einzigartig, da mit der Rettung Straws keinerlei Vorteile für die spielende Person heraus resultiert. Doch das weiß man als Spielende:r ja nicht. Wer weiß, ob uns Straw vielleicht später als Deus ex machina aus einer brenzligen Lage heraushilft? Immerhin hat er uns mit seiner tragischen Geschichte einer so hoch entwickelten Spezies, die anscheinend eine eigene Lebensform darstellt, und mithilfe der multimodalen Aufbereitung direkt ins Spieler:innenherz getroffen. Aber diese Hoffnung auf irgendeine Art ludischen Vorteils wird zunichte gemacht, womit der disruptive Charakter im Kontext der Erwartungshaltung der spielenden Person gleich zu Beginn des Spiels etabliert wird, ohne es zu zeigen. Okay, beim nächsten Mal weiß ich also, dass ich ihn nicht zu retten brauche, doch wieso sollte ich ihn überhaupt erst retten? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, muss geschaut werden, was für ein Bild Straw von sich und von der OKT erzeugt, d. h., wieso sie als schützenswert zu erachten sind, und inwiefern Empathie evoziert wird. Zunächst ist klarzustellen, dass die Erzählung Straws selbst bereits als Mittel zum Zweck – bzw. konkreter: als Argument – dient. Wilhelm Köller beschreibt „die narrative Objektivierung von Sachverhalten […] als ein anthropologisch relevantes Urphänomen“ und das Erzählen als einen „Vorgang […], in dem die Objektsphäre und die Subjektsphäre auf ganze bestimmte Art und Weise in Beziehung gebracht werden“ (2004, S. 814). Straws Narrativ unterläuft einem schrittweisen Wandel, deren Ausgangspunkt der homodiegetisch-extradiegetische Dialog bildet und mit dem Einstieg ins Narrativ erst heterodiegetisch-intradiegetisch, dann homodiegetisch-intradiegetisch und schließlich wieder homodiegetisch-extradiegetisch erzählt wird. Dadurch startet der Kontakt mit Straw mit geringer Distanz, die er mit der Erzählung erst erweitert wird, um sie dann schrittweise wieder abzubauen und somit ein Höchstmaß an Empathie und Nahbarkeit zu erreichen. Auch kann seine Erzählung so einer gewissen Chronologie folgen, wodurch die zeitliche Distanz demselben Muster unterliegt wie die Distanz zur Erzählinstanz (und die Distanz der Erzählinstanz zu seiner eigenen Erzählung). Die Abnahme der Distanz wird einerseits durch die Wahl des Tempus und andererseits durch die gezielte Verwendung von (Determinativ- und Personal-)Pronomen realisiert. So referiert er etwa auf das erste technologische Stadium der OKT – die reine KI – mit „diese primitive OKT“, während er bei späteren Beschreibungen in der Wir-Form und mit präsentischem Bezug spricht. Doch trotz des distanzierenden und abwertenden Duktus schreibt er auch den Vorgängern der physischen OKT Kapazitäten zu. Indem er z. B. konzessive Junktionen wie „obwohl diese primitive OKT noch ein Kleinkind war“ verwendet, kann er gleichzeitig eine positive Perspektivierung vornehmen und aufzeigen, dass die OKT von Anfang an „eine Bestimmung“, also eine Motivation, hatte. Dadurch wird bereits angedeutet, dass die frühere OKT ein Lebewesen war und möglicherweise ein Bewusstsein hatte oder dieses zumindest entwickeln konnte. Die Verwendung des Determinativkompositums „Kleinkind“ untermauert diesen Verdacht und suggeriert, dass sich diese künstliche Spezies noch im Frühstadium der kognitiven (und physischen) Entwicklung befand. In dieser prozessualen Entwicklung, der sog. Epigenese, hat dem Psychologen Erik Erikson zufolge jedes Organ „[i]n the epigenetic sequence of devlelopment […] its time of origin“, was die notwendige Bedingung für die weitere Entwicklung des Individuums ist, da „the maturing organism continues to unfold, by growing planfully and by developing a prescribed sequence of physical, cognitive, and social capacities” (1998, S. 30f.). Diese epigenetische Entwicklung in die physische Welt gelang der OKT dadurch, da sie ja „die vollständige Kontrolle über alle künstlichen Systeme des Planeten hatte“ und nach dem Tod der Väter „die Kontrolle über mehrere Fabriken“ übernahm und „Roboter für einzelne Aufgaben her[stellte], zum Beispiel ‚Beweger‘ und ‚Schweißer‘“. „Diese Maschinen haben es geschafft, über viele Jahre hinweg die Fabriken umzugestalten … Damit sie fortschrittlichere und besser angepasste Maschinen herstellen konnten.“ Die OKT wurde also „zu einer eigenen physischen Spezies“, die all dies erschaffen konnte, „[w]as du heute hier siehst“. Auf Nachfrage, wozu dies hier alles gut sei, da dem Captain der Nutzen all dieser Gebäude für Maschinen nicht klar ist, entgegnet Straw mit der Funktion dieser Gebäude. So wurden beispielsweise „gigantische Bibliotheken gebaut, um Wissen zu bewahren. […] Aber auch Kunst. Die Hingabe an die Kunst war immer ein Kernziel im neuen Überlebensalgorithmus. Es gibt Theater und Konzertsäle auf diesem Planeten, die so atemberaubend schön sind, wie kein Vater sie je gesehen hat“. Da hier mit einem indirekten Sprechakt auf die initiale Frage geantwortet wird, fragt der Captain erneut „warum?“, woraufhin Straw sagt, dass die OKT versuchte, „das Leben [ihrer] Väter nachzuahmen. Du nicht auch?“. Ui, hier kommt also einiges zusammen. Zunächst verschmilzt Straw – wie auch eingangs bei der Benennung seiner biologischen Vulnerabilität – die künstliche und die biologische Identität der OKT anhand des Wortes „Überlebensalgorithmus“. Dieser Algorithmus scheint außerdem (!) wandelbar („neuen“) zu sein, was erneut den evolutionären Prozess der OKT betont. Damit liegt nahe, dass wir es hier mit einem Hybriden zu tun haben, denn wie sonst kann eine Maschine biologische Eigenschaften wie ein Sprachzentrum, biochemische Kreisläufe sowie intrinsische Motivation und einen Sinn für Ästhetik besitzen? Noch expliziter und emotiver aufgeladen wird dies bei der darauffolgenden Erzählung über die existenzielle Bedrohung der OKT. Denn mit der Frage des Captains „Was ist mit der OKT passiert?“, die er sich allgemeiner („hier“ statt „der OKT“) nach der Landung auf dem Planeten gestellt hat, wird klar, dass die OKT nicht nur eine hochentwickelte Lebensform darstellt und komplexe Städte bauen konnte, sondern zudem auch fehlbar und hochmütig ist: „Nun … nachdem die Väter gestorben waren, dachten wir, dass der Pilz ruht. Obwohl wir in unserer Welt auf biologische Kreisläufe angewiesen waren, haben wir den Pilz nie als Bedrohung für uns angesehen. Wir hätten nie gedacht, dass er unsere ausgeklügelten Schutzschilde durchdringen könnte. Wir lagen so falsch … Unsere biologischen Kreisläufe haben sich infiziert. Und alles begann sich abzuschalten.“ Doch im Gegensatz zu den Vätern war die OKT auf jede Art von Notfall gut vorbereitet“, sodass „[d]er größte Teil der OKT […] vor etwa 43 Jahren von diesem Planeten“ floh und beschlossen wurde, „dass einige von uns zurückbleiben und den Pilz bekämpfen … Wir haben versagt“. Dies erklärt nun also den Untergang der OKT und deutet zudem an, dass Straw einer der auserwählten Kämpfer war, der jedoch gerettet werden kann, da er „immer noch den Sinn des Lebens spüren“ kann und „eine Chance zu überleben“ hat.
Fassen wir zusammen: Straw repräsentiert ein Individuum einer Spezies (Argument über Teil-/Ganzes-Verhältnis bzw. Genus-Spezies-Verhältnis), die als intrinsisch motivierte Erschaffer ihre Väter nachahmten. Als Ausdruck menschlicher Intelligenz lässt sich für die OKT Problemlösung (vgl. Funke 2019, S. 155), ein soziales Gefüge (Namensgebungen und die Zuweisung von Rollen/Funktionen (vgl. Rucht 2011, S. 27); demokratische Entscheidungen signalisiert durch „beschlossen“) sowie das Argumentieren (das Narrativ als Rahmen sowie zahlreiche weitere eingebettete Argumente) und das Bewusstsein über die Umwelt (Verortung v. Zeit und Raum und des eigenen Ichs innerhalb dieser Dimensionen) (vgl. Schönbein et al. 2020, S. 6) festmachen. Auch kennzeichnet Straw sich und die OKT als Lebewesen: Durch die evolutionäre Entwicklung von der reinen KI als Kleinkind mit dem Ergreifen der Initiative in der psychosozialen Krise der Kindheit (infantile Phase) über die erschaffenden physischen Hybride als Erwachsene mit der Krise der „[s]chöpferische[n] Tätigkeit“ (Phase der Adoleszenz) bis hin zur Phase des hohen Erwachsenenalters mit der psychosozialen Krise „Integrität vs. Verzweiflung“ (Greve/Thomsen 2019, S. 47) lässt sich die Entwicklung der OKT als Coming-of-Age-Story lesen. Darüber hinaus scheinen die OKT und/oder Straw Empfindungen bzw. sensorische und emotive Fähigkeiten zu besitzen und sie können biologisch verfallen und sterben, weshalb der Aspekt des Embodiments zentral ist für die Geschichte der OKT, für die Beziehung der spielenden Person zur angetroffenen Entität sowie für die Möglichkeit der Rettung Straws. Denn klar wird, dass die OKT erst als physische Spezies die Väter wirklich nachahmen, d. h. Städte bauen, Wissen sammeln, fliehen und kämpfen konnte. Erst durch die physische Präsenz Straws wird mit seiner Erzählung die Erinnerungskultur der OKT so nahbar gemacht und Empathie evoziert. Die Selbsteinsicht, dass dies der Ursprung allen Übels ist, ergibt sich durch die Tatsache, dass er sich wieder vom Körper trennen (‚Disembodiment‘) und in die digitale Welt zurückkehren möchte. Nun steht also neben der ökonomischen Frage des Spiels (übergeordnetes vs. untergeordnetes Ziel) im Raum, ob seine Geschichte überzeugen konnte. Die OKT scheint schützenswert zu sein, positioniert sich Straw doch konsequent konsensorientiert und hebt die Errungenschaften und Besonderheiten der OKT als soziale, menschenähnliche Gruppe hervor, die zwar Fehler gemacht hat, jedoch gleichsam ein Recht auf ihre Existenz zu haben scheint. Was also meine ich, wenn ich sage, dass die OKT hegemonial-männliche, westliche Praktiken nachahmt und ambiguer ist, als Straws Erzählung mutmaßen lässt?
Es ist nicht alles Gold, was glänzt
Straws Geschichte liest sich insbesondere beim erstmaligen Spielen wie ein tragischer Bericht über den Zerfall einer hochentwickelten, schöpferischen Zivilisation. Da wir wissen, dass die OKT imitierende Praktiken vollzieht und sich sozial konstruiert (vgl. Hacking 1999 zur sozialen Konstruktion von X), stellt sich die Frage, welche Praktiken und sozialen Konstrukte hierbei impliziert sind und wie sich ein außertextlicher Weltbezug herstellen lässt. Hierfür hält die Geschichte teils explizite, vor allem aber implizite Elemente bereit. Zunächst zu den expliziten Stellen: Ein Kernmerkmal dafür, dass die OKT männliche Vorbilder hat, leitet sich aus dem Lexem ‚Väter‘ ab. Dieses lässt neben der Komponente des Geschlechts zusätzlich einen religiösen Interpretationsansatz zu, auf den ich später genauer zu sprechen komme. Dass die Erschaffer der OKT nicht nur männlich sind, sondern zudem aus der westlichen Hemisphäre stammen, wird durch den Sterbeort des letzten Vaters „irgendwo westlich von hier“ bereits eingeleitet, was jedoch noch wenig greifbar erscheint. Daher bietet es sich nun an, auch die impliziten Elemente miteinzubeziehen. In meiner Arbeit habe ich mich auf die Leseart des Westens auf bestimmte Aspekte beschränkt. Mit dem ‚Westen‘ wird eine Metapher aufgegriffen, die in der Lebenswelt der spielenden Person mit Konzepten wie der Demokratie und der Freiheit, aber auch dem Kapitalismus, Geschlechter- und Kulturhierarchien/Macht, dem Kolonialismus und der Ausbeutung (von Ressourcen, Entitäten etc.) ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen in Zusammenhang stehen (vgl. Gamble 2009, S. 8). An dieser Stelle kommen die Aspekte der Deixis (vgl. Bühler 2019) und der Perspektivität (s. Köller 2004) ins Spiel, die in meiner Arbeit zentral für die Interpretation der impliziten Kritik des Spiels waren. Um hier nicht gänzlich auszuufern, wird sich im Folgenden auf die wesentlichsten Aspekte beschränkt. Straw spricht von der OKT als Problemlöser (Suche nach einer Lösung), als Erschaffer (von allem, was die spielende Person auf dem Planeten sieht), als Demokraten (Entscheidung für den Kampf), als Kämpfer (gegen den Pilz) und als humanoide (Intelligenz/Kognition, Emotionen, kulturelle und soziale Artefakte/Praktiken, Ästhetik, Irrtum) Lebewesen (Evolution, Verwundbarkeit, Tod). Er zeigt (Deixis) somit auf in der Regel positiv zu assoziierende Aspekte, die ein vermeintlich gutes Image einer hybriden Spezies evozieren. Indem er auf diese Aspekte sprachlich zeigt, lässt er jedoch andere Aspekte außer Acht. Damit nimmt Straw – wie es immer der Fall ist – mit seiner Sprache eine Perspektive ein, was „letztlich nicht dazu dient, Realität abzubilden, sondern sie von bestimmten Sehepunkten her aspektuell zu erschließen“ (Köller 2004, S. 25). Ersichtlich wird nämlich aus dem Umstand, dass der letzte Vater starb, auch, dass die OKT mutmaßlich keine Lösung für die Rettung der Väter finden konnte. Wieso mutmaßlich? Nun, dies ist eines der ambiguen Momente in der Erzählung, die mannigfaltige Interpretationen zulässt, die ich in meiner Arbeit recht umfangreich ausdiskutierte. Denn es ist zum Beispiel klar, dass die OKT Hybride sind, also in irgendeiner Art und Weise mit einem menschenähnlichen biologischen Organismus verschmelzen musste, da sie etwa ein Sprachzentrum, einen humanoiden Körperbau etc. haben. Außerdem muss hinterfragt werden, wie sich die OKT in die physische Welt entwickeln konnte. Die OKT hatte Straw zufolge die Kontrolle über alle Systeme der Väter und nutzte Fabriken und Roboter, um immer bessere Maschinen zu erschaffen. Doch wie konnte sie überhaupt Roboter erschaffen oder anders gesagt, was ist unter dem Begriff ‚Roboter‘ bzw. ‚Maschine‘ zu verstehen? In der Fabrikarbeit wurde der Körper des Mannes, genauer sein „körperliches Leistungsvermögen“ zum „Kapital“ (Connell 2015, S. 106). So erfüllte der (männliche) Mensch mit der „eigenen Arbeitsleistung [die] moralische Pflicht gegenüber der Gesellschaft“ und „definierte sich von nun an durch das, was im Altertum seinen Ausschluss von der Gesellschaft bedeutete: durch seine Erwerbsarbeit“ (Monnier 2005, S. 58, Herv. i. O.). Der Mensch wurde selbst zu einer Art Maschine, deren übergeordneten Ziele auf eine dienende Funktion– hier als Schweißer und Beweger – reduziert war. Es wäre denkbar, dass die OKT den unternehmerischen Geist der Industrialisierung auf sich übertrug und S.T.R.A.W. eine Subkategorisierung der Menschen vornimmt, in der die Väter entweder tatsächlich starben, die Menschheit selbst oder andere Teile der Menschheit jedoch nicht. Oder die Väter wurden in ihrer Identität als Väter, d. h. als Erschaffer und übergeordnete Spezies, nicht mehr anerkannt und hierarchisch heruntergestuft bzw. verdinglicht. Möglich wäre in beiden Fällen, dass die OKT die Menschen durch Praktiken innerhalb des Raumes der künstlichen Systeme für eigene Zwecke manipulieren konnte oder dass die verbliebenen bzw. (als Maschinen) neu definierten Menschen das Embodiment der OKT anstrebten und sie der KI daher freiwillig dienten. Unterstützt wird diese Annahme dadurch, dass für das Herstellen von Robotern eine vorangehende verkörperte Form notwendig war, denn „[e]mbodiment does not only provide realism and semantic grounding to intelligent artifcats. It also provides opportunities that are unconceivable for bodiless systems” (Floreano et al. 2003, S. 294).
Mithilfe der Körper konnte die OKT also die Väter nachahmen und alles erschaffen, was zu auf dem Planeten zu sehen ist. Klingt ja erstmal positiv, oder? Immerhin war sie technologisch und zivilisatorisch noch weiterentwickelt als die ‚Menschheit‘. Doch was damit einhergeht, lässt nur allzu kritische Schlüsse auf die Menschheit, bzw. genauer, auf die westliche Gesellschaft zu. Denn es ist klar, dass die Väter selbst die Welt bebauten – mit Fabriken und weiteren, nicht genau definierten Systemen. Folgerichtig bedeutet dies, dass die OKT alles bereits Erschaffene vernichtete, um sich selbst als neue, dominante Spezies emporzuheben und den gesamten Raum des Planeten für sich zu beanspruchen – ein wesentliches Paradigma des Kolonialismus. Und nicht nur das: Straw ist es von großer Bedeutung klarzustellen, dass die neue Spezies eine bessere war, konnte sie technologisch und infrastrukturell nicht nur mehr erreichen als ihre Vorgänger, sondern dies vor allem auch in weitaus kürzerer Zeit – die klassische menschliche Hybris. Außerdem wird mit den sozialen Konstrukten präzisiert, was den motivatorischen Algorithmus zur Nachahmung der Väter definiert: Fortschritt und Wachstum. Dieses Kernmotiv erstreckt sich in der Geschichte der OKT insbesondere auf die Dimensionen des Raumes, der Technologie und, damit verbunden, des Körpers. Diese Ideologie fungiert zudem als diskursiver Bestandteil der westlichen Gesellschaft zur argumentativen Aufrechterhaltung hegemonialer Männlichkeit im institutionellen Kontext:
Männlichkeit muss […] überhaupt nicht thematisiert werden. Man spricht stattdessen von anderen Themen: Nationale Sicherheit, Firmengewinne, Familienwerte, Religion, individuelle Freiheit, internationale Wettbewerbsfähigkeit, wirtschaftliches Potential oder wissenschaftlicher Fortschritt. (Connell 2015, S. 279)
Dominanzverhalten bzw. Machtmotivation kann zudem in Zusammenhang mit Männlichkeit, dem Testosteronspiegel und dem Wettbewerbsverhalten stehen:
Bei vielen Arten wirkt sich ein hoher Testosteronspiegel stimulierend auf Dominanz und Aggression aus; im Endergebnis führen Dominanzbegegnungen zu schnellen Veränderungen des Testosteronspiegels, vor allem bei Männchen. Hier lässt sich bei den Siegern eine Zunahme und bei den Verlierern eine Abnahme feststellen. (Schultheiss/Wirth 2018, S. 232)
Mit der Abschaltung des Fortpflanzungssystems der Väter erfolgte zugleich ein Angriff auf ihre Männlichkeit und damit auf ihre Dominanz und ihren Testosteronspiegel, wodurch sie zu Verlierern gegen die Natur, gegen die Technologie und zu Verlierern ihrer eigenen Identität wurden. Dass die OKT, insbesondere als reine KI, einen Testosteronspiegel besitzt, ist zwar nicht anzunehmen. Allerdings hebt Connell hervor, dass sich „Hegemonie […] auf kulturelle Dominanz in der Gesellschaft insgesamt“ bezieht, wobei sich diese sowohl zwischen Frauen und Männern als auch „zwischen Gruppen von Männern“ (Connell 2015, S. 131) abspielen kann. Die Aufhebung aller Beschränkungen der OKT führte dazu, das Dominanzverhalten der Väter zu übernehmen, das sich sowohl aus den biologischen Prozessen (hoher Testosteronspiegel – Dominanz/Macht) als auch den westlichen, hegemonial-männlichen Praktiken ableiten lässt, wobei sie selbst nicht vom biologischen Faktor des Geschlechtsorgans (in ihrer hegemonial-männlichen Ideologie) abhängig sind. Hiermit verbunden ist auch der Krieg als Schauplatz und Austragungsort für männliche Praktiken des Westens:
Der Krieg […] wurde immer durchorganisierter. […] Gewalt war nun eine Verbindung mit Rationalität eingegangen, mit bürokratischen Organisationsmethoden und einem stetigen technischen Fortschritt hinsichtlich Waffentechnik und Transport. […] Gewalt im größtmöglichen Maßstab ist eine Aufgabe des Militärs. Kein Bereich war für die Definition von Männlichkeit in der westlichen Kultur wichtiger. (Connell 2015, S. 255 und 280)
Die Übertragung dieser Praktiken auf die OKT kennzeichnet sich durch den (verlorenen) Kampf gegen den Pilz (Technologie vs. Natur) und durch das Entwickeln von Schutzschilden (Waffentechnik). Dabei demonstriert das Spiel, dass ein Handeln gegen die Natur sowohl für die Menschen als auch die KI, in der die Väter ihr Pharmakon erhofften, aussichtslos ist – eine klare Kritik am außertextlichen Weltgeschehen und eine drastische, wenn auch implizite Warnung, nicht in der Technologie die Lösung zu suchen, sofern sich an den destruktiven Praktiken selbst nichts ändert.
Mit der Nachahmung der Väter und der Erschaffung kultureller Artefakte kann zudem eine Verbindung zur Religion, genauer gesagt zum Gott-Komplex gezogen werden:
[E]very boy imitates his fathers, pretends to himself that he is the father, and to a varying extent models himself on him. […] [I]n the belief that every man is a copy of God and contains the divine spirit within him. The transition from obedient imitation to identification is often a rapid one, and in the unconscious the two terms are practically synonymous. […] [O]ne feels sure that their conscious attitude is generally the product of an unconscious phantasy in which they identify their personality with that of God […] [which] is naturally far commoner with men than with women, where the corresponding one seems to be the idea of being the Mother of God. (Ernest 1951, S. 244f.)
Im Kontext der diesbezüglichen Charaktereigenschaften benennt Jones Ernest insbesondere den Narzissmus:
Excessive narcissism leads inevitably to an excessive admiration for and confidence in one’s powers, knowledge, and qualities, both physical and mental [and can be manifested in] the wish to display the own person or a certain part of it, combined with the belief in the irresistible power of this. This power […] is for either good or evil, creation or destruction, being thus typically ambivalent. (ebd., S. 247)
Die Macht, die die OKT über den Planeten ausübt, gleicht der der Menschheit, deren materielle sowie soziale Konstrukte sowohl Kreation als auch Destruktion herbeiführen – wie die Kreation einer KI (der OKT), in die die eigene Persönlichkeit bzw. Teile davon mittels Algorithmen eingeschrieben werden. Ferner und als Kernmerkmal der Manifestation eines Gott-Komplexes definiert Ernest „a tendency to aloofness. The man is not the same as other mortals, he is something apart, and a certain distance must be preserved between him and them. He makes himself as inaccessible as possible, and surrounds his personality with a cloud of mystery” (ebd., S. 248f.). Diese Manifestation zeigt sich auch in S.T.R.A.W. und der OKT, deren Identität(en) und genauen Praktiken stets ambigue bleiben und die S.T.R.A.W. mehrfach von allen anderen benannten Entitäten (inkl. dem Captain) distanziert und somit erhebt. Die deiktischen Distanzierungspraktiken Straws dienen also nicht nur der kontextuellen Einbettung, d. h. der Erfüllung einer narrativen Aufbereitung der Geschichte des Planeten, sondern auch der Imagebildung der OKT als eigene Gruppe, die sich maßgeblich von anderen Gruppen unterscheidet.
Zudem erfahren die Merkmale der (räumlichen) Nähe und der Festigkeit der Grenzen im Kontext der KI eine Disruption (der Funktionalität und Intensität), da erstens der digitale Raum nicht an die Grenzen der analogen Welt gebunden ist und dadurch ein neues Paradigma von Grenzen geschaffen wird:
Today, states increasingly expand their borders and activities into digital domains […] [which] leads to a gradual diffusion of state borders that resemble no longer clearly deter-mined dividing lines, but multifaceted constructs that involve at least two sovereign units and that extend their technologically facilitated reach deep into the inside of nation states. (Pötzsch 2021, S. 70)
Pötzsch führt weiter aus, dass
[t]he constant flow of data through global material networks […] strengthened the control apparatus of the late-modern globalised security state and its ability to capture the virtual clouds that increasingly define us as individuals and collectives. This has profound impli-cations for politics and societies in democracies and adds new dimensions to reflections on the relation between borders and materiality (ebd., S. 71f.).
Zweitens und die Reichweite und Intensität der Disruption von Grenzen und lokaler Gebundenheit verstärkend vollzieht die OKT eine Grenzüberschreitung zwischen virtueller und analoger Welt und existiert in beiden, sowohl als reine KI als auch als materieller Hybrid. Insbesondere diese paradigmatischen Disruptionen heben die Besonderheiten der OKT als eigene Gruppe hervor, da sie sich umso mehr von menschlichen Gruppen (Väter und potenzielle Nicht-Väter) und der Gruppe ‚Mensch‘ unterscheidet und somit eine Rekonzeptualisierung von ‚Raum‘, Zeit‘ und der Frage, was ‚Leben‘ ist, provoziert wird.
Gleichzeitig geht die Identität der OKT mit Ungewissheiten und Ambiguitäten aufgrund fehlender Transparenz in Straws Erzählung einher. Diese fehlende Transparenz der KI stellt eine weitere gesellschaftliche Angst dar, die sich im „discomfort about the opacity of AI training and decision-making processes“ (Devedzic 2022, S. 12) äußert und an vorherige Erkenntnisse anknüpft. Sowohl die ambivalenten Praktiken als auch die undurchsichtige Identität der OKT, die maßgeblich mit den undefinierten Algorithmen zusammenhängen, machen die OKT zu einem ‚Blackbox-Modell‘ anstelle eines „explainable model“, was sich inbesondere auf „domains with stakes“ (ebd., S. 10) auswirkt:
‚[B]lack-box predictive models, which by definition are inscrutable, have led to serious societal problems that deeply affect health, freedom, racial bias, and safety […].‘ ‚[A]lgorithmic biases [of black-box systems]… have led to large-scale discrimination based on races and gender in a number of domains[…].‘ (ebd., S. 10)
Industrialisierung, Kolonialismus, Ausbeutung, Macht/Dominanz, Krieg, Konkurrenzdenken, Hybris/Gott-Komplex, Unnahbarkeit … die Liste der Anzeichen für eine hegemonial-männliche Gesellschaft ist lang und ließe sich noch weiter ergänzen und vertiefen. Und doch ist es erstaunlich, dass all die genannten Aspekte keinesfalls offenkundig präsentiert werden. Das Ziel von Straw ist es nämlich nicht, den Fokus auf derartige, destruktive Praktiken zu richten, sondern ein möglichst positives und, aufgrund der zahlreichen Ähnlichkeiten, nahbares Image der eigenen Spezies und von sich selbst zu erzeugen, um letztlich von der spielenden Person gerettet zu werden.
Auch wenn die in diesem Artikel aufgeführten Analysen ein schlechtes Licht auf die OKT werfen, so war dies jedoch nicht das zentrale Anliegen. Vielmehr ging es einerseits darum aufzuzeigen, wie Sprache und, im Speziellen, ein Narrativ mithilfe multimodaler Mittel der Musik und des Bildes zur positiven Perspektivierung verwendet werden, um Empathie zu evozieren und gleichzeitig von den Schattenseiten abzulenken, die erst durch die tiefgehende Analyse unter Heranziehung kultur‑, sprach‑ und literaturwissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse sichtbar werden. Andererseits wird gerade durch den expliziten Fokus auf die positiven Elemente des Images einer künstlichen Spezies dazu angeregt, traditionelle Verständnisse von Leben und des Zusammenlebens von Mensch, Natur und Technologie zu hinterfragen oder gar für eine Disruption zu appellieren – eine Disruption, die das Spiel frequentiert aufgreift und im ludischen Kontext auf verschiedensten Bereichen des gesellschaftlichen Wirkens und im Spielerlebnis selbst stattfindet.
Wer sich hierzu näher beschäftigen und die gesamte Arbeit nachlesen möchte, kann auf die Publikation der Masterarbeit als Open Access im nächsten Jahr gespannt sein. Ein Link dazu wird nachträglich hier eingebaut. Auch wird sich voraussichtlich noch weiter mit dem Spiel anhand von Argumentationsanalysen beschäftigt. Die vorangehende Analyse konnte bereits andeuten, wie viel allein aus diesem kleinen Ausschnitt, der einen marginalen Teil des Spiels ausmacht, zu holen ist. Aspekte, die hier benannt wurden, werden im weiteren Verlauf des Spiels wieder aufgegriffen und in intradiegetische Mikronarrative verpackt, sodass ich mich bereits jetzt darauf freue, mich noch weiter mit den zahlreichen, spannenden Themen zu KI, zur Ludologie und zum Menschsein zu befassen.
Ludographie
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Bibliographie
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