Paradise Killer, Antike Schriften und die Sprache der Götter
Die Spielwelt von Paradise Killer, die kultische Insel Paradise 24, ist voll mythologischen Einflüssen der Antike. Ägyptische Pyramiden und mesopotamische Ziggurats hausen die Götter und Priester des Kults, mit Totenköpfen gespickte sumerische und assyrische Götterstatuen sprießen um Altäre und an Wegesrändern. Auch, was die festgehaltenen Lebensweisen und Regeln der Anhänger angeht, orientieren sich die Kultisten in die Antike: Mit Symbolsprachen, ägyptischen Schriftzeichen auf Steintafeln und Keilschrift.
Da ich die Kombination aus Schrift-, Sprach- und Zeichensystemen des famosen Paradise Killer für sehr gut durchdacht halte, möchte ich euch diese hier vorstellen. Wenn ihr Paradise Killer von Kaizen Game Works noch überhaupt nicht kennt, lohnt es sich, die Podcastfolge Polyneux Macht’s Kurz #34 mit mir anzuhören oder einen Blick auf die Shopseite zu werfen.
Die Sprache der Götter
Mit ihrem Laptop kann die Protagonistin Lady Love Dies sogenannte Nightmare Computer hacken und so Türen öffnen oder Safes knacken. Die Computer sind jedoch mit einer Symbolsprache gegen Angriffe gesichert, und so muss Love Dies zunächst die richtigen Glyphen, bedeutungstragende Bildzeichen, reproduzieren, bevor sich die Schlösser öffnen.
Diese Glyphen werden zusammengesetzt aus Teilbildern, die bis zu einem gewissen Grad frei kombinierbar sind. Die Schwierigkeit in diesem Hacking-Prozess besteht also vor allem darin, die richtigen Teilbilder zur vollständigen Symbolen zusammenzusetzen. Kleine Abweichungen können dabei bereits zu anderen Bildern – etwa einem Totenschädel, der das falsche Paar Teufelshörner aufgesetzt bekommt – führen, die vom Nightmare Computer dann nicht mehr als richtiges Schlüsselzeichen gelesen werden. Das ist beeindruckend nahe daran, wie Schrift funktionieren kann, und ganz besonders einem Schriftsystem ähnlich, das historische Linguist:innen seit Jahrhunderten fasziniert: Den altägyptischen Hieroglyphen.
Der Name Hieroglyphen stammt aus dem Griechischen (von ἱερός hierós ‘heilig’ und γλυφή glyphḗ ‘Ritzzeichen’), ist also nicht die originale ägyptische Eigenbezeichnung. Hieroglyphen, beziehungsweise deren Schreibschriftform Hieratisch, waren die Hauptschrift Ägyptens ungefähr bis zur griechisch-makedonischen Eroberung durch Alexander den Großen. Später wurden die Hieroglyphen nach und nach vom Demotischen verdrängt, einer hybriden Schreibschrift, die sich aus dem Hieratischen entwickelte, und schließlich durch Griechisch ersetzt. Hieroglyphen wurden jedoch noch eine Zeit lang für rituelle Zwecke genutzt und auf religiösen Bauten angebracht. Hieroglyphen waren übrigens keinesfalls reine Bildzeichen, auch wenn sie als solche wohl einmal begannen. Im Verlauf ihrer Entwicklung standen bestimmte Glyphen auch für bestimmte Laute (als sogenannte Phonogramme) und besaßen sogar verweisende Funktionen (sogenannte Deutzeichen), wiesen also zum Beispiel auf etwas zuvor Geschriebenes hin, ohne es zu wiederholen.
In Paradise Killer werden die Glyphen zwar am prominentesten in den Nightmare Computern als Schlüssel genutzt, wo sie nicht wirklich eine Sprache transkribieren – man kann die Zeichenfolgen der Computer also nicht als solche vorlesen, zumindest nicht als Spieler:in. Sie kommen aber auch durchaus als als lesbare Schrift vor, und zwar so, wie wir Hieroglyphen heute am besten kennen, nämlich aus Dokumentation der Geschichte einer Gottheit auf Steintafeln. Zwar lässt die geringe Auflösung der Nintendo Switch im Screenshot keine Rückschlüsse auf die genauen Hieroglyphen zu, aber dass es sich um solche handelt, ist zumindest zu erkennen.
Die heilige Schrift der Kultisten von Paradise Killer scheint also eine Variation der altägyptischen Hieroglyphen zu sein. Bedenkend, dass die Götter des Syndikats in Pyramiden schlummern beziehungsweise nach ihrer Wiedererweckung vom Kult in solchen untergebracht werden, und dass die unsterblichen Mitglieder des Kults seit mehreren tausend Jahren agieren, liegt der Verdacht nahe, dass das Syndikat seinen Anfang im prä-griechischen Ägypten hatte.
Es gibt tatsächlich noch einen weiteren Hinweis im Spiel, dass die Götter und damit vielleicht auch ihr Kult um den Zeitraum der Antike, wenn auch nicht unbedingt am Nil ihren Ursprung nahmen…
Sumer und Mesopotamien: Die Wiege der alten Götter?
Relativ spät im Spiel, wenn Love Dies’ Laptop alle Computer hacken und damit die große Pyramide von Island 24 betreten kann, trifft die Ermittlerin einen gefangenen Gott, Crying Grudge, der dem Syndikat seine ursprünglichen magischen Kräfte und Unsterblichkeit verliehen hat. Wenn dieser mit Love Dies spricht, so können wir Spieler:innen kein Wort verstehen: Denn seine Aussagen werden in sumerischer Keilschrift angezeigt. Lady Love Dies jedoch versteht den Gott und übersetzt für uns.
Natürlich ‘spricht’ Crying Grudge nicht in Keilschrift. Das ist nicht möglich, da eine Schrift keine Sprache ist, sondern nur sekundär eine oder mehrere Sprachen transkribiert. Da jedoch in Paradise Killer wie in fast allen Spielen Sprache für die Spielenden schriftlich präsentiert wird, haben sich die Entwickler von Kaizen Game Works mit der Keilschrift eine interessante Möglichkeit überlegt, die Fremdheit der Göttersprache abzubilden. Auch atmosphärisch wirkt die Wahl gut, weil es den Göttern eine Alter von mehreren tausenden Jahren zuschreibt. Es ist impliziert, dass die Götter entweder aus dem alten Sumer in Mesopotamien, lange noch vor 3000 B.C., stammen, oder dass sie dort mit den Menschen in Kontakt traten und ihnen die göttliche Schrift nahe brachten.
Schrift und Sprache der Dämonen
Während die Götter Paradise Killers also in Keilschrift ‘sprechen’ und mit Bildzeichen schreiben, besitzen auch die Dämonen, die den Untergang jeder neuen Insel besiegeln, eine eigene Schrift und Sprache.
Wie gleich zu Beginn des Mordfalls festgehalten wird, der das Spiel in Fahrt bringt, schreiben Dämonen in Siegeln, die sie den Opfern ihrer Besessenheit in die Haut brennen. Der Angeklagte, ein besessener Bürger namens Henry Device, besitzt diese Brandmale seit zehn Jahren. Die gleichen Zeichen werden, in Blut geschrieben, am Tatort aufgefunden.
Wie Dämonen schreiben, ist also sichtbar, wie sie sprechen jedoch eine etwas schwierigere Angelegenheit. Zwar sprechen wir tatsächlich in Paradise Killer mit einem Dämonen, dem elitenkritischen, revolutionshungrigen Shinji, dieser spricht jedoch die Sprache der Menschen und kommuniziert so mit Lady Love Dies.
Unaussprechlich
Den entscheidende Hinweis auf die Dämonensprache erhalten wir stattdessen von einer anderen Figur, die uns im späteren Spielverlauf begegnet.
“Dämonen sprechen in arkanen Zungen. […] Wir können die dämonische Sprache nicht artikulieren. Es fehlt uns am Stimmumfang dazu.”
Die “vocal range” oder der Stimmumfang bezeichnet ein phonetisches Merkmal: Die Form unseres Mundes und unserer Sprechorgane, die vorgibt, welche Laute wir damit von uns geben können. Nicht jede Sprache dieser Welt nutzt alle Möglichkeiten unseres Sprachapparates, und so können die wenigsten Menschen alle Töne tatsächlich produzieren, die wir in der Theorie zu nutzen im Stande wären. Es fehlt ihnen schlichtweg die Übung dazu. Beispiele, die für Sprecher:innen indo-europäischer Sprachen notorisch schwierig zu produzieren sind, sind etwa die Klicklaute afrikanischer Bantusprachen oder die Kehllaute des Mongolischen.
Was One Last Kiss hier anspricht dürfte jedoch noch weit außerhalb der Möglichkeiten liegen, die ein menschliches Sprachorgan mit Gewöhnung zu leisten vermag. Schließlich haben wir es mit der Sprache von außerirdischen Dämonen zu tun, die kosmische Strahlen manipulieren und reiten können. Deren biologische Evolution hat sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch mit einem anders modellierten Sprachapparat ausgestattet – auch wenn dieser zumindest im Gegenzug in der Lage sein muss, menschliche Sprachlaute auszustoßen, wie Shinji beweist.
Wie sehr sich die Welt Paradise Killers anbietet, über die Grenzen der Handlung hinaus untersucht und interpretiert zu werden, spricht für seinen Status als großartiges Detektivspiel. Andere Fachrichtungen, allen voran die Theologie, Geschichtswissenschaft oder Archäologie, hätten wohl mindestens genauso viel Freude an Island 24 wie die Linguistik. Gerne würde ich mehr zu diesem und anderen Spielen aus solcher Perspektive lesen. Vielleicht gibt dieser Artikel ja einen kleinen Anstoß dazu.
Eine Antwort
[…] geredet und einen ganz schön langen Text über meine Faszination darüber geschrieben habe, wie das Spiel Schriften und Sprachen einsetzt.Doch nun hat das ursprünglich für PC und Nintendo Switch erschienene Indiegame ein ordentliches […]