Wolfenstein-Nazis, linguistisch erklärt, Part 2: Reichs-Kapitalismus
Willkommen in Neu-Paris, fortgeschrittene*r Linguist*in.
Wolfenstein: Youngblood mag nicht das gehaltvollste Singleplayer-Spiel der neuen Wolfenstein-Reihe von Bethesda und MachineGames sein, aber es ist eine prall gefüllte Wundertüte voll spannender sprachwissenschaftlicher Besonderheiten. So vieler Besonderheiten, dass ich sie euch in einer kleinen Artikelreihe vorstellen möchte. Dies ist der zweite von drei Artikeln über die Sprache von Youngblood. Die weiteren Artikel findet ihr hier verlinkt, sobald sie erschienen sind.
Rufen wir uns die Ausgangssituation von Wolfenstein: Youngblood noch einmal in Erinnerung. Es ist 1980, die Nazis kontrollieren Europa seit 40 Jahren. Im alternativen Universum von Wolfenstein lief also einiges anders, der Kapitalismus jedoch muss sich sehr ähnlich entwickelt haben. Die Ästhetik der Nazi-80er folgt genau der, die heute nostalgisch als die der echten 80er wahrgenommen wird: violette Grid-Linien, Elektrogeräte in schwarzen Klotzgehäusen, dicke rote Schriftzüge, die in den 90ern den WordArt-Stil von Microsofts Office prägen sollten. Diese retroaktiv nostalgisch gelebte 80er Ästhetik, wie sie von Stranger Things oder GLOW zelebriert wird findet sich auch in Wolfenstein: Youngblood wieder und prägt vor allem das environmental storytelling des Spiels. Ein ganz wichtiger Aspekt dieses Erzählens über die Ausstattung der Umgebung bilden die Plakate. Diese Plakate lassen sich grob in zwei Kategorien aufteilen: Zum Konsum anregende Werbung und zum Eintritt ins oder der Kollaboration mit dem Militär anreizende Propaganda. Beide Arten an Plakaten lassen sich sowohl in den zivilen als auch in den militärischen Arealen des Spiels finden.
Wie analysiert ein Linguist Poster?
Es wirkt zunächst unintuitiv, mit sprachwissenschaftlichen Methoden Bilder untersuchen zu wollen. Tatsächlich ist das nicht weit hergeholt, sieht man sich in der Profession der Bildlinguistik um. In der Bildlinguistik werden bebilderte Flächen als Texte behandelt. Diese Flächen – sogenannte Sehflächen (vgl Krämer et al 2012, S. 16f ) – bestehen nicht exklusiv aus Farb‘ und Pinselstrich, sondern beinhalten oft auch Geschriebenes, denn Bilder stehen selten alleine. Damit behandelt die Bildlinguistik Poster, Plakate, Graffitis, Zeitungslayouts, Magazine, Straßenschilder, Leuchtreklamen und vieles, vieles mehr. Der Grund, warum man so viele linguistische Theorien auch auf Visuelles anwenden kann, ist denkbar simpel: Wir „lesen“ Bilder ganz ähnlich dazu, wie wir Text lesen. Piktogramme und Symbole sind ähnlich gestrickt wie symbolische oder arbiträre Worte, sie wecken Assoziationen, ordnen sich in semantische Rahmen ein und so weiter. Eine Sehfläche zu analysieren ist jedoch handwerklich um einiges aufwändiger als einen Satz in seine Einzelteile zu zerlegen und deren Semantik zu ergründen. Sehflächen wirken nicht nur über ihre Einzelteile, sondern auch in ihrer Gesamtkomposition, über Auslassungen, darüber, welche Motive zentriert werden und welche an den Rand gedrängt, und so weiter. Besonders knifflig wird die Analyse, wenn ein Bild – oder ein Poster – Personen zeigt, denn was diese mit ihren Händen, Augen oder Mündern tun, kann den gesamten Kontext der Sehfläche verändern. Zu diesem Zweck haben die beiden Bildlinguisten Kress und van Leeuwen (2006, S. 59, 63ff) ein System aus Vektoren entwickelt, mit dem man die Handlung von Figuren beschreiben kann. Ein Vektor ist eine Bewegung zwischen einem Akteur und dem Ziel einer Aktion. Daran, wie viel dieser Bewegung abgebildet ist, lässt sich ablesen, auf wen ein Bild wirken soll.
Tut ein abgebildeter Akteur etwas, wir sehen jedoch nicht das Ziel seiner Aktion im Bild, zum Beispiel, wenn eine Baseballspielerin einen Ball wirft, wir jedoch nicht sehen, wo er landet, dann ist das ein non-transaktionaler oder intransitiver Vektor: Die ausführende Figur steht im Fokus. Je nachdem kann das einen Feind besonders gefährlich, einen landeseigenen Soldaten besonders heroisch oder eine Sportlerin besonders agil wirken lassen.
Passiert etwas mit einer Figur oder einem Gegenstand, wir sehen aber den Auslöser der Aktion nicht direkt, dann ist das ein Event-Vektor. Hier steht das Event, wie der Name schon sagt, im Mittelpunkt. Das Anzünden einer Zigarette durch einen körperlosen Arm stellt den Vorgang des Rauchens besonders attraktiv in den Fokus, während eine kauernde Figur im Dunkeln die Angst vor einem Angriff eines Feindes besonders schürt.
Tut schließlich ein gut sichtbarer Akteur etwas mit einer bestimmten Zielfigur, dann bezeichnet man dies als transaktionalen oder transitiven Vektor. Hier sind die beiden Seiten ausgewogen; Die Gesamterscheinung tritt stärker in den Fokus als die einzelnen Akteure.
Das fehlende Element bei den beiden erstgenannten Vektoren – intransitiv und Event – wirkt oft außerhalb eines Plakates oder eines Bildes mit, wenn es im gesellschaftlichen Kontext rezipiert wird. Eine Person, die Brot aus dem Bild heraus reicht wird etwa besonders auf hungernde Menschen wirken, die vor dem Plakat stehen. Der intransitive Vektor wird in Verbindung mit den Rezipierenden zum transitiven und schafft so ein Narrativ. Das ist das bildlinguistische Grundprinzip von Propagandapostern – mit diesen werden wir uns ebenfalls noch beschäftigen – und auch ein wesentlicher Teil von bildlicher Werbung, die ein Lebensgefühl evozieren möchte.
Die Werbung von Neu-Paris
Konzentrieren wir uns in dieser Ausgabe von „Wolfenstein-Nazis, linguistisch erklärt“ also auf die Werbeplakate und ihre allgemeine Optik, bevor wir uns im nächsten Artikel mit Propagandaplakaten beschäftigen. Große Abbildungen der zu kaufenden Produkte dominieren hier. Handelnde Personen, die etwa mit dem Produkt interagieren, lassen sich nur sehr selten finden, stattdessen stehen die Produkte im Zentrum der Aufmerksamkeit. Schriftzüge in dicken, auffälligen Lettern, oft vollständig in Großbuchstaben geschrieben, vermitteln die Slogans der Werbung.
In der aktuellen Werbeindustrie lassen sich grundsätzlich zwei Herangehensweisen finden, potenziellen Kund*innen einen Kauf schmackhaft zu machen: Die Anpreisung eines Produkts und dessen Vorzügen gegenüber der Anpreisung eines Lebensgefühls oder Lifestyles. Wolfenstein: Youngblood preist visuell vor allem die Produkte direkt an: Lediglich auf einem einzigen Poster lässt sich eine mit dem Produkt agierende Person größer und zentraler als das eigentliche Produkt ausmachen. Das Plakat der ‘Laserflop Supermax’-Disketten zeigt eine perfekt toupierte Frau in gestärktem Kleid, die die Disketten wie einen Fächer in der Luft hält. Ihr Blick verlässt das Plakat und trifft den der Betrachter*innen, er soll so zum Kauf der prominent vor den Körper gehaltenen Disketten animieren, die zusätzlich im Bildvordergrund noch einmal separat abgebildet sind, zusammen mit einem Erklärungstext. Ein Lebensstil wird hier vor allem über das Gebaren der Frau vermittelt: streng, ordentlich, sauber sitzende Kleidung und Farben direkt aus der Wehrmacht: schwarz und rot, die modernen, zukunftsorientierten Töne des dritten Reiches Wolfensteins.

Poster von Laserflop Supermax aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
Die Werbesprüche hingegen verteilen sich deutlich gleichmäßiger als die Bildmotive auf diese beiden Arten der Anpreisung: “Einfach alle rauchen Wolf” und “Ich wähle Wolf, und sie werden es auch” sprechen beispielsweise nur tangentiell über das eigentliche Produkt, die Zigaretten der Marke Wolf. Der eigentliche Angriffswinkel der Werbesprüche ist die Vermittlung eines Gemeinschaftsgefühls, einer Art zu leben, die nur durch das Kaufen und Rauchen von Wolf-Zigaretten erreicht werden kann. Bildvisuell zeigen die Plakate dennoch nur eine Packung der Zigaretten beziehungsweise eine angezündete Zigarette und das Logo der Marke, bleiben also ohne wirklichen Handlungsvektor.
- Poster von Wolf-Zigaretten aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
- Poster von Wolf-Zigaretten aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
Im Kontrast dazu stehen etwa die Werbesprüche von ‘Super Kraftband’-VHS der Marke AXTO. Sie werden mit Produkteigenschaften beworben: „Schnittfeste und verbesserte magnetische Beschichtung“, das beste Produkt für den intendierten Zweck. VHS-Kassetten zu benutzen ist kein Lebensstil, sie sind ein Werkzeug für eine bestimmte Art Handlung und sollen hierfür maximal effizient und langlebig funktionieren.
- Poster von AXTO-VHS-Kassetten “Kraftband W-180” aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
- Poster vom AXTO-VHS-Kassettenrekorder “Kraftband Einheit” aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
So hart klingt das Regime

Getränk “Schwefel Zoda” aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
Klischees deutscher Schreibweisen oder bestimmter Aussprachemuster des Deutschen, die in entsprechende Buchstaben umgesetzt werden, haben wir bereits im ersten Teil unserer Artikelreihe angesprochen. Sie finden sich auch auf den Plakaten. Auffälligstes wiederkehrendes Muster ist wohl das Z. Das Regime spricht seine S-Laute so hart, aus Soda wird im Markennamen das viel deutschere ‘Zoda’ – natürlich mit Schwefel- statt Kohlensäure. Auch Blitz, das durch den untrennbar mit dem zweiten Weltkrieg verbundenen Begriff Blitzkrieg ins englische Sprachvokabular übergegangen ist, wäre ohne das scharfe Z am Ende kaum so stereotypisch deutsch, wie es gemeinhin wahrgenommen wird. Natürlich findet sich Blitz auch in mehreren Markennahmen Wolfensteins, wie der ‘Blitzhitze 80’ und dem ‘Blitz-Rechner’.
- Taschenrechner “Blitz-Rechner Mini” aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
- Poster der Mikrowelle “Blitzhitze 80” aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
Blitz kann zudem als eine Art superlativer Modifikator gesehen werden, eine Vorsilbe, die anzeigt, dass etwas noch besser oder noch schneller ist. Es funktioniert damit ähnlich wie die Über-Vorsilbe, die im ersten Teil der Artikelreihe besprochen wird. Andere solcher leistungssteigernder Präfixe sind, natürlich, ebenfalls Über-, Super– wie in ‘Supermax’ und Ultra-. Alle in diesem Artikel besprochenen Geräte gibt es bei ‘Übertechnik’ und ‘Ultravideo’ zu kaufen.

Reklameschild “Übertechnik” aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.

Reklameschild “Ultravideo” aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
Sprechende Zahlen
Nicht nur die genutzten Buchstaben und Worte in der Werbung von Wolfenstein: Youngblood ‚sprechen‘, auch bestimmte Zahlen tun das ganz bewusst. Die Ziffern auf den Werbeplakaten in Wolfenstein: Youngblood sind nicht zufällig gewählt. Sie alle sind semantisch stark aufgeladen. In Youngblood ist gerade das Jahr 1980 eingebrochen, der Start eines neuen Jahrzehnts, seit langem ein (arbiträrer, aber emotional-gesellschaftlicher) wichtiger Punkt für den Ausblick in die Zukunft. Die auf den Postern angeworbenen Marken machen sich dies in der Benennung ihrer Produkte zunutze. Die ‘Blitzhitze 80’-Mikrowelle, Kamera ‘Supertrack T-80’, die ‘Stahl 80’-Kassetten und der AXTO ‘KBE 80’ Rekorder nutzen die Zahl des angebrochenen Jahres als Gegenwarts- aber auch als Zukunftsmarker. Da das Jahr 1980 selbst nur ein Aufbruch in die 80er ist, nimmt auch das Produkt mit der Nummer 80 diese Zukunftsperspektive mit und vermittelt eine Zukunftssicherheit. Wer dieses Produkt kauft, der hat mindestens die nächsten 10 Jahre große Freude damit! Der Videokassettenname ‘W-180’ wirkt ähnlich, hier jedoch haben sich die Entwickler*innen noch zusätzlich einen böseren Scherz erlaubt. Zwar könnte 180 auch eine semantisch sinnlose “Steigerungsform” von 80 sein (indem man die Zahl im eine als “größer und damit besser” wahrgenommene Summe 100 ergänzt), wie man es auch bei realen Produkten gelegentlich sehen kann. Hier fällt jedoch eine Parallele zu Neonazi-Rethorik der Realität auf: Das Chiffre 18 steht oft für den ersten und den achten Buchstaben des Alphabets, das A und das H – Adolf Hitlers Initialen, versteckt hinter Nummern. Dasselbe gilt für die Zahlenkombination 88 – HH als Chiffre für den verfassungsfeindlichen Ausruf “Heil Hitler”. Beide Zahlenkombinationen sind auf Nummernschildern in Deutschland verboten, um Neonazis keinen offiziell sanktionierten Auslass ihrer Bekennungen zu bieten (vgl. Harder 2015).
- Poster der Kamera “Supertrack T-80” aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
- Poster der Kassette”Stahl 80″ aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
- Poster der Mikrowelle “Blitzhitze 80” aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
180 kombiniert also das Bekenntnis zum Regime “AH” 18 mit dem Progressionsmarker 80 – Adolf Hitler regiert, auch in den 1980ern. Das ergibt besonders viel Sinn im Kontext der Erzählung und Hintergrundgeschichte von Youngblood, in der sich nach dem Tod Hitlers durch BJ Blaskowiczs Hand zwei Lager unter den Nationalsozialist*innen gebildet haben: Das Hitlers Richtlinien treue traditionalistische dritte Reich und das einen neuen Kurs unter neuer Führung einschlagen wollende vierte Reich. AXTO, die Produktionsfirma von ‘W-180’-Videokassetten, ist also mit einiger Sicherheit hitlertreu und drückt das in ihrem Produktnamen aus – und hat seinen intradiegetischen Sitz wahrscheinlich auch in Berlin, dem verbliebenen Machtzentrum des traditionalistischen dritten Reiches.

Verkaufsautomat der Brezel 2000 aus Wolfenstein: Youngblood. Screenshot: Pascal Wagner.
Eine weitere Zahl, die sich in Werbeslogans finden lässt, ist ‘Brezel 2000’. Auch diesen Trick kennen wir aus Produktnamen der Realität: 2000, der Name des nächsten Milleniums, ist als greifbar naher, aber doch noch weit genug entfernter Zukunftsmarker perfekt, um quasi unendliche Möglichkeiten zu offerieren. Und jetzt einmal ehrlich, wie genial ist denn bitte der Markenname ‘Brezel 2000’?
Dieser Text ist der zweite Teil einer Mini-Serie über die Linguistik von Wolfenstein: Youngblood. Teil 1 findet ihr hier.
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Bibliographie
Harder, Sören. 2015. Nazi-Codes auf Kfz-Kennzeichen: Miese Nummer. Spiegel.de. <https://www.spiegel.de/auto/aktuell/verbotene-kfz-kennzeichen-keine-nazi-nummernschilder-a-1025284.html>
Krämer, Sybille, Cancik-Kirschbaum, Eva & Totzke, Rainer. 2012. Einleitung: Was bedeutet ‘Schriftbildlichkeit?’. In: “Schriftbildlichkeit: Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen”. Hrsg: Krämer, Sybille, Cancik-Kirschbaum, Eva & Totzke, Rainer. Akademie Verlag: Berlin. S. 13-35.
Kress, Gunther & van Leeuwen, Theo. 2006. Reading Images: The Grammar of Visual Design. 2nd Routledge: London, New York.
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