Brauchen wir ein verpflichtendes Archiv für digitale Spiele?
In dieser Woche hat die große ROM- und Emulatorseite Emuparadise.me angekündigt, all ihre archivierten digitalen Abbilder von Videospielen nicht mehr herunterladbar zu machen und offline zu nehmen. Folgendes Zitat stammt aus der Mittwoch, dem 08.08.2018 veröffentlichten Ankündigung EmuParadise is Changing:
It’s not worth it for us to risk potentially disastrous consequences. I cannot in good conscience risk the futures of our team members who have contributed to the site through the years. We run EmuParadise for the love of retro games and for you to be able to revisit those good times. Unfortunately, it’s not possible right now to do so in a way that makes everyone happy and keeps us out of trouble.
This is an extremely emotional decision for me after running this site for so many years. But I believe it is the right thing for us at this point of time.
Thus, we have decided to make a new start. We will continue to be passionate retro gamers and will keep doing cool stuff around retro games. But you won’t be able to get your games from here for now. Where we go with this is up to us and up to you.
Grund für die Abschaltung des digitalen Videospiel-Archivs ist das Vorgehen von Publisher Nintendo, rechtliche Schritte gegen die Betreiber Emulatorseiten einzuleiten. Juristisch gesehen ihr gutes Recht: Nintendo hält die Urheber- und Markenrechte für einen sicherlich nicht unwesentlichen Prozentsatz der auf EmuParadise angebotenen Spiele. Was EmuParadise und andere ROM-Seiten tun, ist demnach medienrechtlich illegal. Selbst, wenn sich die Klage bisher nur gegen einige ROM-Archive und vielleicht nur gegen den Nintendo-Teil des Archivs richten würde, so ist die Entscheidung, die gesamte Sammlung offline zu nehmen, verständlich. Eine Klage gegen die Betreiber von EmuParadise sowie Folgeklagen durch Sega, Capcom oder andere Publisher, deren Spiele auf EmuParadise vertreten waren, sind dadurch zumindest verhinderbar.
Die Archivierungsmaßnahmen der Hersteller reichen nicht aus
Für das Vorhaben, digitale Spiele der Vergangenheit dauerhaft zu archivieren und möglichst für immer verfügbar zu halten, ist die Situation jedoch eine ernste. Der Großteil der archivierten Spiele galt als sogenannte Abandonware: Lizenzen, die durch zahllose Unternehmensänderungen, Aufkäufe, Insolvenzen und menschliches Versagen niemandem mehr gehören und die daher niemals wieder kommerziell veröffentlicht werden können. Und solche, die zwar noch eindeutig einem Publisher zugeordnet werden können, die jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit dennoch niemals wieder spielbar gemacht werden, da es unwirtschaftlich wäre. Nur der kleinste Teil der noch eindeutig zuzuordnenden Spiele wird dauerhaft verfügbar gehalten. So bietet immerhin SEGA diverse Genesis-Spielekollektionen zum Kauf an. Währendessen hat Nintendo seine Virtual Console genannte eigene Emulation hingegen weder für die neueste Konsolengeneration auf der Switch verfügbar gemacht, noch dafür gesorgt, frühere Virtual Consoles auf Dauer weiter anzubieten. Erst dieses Jahr ging der Wii-eShop offline, wodurch ca 20 Emulationen, die nicht auf die Nachfolgerkonsole Wii U geportet wurden, verloren gingen. Wie lange es dauern wird, bis die Switch einen ähnlichen Service erhält und dafür die Wii U-Storefront abgeschaltet wird, lässt sich nur vermuten.
Dass diese Spiele nun Gefahr laufen, durch die Abschaltung von immer mehr ROM-Archiven der Öffentlichkeit irgendwann für immer verloren gehen, ist aus kulturgeschichtlicher Sicht katastrophal. Insbesondere, da wir uns bei digitalen Spielen nicht auf analoge Archive verlassen können. Wie Heather Alexandra auf Kotaku ausführt, sind die frühesten Modelle von Spielmodulen bereits jetzt an ihrer Altersgrenze angelangt und werden auf lange Sicht dauerhaft unbenutzbar werden. Auch die ersten CDs und DVDs nähern sich bereits dem Ende ihrer angedachten Lebenszeit. Eine digitale und vor allem mehrfach gesicherte Speicherung der Spieldaten scheint also die einzige Möglichkeit zu sein, dem Verlust entgegenzuwirken. Bisher übernahmen die userbetriebenen ROM-Archive diese Funktion, wenn auch oft nur neben ihrem eigentlichen Anliegen, möglichst alle Spiele kostenlos auf dem Computer spielbar zu machen. In dieser Funktion werden die Archive wohl auch heute noch zum größten Teil genutzt, sei es von armen Spielern, die sich das Hobby sonst nicht leisten könnten, oder von solchen, die vielleicht auf Grund ihres Alters noch keine Gedanken an die Finanzierung von Kunst verschwenden. Doch das Bewusstsein für den nötigen Schutz von digitalen Spielen ist in den letzten Jahren bei vielen Mitgliedern der Videospielcommunity ebenso gewachsen, wie der Wille zum Kauf eben jener Spiele. Sicher haben daran die Preisverfälle bei digitalen Downloads, nicht zuletzt durch die Sale-Offensiven von Plattformen wie Steam ihren Anteil. Und auch die offiziellen Emulationen, seien es die aufpolierten PS2-Spiele in Sonys PlayStation Network oder in schicke Gehäuse verpackte Kurationen wie beim C64 Mini oder SNES Classic erfreuen sich großer Beliebtheit. Wie groß der Verlust ist, den Videospiel-Publisher und Entwickler durch die Existenz von frei verfügbaren Emulatoren und Abbildern ihrer Spiele machen, lässt sich unmöglich sagen. Sicher ist nur: Trotz ROM-Angebot ist der entsprechende Markt vorhanden, und gerade in den letzten Jahren lukrativer als je zuvor.
Lässt sich das juristische Modell der Pflichtabgabe von Büchern adaptieren?
Auch in anderen Medien ist der dauerhafte Erhalt möglichst aller Werke relevant. Manchmal sogar so relevant, dass die Archivierung zur Staatssache erklärt wird. In Deutschland regelt das Gesetz über die deutsche Nationalbibliothek die Archivierung aller seit 1913 jemals im Staatsgebiet herausgegebenen Bücher, Filme und Musikstücke, gedruckt und gepresst wie digital. Diese sogenannten Pflichtabgaben, oft auch als Pflichtexemplare bekannt, werden auf Landesebene an die entsprechend zuständige Außenstelle der Deutschen Nationalbibliothek abgetreten. So müssen etwa von jedem in Bayern veröffentlichten Buch, Film und Musikalbum zwei Exemplare an die Bayerische Staatsbibliothek in München abgegeben werden – seien es nur als eBook verfügbare Erotikromane, Splatterfilme, Opernaufzeichnungen oder gedruckte Dissertationen, sofern sie eine gewisse, sehr kleine Auflage übersteigen. An diesem System gibt es durchaus auch Kritik – während eine physische Abgabe zweier Exemplare für große Verlage und Labels kein Problem darstellt, kann sie für kleinere Verleger oder bei besonders teuren Sonderdrucken äußerst ärgerlich sein. Diese Kritik entfällt bei digitaler Abgabe, etwa als eBook, durch die grenzenlose Kopierbarkeit natürlich vollkommen. Und gerade hier wäre der Ansatz auf die Archivierung der digitalen Versionen von Videospielen übertragbar. Dies beträfe damit vor allem die oben diskutierten ROMs als digitale Abbilder von Spielen der Vergangenheit, aber auch aktuelle und zukünftige Spiele. Vor den gleichen Lizenzgründen, wie sie einer Neuveröffentlichung von Retrospielen im Weg stehen, sind schließlich auch aktuellere Titel nicht sicher: So musste kürzlich erst Musik aus mehreren GTA-Spielen per Patch entfernt werden, da deren Lizenz ausgelaufen war, und Remedy Entertainments Alan Wake ist aus demselben Grund überhaupt nicht mehr erwerbbar.
Wie eine solche Pflichtabgabe realisierbar wäre, ist dabei wohl die spannendste Frage. Eine Erweiterung der Pflichtklausel des Bibliotheksgesetz, die ja bereits für Buch, Film und Ton gilt, wäre absolut denkbar. Wenn alle in einem Land veröffentlichten (also nicht nur die dort produzierten, sondern auch die dorthin lokalisierten) digitalen Spiele per Pflichtabgabe in ein nationales Archiv eingelagert werden könnten, dann würde das vermutlich beide Seiten der Debatte ausreichend zufrieden stellen können. Ein nach Bibliothekslizenzen für jeden zugängliches Archiv, dass Spiele auf Anfrage verleihen darf, wäre unschätzbar wertvoll für die Kulturgeschichte und alle Forscher, die sich mit digitalen Spielen befassen. Gleichzeitig wäre eine solche Verfügbarkeit beschränkt genug, um den Verkauf der gleichen Software weiterhin lukrativ zu halten. Da sich eine solche gesetzliche Regelung niemals global, sondern maximal national treffen ließe, wären für den vollständigen Erhalt der Videospielgeschichte natürlich mehrere ähnliche Entwürfe in vielen Ländern nötig. Allen voran wären ähnliche Regelungen sicherlich in Japan und China wertvoll, von deren Gebiet zahllose digitale Spiele niemals in andere Märkte lokalisiert oder überhaupt nur verfügbar gemacht werden.
Als Anbieter von Kulturgut sollten Publisher auch Pflichten haben
Welche Meinung man zum Einsatz von Archiven, seien sie offiziell oder nicht, beim Erhalt von digitalen Spielen hat, hängt oft mit der Wahrnehmung von Spielen als Produkt oder Kulturgut zusammen. Dass Kulturgüter wie Bücher archiviert werden und nach einer gewissen urheberrechtlich geregelten Zeit in die öffentliche Domäne fallen und frei genutzt und verbreitet werden können, leuchtet den meisten Menschen ein. Doch digitale Spiele werden noch deutlich öfter als Marke und Unterhaltungsprodukt wahrgenommen als als kultureller Beitrag. Entwickler und Unternehmen dazu zu zwingen, ihr Produkt öffentlich zugänglich zu machen und dafür bis zu einem gewissen Grad auf Profit zu verzichten, stößt aus dieser Perspektive auf deutlich weniger Verständnis. Hiervon heißt es jedoch, sich zu lösen. Wie auch bei Büchern, Filmen, Musik- und Theaterstücken müssen wir digitalen Spielen und deren Entwicklern die gleichen Rechte und Pflichten gewähren und auferlegen, wenn uns der Status von Spielen als künstlerisches Gut wichtig ist. Institutionell befinden wir uns längst auf diesem Weg. So ist das Spiel zumindest nominell bereits seit 2008 als Kunstwerk anerkannt, und erst diese Woche wurde gar die Sozialadäquanzklausel von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zur Nutzung von verfassungswidrigen Symbolen in Kunstgütern auf digitale Spiele ausgeweitet. Videospielpublisher mit den Buchverlegern, deren Equivalent sie nun einmal sind, bei der Pflicht zur kulturhistorischen Archivierung ihrer Werke auf eine Stufe zu stellen, würde diesen Kurs nur konsequent weiterverfolgen.