Maduro, Extra Dry – Spieleentwicklung in Venezuela
Schwarzmarkthandel und Ladenplünderungen prägen das Leben in Venezuela. Zwei junge Männer versuchen, dem Krisengebiet durch die Entwicklung eines Cyberpunk- Videospiels zu entfliehen. Ihre Inspiration: die eigenen Erlebnisse.
Dieser Text erschien zuerst im Printmagazin WASD Ausgabe 14 – BETRUG! von Sea of Sundries. Wenn euch der Artikel gefällt, zieht doch in Erwägung, das Magazin zu bestellen oder zu abonnieren.
Im südamerikanischen Venezuela herrschen mittlerweile Zustände wie in dystopischen Romanwelten. Krankenversorgung und körperliche Unversehrtheit bleiben denjenigen vorbehalten, die sich das leisten können – und natürlich den politischen Machthabern. Alle anderen müssen sich bereits glücklich schätzen, wenn die Stromversorgung nicht ständig zusammenbricht. Die Regale der Supermärkte bleiben leer, insbesondere in Vorstädten und auf dem Land. Die wenigen besser gefüllten Läden werden nachts regelmäßig von hungrigen Menschen geplündert. Schuld an diesem Zustand sind die Entscheidungen der letzten beiden Jahrzehnte, die eng mit dem Schlagwort Sozialismus des 21. Jahrhunderts verknüpft sind. Zu seiner Amtseinführung 1999 kündigt der linkspopulistische Präsident Hugo Chavéz an, Ölindustrie, Telekommunikation und Strom verstaatlichen zu wollen. Zwischen 2007 und seinem Tod 2013 setzt er diese Vorhaben um und dehnt die Verstaatlichung auf diverse Bauunternehmen und Banken aus. Chavéz und sein derzeit regierender Nachfolger Nicolás Maduro machten Venezuela finanziell vollkommen von den Ölvorkommen des Landes abhängig, den größten der Welt. Als dann 2017 der Weltmarktpreis pro Barrel Öl während der Finanzkrise einbricht, erreicht die Inflation des venezolanischen Bolívar neue Höchststände. Das hat nicht nur kaum bezahlbare Brotpreise zur Folge, auch Medikamente sind bis heute unerschwinglich. Der Bolívar wird deswegen irgendwann nicht mehr gezählt, sondern der Einfachheit halber in Kilogramm abgewogen, die Scheine als Klopapier zu benutzen ist billiger, als echtes zu kaufen, das zudem immer wieder knapp ist. Ende 2017 liegt die Arbeitslosenquote Venezuelas bei über 25 Prozent, wer dennoch Arbeit findet, wird gerade einmal mit dem Gegenwert von zwei bis vier Packungen Mehl im Monat bezahlt.
Indie-Entwicklung als Rettungsanker
In dieser von Mangelwirtschaft geprägten Gesellschaft erscheint es geradezu absurd, dass sich die beiden Grafikdesigner Christopher Ortiz und Fernando Damas 2014 in den Kopf setzen, ein Spiel zu entwickeln. Ihr Ziel ist es, damit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und vielleicht sogar Venezuela irgendwann verlassen zu können. Denn das versuchen gerade viele Menschen: Die UN schätzt die Zahl der Flüchtlinge auf 2,3 Millionen, fast ein Zehntel der Bevölkerung. Allein eine Million davon kommen derzeit im Nachbarland Kolumbien unter, das mit einem Auto von Caracas aus gerade einmal zwölf Stunden entfernt ist. Kolumbien jedoch droht mit der Schließung seiner Grenze, ähnlich wie die brasilianische Regierung, die ihre Grenzübergänge mittlerweile militärisch abgeriegelt hat. Die beiden Grafiker wollen deswegen weiter fort, nach Mexiko oder in die USA.
Internet ja, Nahrung nein
Im März 2014 nehmen Ortiz und Damas alias kiririn51 und IronicLark an einem Cyberpunk-Jam teil. Innerhalb von zehn Tagen entwickeln sie den Prototypen eines dystopischen Barkeeper-Simulators, den sie VA-11 Hall-A (lies Vallhalla) taufen. Das Spiel bekommt eine Menge Aufmerksamkeit und schafft es auf die Spitzenplätze im Game-Jam-Ranking. Im gleichen Jahr gründet sich in Singapur der Publisher Ysbryd Games. Das Unternehmen kontaktiert kiririn51 und IronicLark, die unter dem Namen Sukeban Games ein gemeinsames Studio gegründet haben, und nimmt VA-11 Hall-A als ersten Titel in sein Portfolio auf. Damit kommen die beiden Entwickler ihrem Ziel ein wenig näher, sie können sich immerhin sogar einen Internetzugang leisten, während Sukeban Games seinen Prototypen zu einem vollständigen Spiel weiterentwickelt. Die beiden Entwickler sind nun zwar immerhin online, können sich aber nur mit dem Nötigsten an Nahrung versorgen: „Ich bereite mich innerlich schon darauf vor, in den nächsten Monaten nichts als Reis mit Butter zu essen“, schreibt Christopher Ortiz Ende 2014 auf seinem Blog. „Wenigstens haben wir Computer und Internet, mehr brauchen wir nicht, um unser Spiel zu entwickeln. Wir machen weiter, bis wir sterben, denn es ist das Einzige, das wir wirklich gut können.“ Die beiden gehen offen mit ihrer Situation um, was ihnen über die nächsten Jahre kontinuierlich Spenden von Fans einbringt, die ihren Prototypen begeistert spielen. Zusätzlich verkauft Ortiz inoffizielle offizielle Fan Art, wie er es nennt: von ihm gezeichnete Bilder zu VA-11 Hall-A-Charakteren. Der stark an japanische Visual Novels und Manga angelehnte Zeichenstil des Spiels bringt Sukeban eine große Fangemeinde unter Künstlern im Internet ein. Mitte 2016 erscheint dann endlich VA-11 Hall-A: Cyberpunk Bartender Action – und wird ein finanzieller Erfolg. Über 300.000 Mal verkauft sich das Spiel auf Steam und erreicht beeindruckende 97 Prozent positive Nutzerbewertungen. Mittlerweile ist der Titel auch auf Nintendos Switch und sogar der PlayStation Vita zu finden.
Wenn Realität und Dystopie verschwimmen
Die Geschichte von VA-11 Hall-A spielt sich beinahe ausschließlich in einer gleichnamigen Bar in der Cyberpunk-Metropole Glitch City ab. Diese fiktive südamerikanische Stadt spiegelt die Lage Venezuelas akkurat wider: Auch hier mangelt es an Nahrung und auch hier versucht eine korrupte Regierung, ihr Image mit Propaganda aufzupolieren. Wie auch im realen Venezuela patrouilliert das Militär in Form von schimmernden White Knights durch die Straßen von Glitch City, um Plünderungen und Schwarzmärkte zu vereiteln. Jede Maßnahme der Regierung geschieht auch hier unter dem Vorwand des Humanitarismus, obwohl das, was sie tut, mit Humanismus nicht mehr viel zu tun hat. Manch verzweifelter Ladendieb findet sich nach einer Tracht Prügel im VA-11 Hall-A wieder, doch geht es getränke-kulinarisch hier eher trostlos zu: An der Bar wird der Bierersatz aus Seifenwasser gebraut, aus dem Ausland eingeführter echter Rum ist ebenso unbezahlbar wie der im Laden. Selbst der Schuss im aufwendigsten Cocktail ist kein natürlich destillierter Alkohol, sondern Karmotrine, so nennt man hier ein künstliches, billiges Rauschmittel. Nicht viel besser ist es um die Medien bestellt: Die Presse des Stadtstaats besteht im Wesentlichen aus einem regierungshörigen Blatt, dessen Besitzer und Chefredakteur der einzige Profiteur im gesamten Nachrichtenapparat zu sein scheint. Auch er findet sich gerne am Tresen von VA-11 Hall-A ein und zerreißt sich mit Freuden das Maul über seine ausgebrannten Angestellten und großbusigen Praktikantinnen. Barkeeperin Jill Stingray steht regelmäßig vor der Entscheidung, ihm und anderen unliebsamen Kunden Hausverbot zu erteilen. Allerdings kann sie es sich gar nicht leisten, Gäste vor die Tür zu setzen, denn sie ist auf Trinkgeld angewiesen. Jills Gehalt allein reicht nicht für Miete, Strom und Heizung, sodass sie am Ende des Monats im Dunkeln sitzt oder gar auf der Straße landet. Keine Gnadenfrist und keine Mahnung: Wer nicht bezahlen kann, fliegt. Eine allzu reale Gefahr, der Damas und Ortiz in der echten Welt wohl nur durch das schiere Glück entgangen sind, einen Publisher gefunden zu haben. Hier wie dort ist das Geld immer knapp, umso mehr sehnen sich die Menschen nach etwas Zerstreuung. Entwickler Ortiz ist selbst leidenschaftlicher World Wrestling Entertainment-Fan und hat Jill deswegen seine eigene Guilty Pleasure verpasst. Wenn sie nicht hin und wieder eine Actionfigur in die Finger bekommt und nicht einmal ein Feierabendbier, wird Jill unkonzentriert und mixt auf der Arbeit auch gerne einmal den falschen Drink. Kein Wunder: Den eigenen Sorgen für kurze Zeit entfliehen zu wollen, ist eben genauso menschlich wie das Bedürfnis nach Essen und Trinkwasser. Doch selbst kleinere Ausflüchte werden armen Menschen im analogen Venezuela wie im digitalen VA-11 Hall-A oft unmöglich gemacht. So bleibt die Unterschicht unkonzentriert, kraftlos und leicht zu kontrollieren, während die Regierung fleißig am Feindbild vom faulen Arbeiter schraubt. Wie in Glitch City sollen auch in Venezuela solche Manöver vom Versagen der Regierung ablenken. Doch VA-11 Hall-A macht es den Figuren deutlich leichter, ihren Drang nach Entspannung hin und wieder auch auszuleben, schließlich handelt es sich immer noch um eine Simulation von durchzechten Nächten.
Ertragen – nicht entfliehen
Aber egal, wie sehr man versucht, der Realität zu entfliehen, irgendwann holt sie einen ein. Vor Jills Bar fallen Schüsse und bald wird klar: Draußen herrscht Bürgerkrieg, ganz ähnlich wie in Caracas auch, wo mehr Menschen ermordet werden als in jeder anderen Hauptstadt der Welt.
Obwohl die Anspielungen offensichtlich sind, hat Christopher Ortiz es bis jetzt vermieden, sich zur Botschaft des Spiels zu äußern, aber er erzählt, wie andere Beteiligte VA-11 Hall-A interpretieren. „Unsere Kollegen bei Ysbryd finden, dass VA-11 Hall-A eher darstellt, wie man mit dem Leben in einer dystopischen Gesellschaft klarkommt, statt ihr zu entfliehen. Das ist etwas völlig Normales für alle von uns, deswegen fällt es uns kaum mehr auf.“ So normal, dass sich Damas und Ortiz dazu entschlossen haben, trotz unveränderter Lage in Venezuela zu bleiben, während die beiden für unterschiedliche Publisher an drei weiteren Spielen arbeiten. Eine Fortsetzung von VA-11 Hall-A haben sie erst ausgeschlossen, zu viele Erinnerungen seien mit dem Projekt verknüpft. Mittlerweile haben Sukeban jedoch doch noch einen Nachfolger angekündigt, der auf den Namen N1RV Ann-A hören wird.
Ihr Mut ist beachtenswert, denn Venezuelas Lage wird sich in absehbarer Zeit nicht verbessern. Noch immer produziert das Land selbst nicht genug Nahrung und muss deswegen Dinge, die zur Grundversorgung gehören, importieren – und die werden aufgrund der Inflation immer teurer. Humanitäre Hilfsangebote lehnt die Regierung Venezuelas bis heute ab, denn die eigene Notlage nach außen einzugestehen, kommt für sie nicht in Frage. Gerade erst ließ Maduro eine Währungsreform durchführen, ließ auf den Scheinen fünf Nullen streichen und verband das mit einer Kryptowährung. Die hört auf den Namen Petro und ist, wie könnte es anders sein, an den Ölpreis gebunden. Den Einwohnern von Venezuela bringt das außer langen Schlangen am Bankschalter nichts: Die Preise für Lebensmittel im Land werden längst nur
noch am Schwarzmarkt und nicht mehr am offiziellen Wechselkurs gemessen. Wer kann, der schmuggelt Benzin über Kolumbien und Brasilien nach Mittelamerika und in die Karibik und bringt Pesos und US-Dollar zurück. Auch dagegen will Maduro vorgehen, indem er mit der Einführung des Petro die Subventionen für Öl kürzt, der einzig bezahlbaren Ressource des Landes.
Dennoch scheinen Sukeban Games der Not trotzen zu können, dank der finanziellen Unterstützung durch ihren Publisher. Damas und Ortiz glauben an eine Zukunft für sich in ihrer Heimat Venezuela. Fast, aber eben nicht ganz so sehr wie Jill. Sie ist am Ende ihrer letzten Schicht zwar immer noch genauso arm wie zuvor, kann aber wenigstens auf einen Hoffnungsschimmer blicken. Denn während das Ende der Geschichte von VA-11 Hall-A auf eine Revolution in Glitch City hoffen lässt, hat Nicolás Maduro längst damit begonnen, die Opposition einsperren zu lassen.
Alle Bilder in diesem Artikel stammen aus der WASD und wurden von Markus Weissenhorn designt.
Fix, die eckig-pixelige Schrift in den Bildern, wurde von dem Venezolaner Andre „Mayu“ Maiuri entworfen. Wenn euch der Artikel gefällt, zieht doch in Erwägung, das Magazin zu bestellen oder zu abonnieren.