SOMA und die Frage nach dem ICH
Ein Beitrag zu den Interactive Fiction Days von Amon Oberhofer.
Es gibt nur wenige Spiele, die einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen haben. Solche, über die ich noch lange nach der eigentlichen Spielzeit grüble. Frictional Games narratives Horror Adventure SOMA von 2015 ist definitiv eines davon. Im Erscheinungsjahr erhielt der Titel zwar durchaus viel Kritik für die fehlende spielmechanische Abwechslung sowie oftmals eher nervigen Monsterpassagen, wurde jedoch ebenfalls für seine interessante Geschichte hochgelobt, die sich mit, in Literatur- und Filmform bereits öfter behandelten, Science Fiction-Thematiken auseinandersetzt. Auf Ersteres reagierte Frictional Games zwei Jahre später und patchte den sogenannten »Safe Mode« ins Spiel, durch den Monster den Spieler nicht länger angreifen. Durch das Wählen dieser Spielweise verstärkt man den ohnehin bereits prägnanten, narrativen Fokus von SOMA. Für diesen Beitrag zu den Interactive Fiction Days bei Language at Play habe ich nochmals den Einstieg von SOMA im Safe Mode gespielt und werde im Folgenden auf die Narration eingehen, die das Spiel so besonders macht.
Spoilerwarnung: Der Text spricht einige wichtige Punkte der Geschichte von SOMA an!
SOMA beginnt mit folgendem Zitat von Philip K Dick:
Reality is that which, when you stop believing in it, doesn’t go away.
Dieser Satz stammt aus einer Rede namens »How to Build a Universe That Doesn’t Fall Apart Two Days Later«, die Dick 1978 hielt1. Der Science Fiction-Autor behandelte in seinen Werken wie Do Androids Dream of Electric Sheep nicht nur die Entwicklung humanoider Roboter, sondern auch die Grundfesten unserer Realitätswahrnehmung sowie die Frage, was Realität beziehungsweise unser Bewusstsein eigentlich sind. Eben jene Fragen, die auch in SOMA Einzug finden. Das vorangestellte Zitat bereitet uns als Spieler darauf vor, dass wir im Verlauf der Handlung wohl mit Irrealem konfrontiert werden: Dinge, die eigentlich nicht sein dürften. Auch dass wir die Wahrnehmung, die wir durch die Augen der Spielfigur erfahren, hinterfragen sollten, zeigt uns SOMA hiermit.
Nach der Texteinblendung werden wir mit einer stilisierten Traumsequenz konfrontiert und wachen als Simon Jarett in der First Person-Perspektive in einem kleinem Apartment in Toronto auf. Der Traum handelte von einem nicht näher beschriebenen Verkehrsunfall, der nicht verhindert werden konnte. Wir erhalten einen Anruf von einem gewissen Herr Munshi, der uns daran erinnert, eine rote Flüssigkeit zur späteren Absolvierung eines Gehirnscans zu trinken. Alleine durchsuchen wir nun Simons leicht schmutziges Apartment nach besagter Phiole.
Dabei gibt es ein paar unterschiedliche Handlungspunkte zu entdecken, die der Spieler selbst zusammenpuzzlen muss. So hängt neben dem Kühlschrank eine To-Do Liste mit dem Punkt »Flowers for funeral«. Scheinbar ist eine der Hauptfigur nahestehende Person bei dem Autounfall verstorben. Weiterhin können wir ein Buch finden, in dem es um Gehirnscans geht, was auf den später am Tag geplanten Eingriff hindeuten soll. Simon selbst arbeitet wohl in einem Bücher- und Comicladen namens »The Grimoire«, wie sich aus E-Mails auf seinem Computer schließen lässt.
Auch wenn dieser Einstieg ins Spiel weitaus weniger subtil gestaltet ist als der Rest von SOMA, zeigt sich in diesen Aspekten des Environmental Storytelling bereits die narrative Struktur, die Frictional Games in der Erzählung ihrer Geschichte an den Tag legt. Der Spieler wird in eine unbekannte Situation geworfen und erhält durch Erkundung der Umgebung nach und nach ein eigenes Bild des Umfelds sowie der vorangegangenen Geschehnisse. Diese ungefähre Ahnung mündet in der Konfrontation mit harten Fakten, wenn wir einen Ausschnitt eines Zeitungsartikels vorfinden und damit erfahren, dass bei dem Autounfall eine Freundin Simons – Ashley Hall – ums Leben gekommen ist, während sein eigenes Gehirn permanenten Schaden davontrug. An diesem Punkt fühlt sich der Spieler in seiner Konklusion bestätigt und nimmt die ihm präsentierte Realität wesentlich leichter an. Dieser erzeugte Effekt durch das Environmental Storytelling, der den Immersionsgrad von SOMA erhöht, schlägt sich auch später im Spiel nieder. Thematisch konzentriert sich dieser kurze Anfangsteil auch auf das Leitmotiv, das sich durch den gesamten Titel zieht und den Spieler mit einer wiederkehrenden Frage antreibt: »Wer bin ich?«
Im Anschluss an die Einleitung verlassen wir als Simon die Wohnung, um den Termin wahrzunehmen, bei dem ein exaktes Computermodell seines Gehirns erstellt werden soll, welches in einer Simulation verschiedensten Behandlungsmethoden ausgesetzt wird, um eine Heilung für das reale Hirn zu finden. Doch nach dem Scan erwacht Simon plötzlich hundert Jahre später in einer dunklen, merkwürdigen Forschungseinrichtung, die sich scheinbar mitten im pazifischen Ozean befindet.
Dass genau derselbe Simon nun in dieser Zukunft existiert, sollte doch eigentlich unmöglich sein; und so fragen wir uns zu Beginn des spielerischen Hauptteils erneut die gleiche Frage: »Wer bin ich?«. Spielen wir gerade immer noch jenen Simon aus Toronto, der in einem kleinen Bücherladen arbeitet? Oder sind wir nun auf irgendeine Weise zu jemand anderem geworden? Das Narrativ, das Frictional Games aufbaut, weitet sich nun aus, während wir auf der Suche nach uns selbst die Unterwasser-Forschungseinrichtung namens »Pathos-II« erkunden. Hierbei werden wir wiederum mit vielen Informationen konfrontiert, aus denen sie Rückschlüsse über die offensichtlich futuristische Welt sowie über den eigenen Ursprung ziehen müssen. So werden wir beispielsweise in ein Gespräch mit einem Roboter verwickelt, der behauptet, Carl Semken zu sein2, von dem wir zuvor eine Leiche entdeckt haben. Der Roboter scheint jedoch felsenfest davon überzeugt, eine Person zu sein:
»Yeah I’m human. Are you?«
Er winkt mit seinem mechanischen Arm und fragt, ob wir denn nicht seine Hand erkennen können. Offensichtlich hat dieser Roboter also eine ganz eigene Wahrnehmung und somit eine eigene Realität, denn so oft wir ihn auch damit konfrontieren, dass sein Äußeres einer Maschine zu gleichen scheint, seine Sicht der Dinge können wir nicht verändern.
Auch scheint dieser Roboter fühlen zu können: Schalten wir den Strom in diesem Sektor aus, können wir einen Kurzschluss erzeugen, der ihn vor Schmerz aufschreien lässt.
An einer Stelle später im Spiel wird uns ein weiterer Hinweis auf die Situation Simons gegeben. Das Kommunikationszentrum der Einrichtung stürzt ein und wird geflutet. Anstatt jedoch in der Wassermasse zu ertrinken, überlebt Simon und bemerkt, dass er unter Wasser atmen und gehen kann. Die Hauptfigur verbalisiert, was dem Spieler instinktiv durch den Kopf schießt: »Wie ist das möglich?«.
Durch diese Art der Vermittlung der Gedankenwelt des Avatars werden wir – wie schon zu Beginn des Spiels – nach und nach an Simons eigene Realität herangeführt. Der klimatische Höhepunkt ist hier jedoch nicht die Entdeckung eines Zeitungsartikels, sondern der Bruch der Erwartung über das eigene Selbst. Zu einem späteren Zeitpunkt finden wir einen der wenigen Spiegel, die nicht zerstört wurden und erkennen, dass der Simon, den wir die ganze Zeit kontrolliert haben, ein Roboter ist3. Dem Spieler wird durch die präsentierte Zukunftsversion klar, dass Simon etwas Ähnliches passiert sein muss wie dem getroffenen Carl Semken: Der Scan des Gehirns des echten Simon Jarett wurde über hundert Jahre später in einen Roboter gepflanzt.
Während Simon selbst im Gespräch mit dem Carl-Roboter zuvor noch die Gegensätzlichkeit von Mensch und Maschine statuiert, zeigt sich nun, dass eine Maschine menschlich sein und sich für einen Menschen halten kann. Die Frage »Wer bin ich?« implizierte bisher automatisch, dass man selbst »jemand«, also eine Person – ein Mensch – sei. Weder wir noch Simon konnten von etwas anderem ausgehen. Die Form, die Simon bei seinem Sprung in die Unterwasser-Station angenommen hat, bliebzwar die ganze Zeit über fraglich, seine eigentliche Menschlichkeit jedoch nicht. Unsere Definition von Menschlichkeit basiert häufig auf dem Fakt, dass wir conscious sind; dass wir eine eigene Wahrnehmung besitzen und Emotionen verspüren können. Zuvor haben wir mit eigenen Augen gesehen, wie Simon Angst oder Empathie verspüren und zeigen konnte. Durch die Narration in der First Person-Perspektive und unsere Steuerung der Spielfigur ist uns ebenfalls klar, dass Simon ein conscious being, ein bewusstes Wesen sein muss. Mit dieser Klimax zeigt Frictional Games nun, dass sich diese Form der Narration perfekt dafür eignet, die Thematik in ihrer Gänze einem Rezipienten näher zu bringen, da dieser dazu neigt, sich auf die ihm bekannten Konventionen zu verlassen.
Wenn man über Narrative Games oder auch Walking Simulatoren spricht, stößt man früher oder später auf Kommentare, die solchen Titeln die Bezeichnung »Spiel« absprechen, weil sie aufgrund angeblich mangelnder spielmechanischer Elemente genauso gut in reiner Textform funktionieren könnten. SOMA ist in meinen Augen ein perfektes Gegenbeispiel zu dieser Sichtweise. Die oben beschriebene Art und Weise, wie Leitmotive vom Spieler selbst erkundet sowie nach und nach ergründet werden, kann nur in einer interaktiven Umgebung funktionieren. Zwar kann ich etwa in einem Mystery-Roman die Hintergründe nach und nach zusammensetzen, die Informationen kann ich dabei jedoch nie selbst entdecken. Ich kann mich nicht innerhalb der fiktionalen Welt des Buches umsehen, geschweige denn mich frei bewegen. Die Wahl der Erzählperspektive SOMAs ist außerdem eng mit der Thematik des Spiels verwoben, da wir diese Welt – oder diese Realität – ausschließlich durch die Augen Simons erfahren können und somit bis zu der Spiegelszene etwa nie seinen vollständigen eigenen Körper zu Gesicht bekommen. Damit stellt SOMA ein fantastisches Exempel für Narrativität im digitalen Spiel dar und ist dabei ein Paradebeispiel für die Möglichkeiten von interaktiver Fiktion.
Über den Autor:
Amon Oberhofer, gerade mal kurz vor der Jahrtausendwende geboren, setzt sich seit Anfang 2018 auf seinem Blog Amons Game Corner teilweise analytisch mit Videospielen auseinander und schreibt seit Mai ebenfalls für die Webseite Spielkritik.com. Twitter
Behandeltes Spiel:
SOMA. 2015/2017 (Xbox One). Entwickler: Frictional Games. Publisher: Frictional Games. Plattform: PC/Mac/PS4/Xbox One
Fußnoten & Bibliographie:
1. Dick, Philip K. How to Build a Universe That Doesn’t Fall Apart Two Days Later. 1978. (https://urbigenous.net/library/how_to_build.html) ↩
2. SOMA – Site Upsilon: Flashback Dialogue & Simon Jarrett Meets Carl Semken “Are You Human?” Sequence (https://www.youtube.com/watch?v=vyzMwFss_MA) ↩
3. SOMA: Simon Looks Into The Mirror [HD] (https://youtu.be/Kb812LKdMgI) ↩