Kunst steht nicht still: Warum die Veränderung das Medium Videospiel ausmacht
Heutzutage sind viele digitale Spiele über ihre gesamte Lebensdauer einem ständigen Wandel ihrer Inhalte unterzogen.
Dieser Artikel erschien zuerst im unabhängigen Printmagazin GAIN, Ausgabe #6, 2018. Wenn er euch gefällt, könnt die aktuelle Ausgabe #7 hier bestellen oder die GAIN abonnieren. Wenn ihr euer Abo über Steady abschließt, helft ihr uns ganz besonders! Disclaimer: Pascal Wagner ist Redakteur und Autor bei der GAIN.
Die erste Fassung dieses Beitrags entstand im Rahmen des Seminars “Abtauchen in ein neues Leitmedium: Schreiben über Videospiele” an der LMU München im Sommersemester 2017 unter der Leitung von Dr. Rudolf Inderst.
Egal, ob ein Spiel als Downloadversion oder auf einem Datenträger erworben wird, oft steht am Tag des Kaufs bereits ein Day One-Patch ins Haus. Dieser behebt teilweise kleinere Fehler im frisch veröffentlichten Werk, fügt jedoch sehr oft auch ganze Spielgebiete, Mechaniken oder Mehrspielerfunktionen erst ins Spiel ein, ohne die sich der Titel überhaupt nicht starten lässt. Durch die weite Verbreitung von wenigstens passablen Internetverbindungen in den Absatzgebieten der Videospielentwickler und -publisher hat sich die Veröffentlichungspraxis der Industrie gewandelt: Davon, ein vollständiges Spiel zum Release bereit zu stellen und nur im Notfall oder nach langer Vorbereitung einen notwendigen Patch zu veröffentlichen, hin zum unfertigen Release, der in der Zeit zwischen Diskpressung und Verkaufsveröffentlichung des Spiels noch hastig fertig programmiert werden kann. Zudem werden Beta-Versionen oft weit vor dem eigentlichen Veröffentlichungsdatum des Titels zugänglich gemacht, und werden in vielen Fällen als sogenannte Early Access-Spiele zum Vollpreis des entsprechenden Titels verkauft. Zum Zeitpunkt dieses Artikels zeigt etwa allein die marktführende Online-Verkaufsplattform Steam fast 3000 Spiele mit dem Label ‘Early Access’ an. Das bietet Entwicklern, gerade kleineren, die Möglichkeit, sich schon während der Entwicklung von Spielern bezahlen zu lassen, und zudem deren Feedback mit in die Entwicklung des Spiels einbeziehen zu können.
Zwischen klassischen Kunstgattungen
An dieser Praxis der Unfertigkeit und Vorabveröffentlichungen wird immer wieder Kritik geäußert. Eines der Hauptargumente dabei ist oft der Kunststatus von Videospielen. Seit 2008 ist der Bundesverband GAME Teil des Deutschen Kulturrates, Videospiele sind damit auf nationaler Ebene bereits seit zehn Jahren als Kunstwerke anerkannt (vgl. Spiele Online 2008). Die diesjährige Fusion des GAME mit dem zweiten Bundesverband BIU zum game als alleinigen Vertreter der Branche (vgl. game 2018) stärkte diese Position nur noch. International ist die Einordnung von Videospielen als Kunst bereits länger wenig umstritten. Doch mit dem Begriff des Kunstwerks ist oft die Vorstellung konkreter Bildnisse verbunden: Gemälde, Skulpturen, Fotografien, Filme. Alles ‘fertige’ Werke, die in einem Endzustand der Welt präsentiert und dauerhaft zur Verfügung gestellt werden. Lediglich Filme brechen diese feste Norm, indem sie gelegentlich lange nach ihrer Erstveröffentlichung neu geschnittene oder anderweitig editierte Versionen in Form sogenannter Director’s Cuts oder Extended Editions zum Kauf anbieten. Durch diese Versionen wird die Erstausstrahlung des Films jedoch nicht verdrängt, der Director’s Cut existiert ergänzend zur Kinofassung. Dennoch wird sie der anderen Fassung oft als eigentliche Vision des Regisseurs vorgezogen. Es ließe sich also argumentieren, dass der entsprechende Film eine Evolution zum Besseren hin erfahren hat. Wer jedoch anderer Meinung ist, dem wird die Möglichkeit, zurück zu gehen und die Kinoversion zu konsumieren, meist nicht vorenthalten.
Auch in der Fotografie und der Malerei sind Vorveröffentlichungen von Bildserien, sogenannten Studien, in temporären Ausstellungen nicht unüblich (vgl. Williams 2014). Wenn deren Bekanntheit auch meist nicht an die Wirkung des finalen Werks heranreicht, so sind sie doch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden und durch Museumskataloge und digitale Galerien oft ebenfalls auf Dauer abrufbar. Mit dem Film The Danish Girl hat solch eine Studie sogar Einzug in die Popkultur gehalten. Darin malt die dänische Künstlerin Lili Elbe wiederholt Landschaften der immergleichen einsamen Bäume. Eines der Bilder dieses Schaffensprozesses ist Poplerne ved Hombro, zu Deutsch “Die ewig einsamen Bäume”. Das reale Bild gilt als Endprodukt jener Studienreihe und wird hoch geschätzt. Es ist ein künstlerisches Meisterwerk, das Elbe erst durch die vorherige Übung schaffen konnte.
Das Problem unarchivierbarer Spielversionen
Ein einsehbarer Entwicklungsprozess ist demnach auch in Teilbereichen des künstlerischen Schaffens fernab von Computerspielen keine Unmöglichkeit. Es ist jedoch unbestreitbar, dass Early Access und Day One-Patches keine Ausnahmen in der Videospielindustrie sind, sondern die üblicherweise angewandte Konvention. Und auch ein in den zuvor beschriebenen Beispielen wichtiger Faktor fehlt den meisten digitalen Spielen beinahe komplett: Die Nachvollziehbarkeit. Die Vorabversionen sind bereits mit dem nächsten Update, spätestens jedoch mit der Vollversion unwiederbringlich verschwunden. Auch die Feinjustierungen und Fehlerbehebungen von Patches lassen sich, einmal aufgespielt, generell nicht mehr rückgängig machen, gerade auch weil die Systeme, auf denen die Spiele gekauft und gespielt werden, diese Updates meistens automatisch herunterladen und installieren.
Wie bedenklich das ist lässt sich am Beispiel von saisonalen Events erklären: Oft haben Videospiele, gerade solche mit Fokus auf Multiplayer und einer aktiven Online-Gemeinschaft an Spielern wie Team Fortress 2 oder Overwatch, bestimmte Inhalte, die nur zu gewissen Zeiten verfügbar sind, wie etwa Weihnachtsmützen im Dezember. Manchmal lassen sich diese Gegenstände, einmal errungen, das ganze Jahr über nutzen. Hin und wieder verschwinden sie jedoch auch nach der angegebenen Zeit und werden erst zur nächsten Weihnachtssaison wieder freigeschaltet. In beiden Fällen können die entsprechenden Inhalte außerhalb dieser Zeitspanne nicht verdient werden. Werden also die Online-Dienste der betroffenen Spiele geschlossen oder der Entwickler entscheidet sich für einen Richtungswechsel bei den angebotenen Inhalten, so sind diese Teile des Spiels dauerhaft unerreichbar. Man könnte sagen, ein Teil des Kunstwerks und damit ein Aspekt der Vision der Künstler geht dabei für alle nachfolgenden Spielenden verloren. Auch von außerhalb der Spielenden-Community, etwa zu archivarischen Zwecken oder um eine Kulturkritik zu produzieren, lassen sich diese Inhalte nicht mehr nachvollziehen. Mit fast allen Updates gehen zwar Patch Notes einher, die die gemachten Änderungen aufführen, der Detailgrad dieser Auflistungen schwankt jedoch von Entwickler zu Entwickler stark und gibt in den seltensten Fällen wirklich genaue Einblicke in die Feinjustierungen der Programmierung.
Durchbrechen konservativer Kunstverständnisse
Es ist vor allem dieser Punkt, der zu der Sorge führen kann, die aktuellen Veröffentlichungspraktiken von Herstellern digitaler Spiele könnten der Anerkennung des Videospiels als Kunstwerk entgegenstehen. Sie basiert auf dem konservativen Verständnis von Kunstwerken, bevor die digitalen Spiele auch als solche anerkannt wurden: Ein einzelnes Etwas als alleinstehendes, für sich sprechendes Werk, dass allenfalls vereinzelte Schritte seiner Entstehung preisgibt, am Schluss jedoch vollendet ist. Es genügt nicht, digitale Spiele in dieses Korsett eines Gemäldes oder einer Skulptur zu zwängen. Viel mehr muss der enge Kunstbegriff hier dahingehend erweitert aufgefasst werden, dass nicht das Endergebnis als Sinn und Zweck des Schaffens anerkannt wird, sondern die gesamte Reise dorthin, also die Zeitspanne, in der ein Videospiel sich entwickelt. Müsste man diese Spanne genauer definieren, so würde man wohl vom Tag des Entwicklungsbeginns bis zum allerletzten Update, und sei dieses die komplette Abschaltung der Spielserver, sprechen müssen. Spätestens ab der Erstveröffentlichung, vielleicht sogar schon ab der Preisgabe eines Trailers wirkt das Werk Videospiel auf die Öffentlichkeit. Diese Wirkung kann durch Veränderung des Spiels verstärkt werden oder, mit einem von der Spielerschaft als nicht gelungen empfundenen Update, schlagartig seine Richtung ändern.
Ein Rückgriff auf analoge Spiele
Dabei können digitale Spiele deutlich eher mit einer Untergattung der Brettspiele verglichen werden als mit Filmen oder Gemälden. Sogenannte Legacy Games, etwa Pandemic Legacy, ändern im Verlauf ihrer Spieldurchgänge die eigenen Regeln, indem sie auf Entscheidungen der Spielenden eingehen und diese mit Aktionen verknüpfen. Dabei werden etwa Spielkarten zerrissen und Felder auf dem Spielbrett überklebt, sodass im nächsten Spieldurchgang völlig andere Umstände gelten. Auf diese müssen Spielende nicht nur reagieren, sie sind ihnen auch deutlicher bewusst, da sie selbst für die Änderung der Spielregeln im vorherigen Durchgang verantwortlich waren. Am Ende dieser Legacy Games stehen oft komplett zerstörte Kartendecks und bis zur Unbenutzbarkeit beklebte Spielbretter, und dennoch erscheint der Gedanke, Pandemic Legacy deswegen nicht als künstlerisches Werk zu betrachten, falsch. Der Änderungsprozess ist hier integraler Teil der Spielerfahrung und damit der Wirkung nach außen. Auf ähnliche Art definieren sich Videospiele wie Warframe oft erst maßgeblich über die Änderungen, die sie erfahren. In solchen Fällen werden mit Updates zwar keine Legacies geschaffen, der Prozess des Wandels zielt jedoch immer darauf ab, das Spiel besser zu machen, als es zuvor war, und im besten Fall dadurch ein ganz neues Spielerlebnis zu schaffen. Sogar die Wirkung gänzlich unveränderter digitaler Spiele kann sich wandeln, wenn die äußeren Umstände der Gesellschaft, in der gespielt wird, Änderungen unterzogen sind. Das Nachholen oder erneute Spielen eines Videospiels der neunziger Jahre kann heute völlig andere Assoziationen wecken als zur Erstveröffentlichung. Beispielsweise etwa, weil bestimmte politische Stimmungen der damaligen Zeit nun nicht mehr reproduzierbar sind oder weil ein zur damaligen Zeit noch fortlaufendes, im Spiel referenziertes weltgeschichtliches Ereignis heute vorbei ist und seine Folgen bekannt sind.
Der Wandel muss also Teil des Kunstbildes sein, in das digitale Spiele eingeordnet werden. Dazu gehört, hinzunehmen, dass Teilaspekte der Spielerfahrung an gewissen Punkten nicht mehr reproduzierbar sein können. Es wäre aus archivarischer wie aus wissenschaftlicher Sicht ideal, wenn die Dokumentation rund um Spiele herum so lückenlos wäre, dass auch das der Informierbarkeit über Spiele keinen Abbruch tut. Doch es nimmt den Videospielen nicht ihren Kunststatus, den Wandel in ihr Dasein zu inkorporieren. Die Lücken im Wissen um den Entwicklungsprozess wie die Erinnerung an das Vergangene können im Gegenteil einen wichtigen Teil der Wirkung des Kunstwerks digitales Spiel ausmachen und seine Interpretation unterstützen.
Dieser Artikel erschien zuerst im unabhängigen Printmagazin GAIN, Ausgabe #6, 2018. Wenn er euch gefällt, könnt die aktuelle Ausgabe #7 hier bestellen oder die GAIN abonnieren. Wenn ihr euer Abo über Steady abschließt, helft ihr uns ganz besonders! Disclaimer: Pascal Wagner ist Redakteur und Autor bei der GAIN.
Die erste Fassung dieses Beitrags entstand im Rahmen des Seminars “Abtauchen in ein neues Leitmedium: Schreiben über Videospiele” an der LMU München im Sommersemester 2017 unter der Leitung von Dr. Rudolf Inderst.
Bibliographie
game. Zusammenschluss von BIU und GAME: Gemeinsamer Verband vertritt ab sofort die Interessen der gesamten deutschen Games-Branche. 29.01.2018. Aufgerufen am 19.08.2018. (https://www.game.de/blog/2018/01/29/zusammenschluss-von-biu-und-game-gemeinsamer-verband-vertritt-ab-sofort-die-interessen-der-gesamten-deutschen-games-branche/)
Spiegel Online. Jetzt offiziell: Computerspiele sind Kultur. 14.08.2008. Aufgerufen am 19.08.2018. (http://www.spiegel.de/netzwelt/spielzeug/jetzt-offiziell-computerspiele-sind-kultur-a-572152.html)
Williams, Christopher G. The Art of the Unfinished: Early Access Games and Other Works in Progress. 20.08.2014. popmatters.com. Aufgerufen am 19.08.2018. (https://www.popmatters.com/184922-the-art-of-the-unfinished-early-access-games-and-other-works-in-prog-2495626006.html)
Ludographie
No Man’s Sky. 2016. Entwickler/Publisher: Hello Games. Plattform: PC/PS4/XBox One.
Overwatch. 2016. Entwickler/Publisher: Blizzard Entertainment. Plattform: PC/PS4/XBox One.
Pandemic Legacy Season 1. 2015. Designer: Daviau, Rob, Leacock, Matt & Quilliams, Chris. Publisher: Z-Man Games. Aufgerufen am 19.08.2018. <https://www.zmangames.com/en/products/pandemic-legacy-season-1/>
Warframe. 2013. Entwickler/Publisher: Digital Extremes. PLattform: PC/PS4/XBox One.