The Parallax: Unzuverlässiges Erzählen und die literarische Parallaxe
Ein Beitrag zu den Interactive Fiction Days von Julia Krokoszinski.
Als letzter Überlebender einer Zombieapokalypse versucht David Blythe seit Tagen verzweifelt, Kontakt zur Außenwelt herzustellen. Als einziger Ansprechpartner ist der Spieler in diesem futuristischen Mystery-Textadventure die letzte Bastion des Totgeweihten. Doch wie im echten Leben spiegeln Textnachrichten nicht immer zwangsläufig die Realität wieder, denn sie sind vor allem das Produkt subjektiver Wahrnehmungen. Wie viel von dem, was David uns über sich und seine Welt erzählt, können wir tatsächlich glauben?
The Parallax ist ein interaktives Textadventure, das sowohl für Android als auch für iOS im jeweiligen App-Store zum kostenlosen Download zur Verfügung steht. Urheber und kreativer Kopf der Geschichte um den verlorenen David Blythe ist der deutsche Indie-Entwickler Dennis Nicholas Perzl, der sein Interactive-Fiction-Projekt erstmals im Dezember 2016 in die weite Welt entließ. Inzwischen besitzt das Mobile Game ganze elf Episoden (die zwölfte erscheint schon bald), insgesamt zwei Staffeln und knapp 30.000 5-Sterne-Bewertungen im Google Play Store, wo es bereits über 500.000 Mal heruntergeladen wurde. Ein guter Erfolg, wenn man bedenkt, dass das Projekt zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung noch niemand kannte.
Doch wie funktioniert The Parallax eigentlich? Was macht die Anziehungskraft aus, die begeisterte Spieler immer wieder zu David zurückkehren lässt, als sei er tatsächlich eine verlorene Seele, derer man sich unbedingt annehmen muss? Die kurze Antwort lautet wohl: Weil wir es mit einem wahnsinnig guten Storytelling und einer natürlichen, glaubhaften Figurenzeichnung zu tun haben. Etwas ausführlicher erklärt beginnt die Bindung zwischen Spieler und Figur schon in den ersten Minuten, in denen bereits der einfachste und zugleich effektivste Trick des Geschichtenerzählens seinen Anfang nimmt: Wir werden direkt angesprochen und persönlich involviert. Wenn David uns erklärt, dass er geglaubt hat, bis vor kurzem der letzte Überlebende einer epidemischen Zombieseuche gewesen zu sein und wir seit langem die letzte menschliche Seele sind, mit der er in Kontakt treten konnte, können wir uns unserem eigenen Pflichtbewusstsein nicht mehr so recht entziehen. Die Art, wie er sich ausdrückt, scheint so modern, so natürlich und fließend zu sein, dass wir den schleichenden – natürlich vollkommen hinfälligen – Zweifel nicht loswerden, er könnte mehr sein als nur ein paar virtuelle Zeilen Text mit einem zugehörigen Avatar.
Das Ein-Mann-Problem in The Parallax
Zu Beginn der interaktiven Geschichte bleiben wir deutlich auf Davids Perspektive limitiert. Schließlich sind wir darauf angewiesen, dass David uns mit seinen Nachrichten auf dem Laufenden hält. Alles was er uns berichtet, von dem was er sieht bis hin zu dem, was er fühlt, ist strikt auf die subjektive Sicht des Protagonisten beschränkt. Je tiefer wir in die Geschichte hineinrutschen, desto deutlicher wird uns dieser Umstand: David wird launisch, reagiert auf manche Nachrichten patzig oder mal gar nicht, manchmal übertreibt er absichtlich oder verwickelt uns in von Sarkasmus nur so triefende Gespräche. Punkt um: In seinen Schreibgewohnheiten und Gefühlsausbrüchen ähnelt er einem echten Menschen auf geradezu unheimliche Weise (bis vielleicht auf die Tatsache, dass jede seiner Nachrichten orthographisch absolut perfekt formuliert ist). Doch genauso, wie jeder einzelne von uns eine eigene Meinung und eine eigene Wahrnehmung besitzt, die uns die Welt nach eigenem Maßstab messen lassen, ist auch Davids Welt in seiner Weise eingefärbt: Da wir nicht die Möglichkeit besitzen, mit eigenen Augen zu sehen, was David ›sieht‹ (sofern er das als fiktionale Figur denn kann), sind wir natürlich auf das angewiesen, was er uns zu sagen hat.
Dass das nicht immer der Wahrheit entsprechen muss, wird uns spätestens dann klar, wenn wir das erste Mal eine Nachricht von einer ganz anderen Person als David auf dem Schirm haben. Im Verlauf der einzelnen Episoden werden so immer mehr Nebenschauplätze eröffnet, die sich zeitlich gesehen vor, nach oder während Davids ›Echtzeit‹-Chat mit uns ereignen. Wie Echos aus einer längst vergangenen Zeit erhalten wir Nachrichten von Catherine, einer Wissenschaftlerin, die im Zusammenhang mit den SH311 steht, von Chris oder Anne, Davids Freunden, und vielen weiteren, die uns jeweils eine ganz eigene Perspektive auf die Geschichte eröffnen und sich Mosaikteilchen für Mosaikteilchen miteinander zu einem großen Ganzen verbinden. Seltsam nur, wenn sich die Aussagen der anderen plötzlich nicht mehr mit denen von David decken – oder wenn er sich, wie in Episode 2 – ganz plötzlich selbst widerspricht: Spätestens dann wird man als Spieler kurz innehalten und sich fragen, wie viel wir unserem Protagonisten wirklich glauben können.
Vom unzuverlässigen Erzählen
In der Literaturwissenschaft gilt das Stilmittel des sogenannten »Unzuverlässigen Erzählens« als ein Sonderfall des Erzählens, bei dem nach Bode (2011)1 dem Lesenden Gründe geliefert werden, dem Erzählenden und dem Erzählten zu misstrauen. Nun, da wir uns hier im Bereich des Interactive Fiction bzw. des Textadventures bewegen – und es damit mit einer Hybridform zwischen Text und Spiel zu tun haben –, lassen sich auch hier literaturwissenschaftliche Phänomene wie das unzuverlässige Erzählen beobachten. Die Zweifel an den Behauptungen des Erzählers, bei dem es sich nach Ansgar Nünning (1999)2 oft um einen homodiegetischen oder autodiegetischen Erzähler handelt – also um einen Ich-Erzähler, der oft auch noch die Hauptfigur ist – stellen auch die Glaubwürdigkeit, jeder weiteren Aussage seitens der Erzählinstanz infrage. Oder kurz: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Ist die Saat des Misstrauens einmal gesät, ist sie kaum noch auszureißen. In der Literatur funktionieren solche Misstrauen erweckenden Unstimmigkeiten oft durch die direkte Hinwendung des Erzählers an den Leser – im Falle Davids erübrigt sich dies allerdings, da das Spiel ja ausschließlich in seiner dialogischen Form zwischen (Haupt-)Figur und Leser/Spieler funktioniert. Als Motivation für textinterne Unstimmigkeiten im Rahmen des unzuverlässigen Erzählens lassen sich drei unterschiedliche Möglichkeiten ausmachen:
- 1. Die Verzerrung des Wiedergegebenen aus der Retrospektive beziehungsweise aus einer größeren zeitlichen Distanz heraus (Busch 1998)3
- 2. Die Wahrnehmung des Erzählers ist im Augenblick des Erzählvorgangs selbst verzerrt (Busch, 1998)
- 3. Der bewusste Täuschungsversuch bzw. das absichtliche Verzerren der zu erzählenden Ereignisse
Gemessen an diesen drei Möglichkeiten des unzuverlässigen Erzählens weißt sich David regelmäßig als ein solcher aus. Fragen wir ihn nämlich beispielsweise an einer Stelle nach seinem Crush, erzählt er uns kurzerhand, dass er glaubt, sie mal nach ihrer Nummer gefragt zu haben, sich aber dann doch nicht getraut habe, ihr zu schreiben. Im nächsten Satz revidiert er seine Aussage durch ein lapidares »Vielleicht aber auch nicht.« und lässt uns mit unserer Wunsch-Version seiner Geschichte im Dunkeln zurück. Nun könnte man einerseits behaupten, dass es sich hierbei ganz klar um die erstgenannte Form des unzuverlässigen Erzählens handelt – der Verzerrung des Wiedergegebenen aus einer zeitlichen Distanz heraus –, schließlich scheint die Begegnung mit seiner Flamme schon eine ganze Weile her (oder?) und es könnte ja durchaus der Wahrheit entsprechen, dass sich unser Protagonist schlicht und ergreifend nicht mehr erinnert. Dennoch lässt uns seine plötzliche Unsicherheit aufhorchen: Welcher Mensch, der noch recht klar bei Verstand ist, weiß nicht mehr, ob er seinen Crush nach seiner/ihrer Nummer gefragt hat oder nicht? Schließlich handelt es sich dabei nicht umsonst um einen ersten wesentlichen Schritt in Richtung Kennenlernen und an den würde man sich, selbst wenn nichts aus der Bekanntschaft entstanden ist, auch noch nach Jahren erinnern. So etwas weiß man doch einfach. Oder?
In diesem Moment beginnt die Saat des Zweifels Wurzeln zu schlagen und die Spekulationen beginnen: Haben wir es hier mit einem frühen Fall von Demenz zu tun oder weiß David wirklich einfach nicht mehr, ob er sie nach ihrer Nummer gefragt hat oder nicht? Hätte er einen Grund es zu verschweigen? Und wenn ja, welchen? Oder ist er vielleicht einfach nur nicht bei Sinnen?
Das seltsame Ausbrechen des Protagonisten aus gängigen Verhaltensmustern generiert eine merkwürdige Spannung, die einen von diesem Moment an dauerhaft begleitet. Gepolt darauf, jede Ungereimtheit im Verhalten Davids zu bemerken und innerlich zu protokollieren, erwartet man jeden Moment weitere Auffälligkeiten und bleibt am Ball. Im Moment bleiben wir jedoch noch gelassen: Es könnte sich auch einfach nur um einen Ausrutscher gehandelt haben. Doch dann…
erfahren wir wenig später die mögliche Ursache für sein Gedächtnisversagen: Er wird verrückt. Oder so ähnlich. Aus Angst vor ausgehenden Lebensmitteln und einem damit verbundenen Bärenhunger machen wir uns auf den Weg zum Schrebergarten, von dem sein Freund Chris uns kurz vorher in einem anderen Chatverlauf berichtet hat hat. Schließlich soll er dort Obst und Gemüse angebaut haben – und da wenig Chance besteht, dass die SH311-Zombies plötzlich zu Vegetariern mutiert sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dort noch genug Vorräte zu finden. Was wir nicht ahnen können ist, dass David beim Anblick der üppigen Auswahl an Lebensmitteln wohl ganz eindeutig den Verstand verliert.
Entweder das, oder er hat diverse sinneserweiternde Mittelchen zu sich genommen, ohne uns etwas zu erzählen, denn fußballgroße Tomaten und Äpfel so schwer wie Bowlingkugeln erscheinen uns nicht besonders glaubwürdig. Wieder entbrennt im Spieler ein innerer Monolog: Kann das möglich sein? SH311 sind schließlich auch irgendwie entstanden, warum sollten Pflanzen dann nicht auch auf sonderbare Weise mutieren? Aber David verhält sich ohnehin schon seltsam – vielleicht ist er krank? Hat Halluzinationen? Oder steht er unter Drogeneinfluss? Wurde er gebissen? Sind das die Symptome?
Wieder bildet die Unsicherheit um die Glaubwürdigkeit unseres Protagonisten das Zentrum unserer Überlegungen und generiert dadurch eine geradezu greifbare Spannung. Ob David die Wahrheit sagt, oder ob er sich im Delirium befindet und dadurch zu einem unzuverlässigen Erzähler des Typus 2 wird, wie wir ihn zuvor definiert haben, werde ich an dieser Stelle offenlassen – ich denke aber doch, dass es als Beispiel genügt, um zu beweisen, dass Davids Glaubwürdigkeit auch hier eindeutig in Frage gestellt wird.
Ähnlich wie in unserem dritten und letzten Beispiel. Noch bevor wir den merkwürdigen Garten betreten, erhalten wir eine dieser merkwürdigen Nachrichten aus der Vergangenheit. Davids Freund Chris meldet sich und berichtet von einem Gartenprojekt, das er gerade erst vollendet haben will, und bittet uns – in diesem Fall bittet er wohl eher David, denn er spricht uns mit dessen Namen an – ihn in besagtem einmal zu besuchen. Dass diese Nachricht aus der Vergangenheit stammen muss, scheint uns sofort klar, denn zum jetzigen Zeitpunkt glauben wir Davids Worten, dass er wahrhaftig der letzte und absolut einzige Überlebende der Katastrophe ist. Wir berichten ihm also kurzerhand von der Nachricht, schließlich vertrauen wir ihm und er würde uns doch auch über so etwas in Kenntnis setzen – und stellen fest, dass er sich plötzlich ganz merkwürdig aufführt.
»Was hast du noch bekommen?«, fragt er. Merkwürdig. Sollten wir noch mehr bekommen haben? Weiß er von den Nachrichten? Was weiß David, das wir nicht wissen? Gibt es etwas, das wir nicht wissen sollen? Dann fragt er nach ›seinen‹ Nachrichten.
Weil sein Verhalten erneut Formen annimmt, die wir von ihm nicht gewohnt sind, fühlen wir ihm auf den Zahn und fragen ihn, ob wir darin etwas erfahren hätten, was wir nicht wissen sollten. Doch statt einer ausführlichen, freundlichen Antwort versucht er, uns mit einem kurz angebundenen »Ne ne.« abzuspeisen – gefolgt von einer nicht ganz so gelungenen Ablenkung.
An dieser Stelle finden wir das unzuverlässige Erzählen unseres Protagonisten also ein weiteres Mal mitten in unser Gesicht geklatscht. Während wir nur ein paar Spielstunden vorher noch voll davon überzeugt waren, dass David unser neuer, uns alles erzählender Freund sei, erleben wir hier erstmals, dass er aktiv etwas vor uns verheimlicht. Wir erleben, dass er vielleicht doch nicht so durchschaubar ist, wie wir dachten, dass er Geheimnisse hat und uns vielleicht nicht immer so offen die Wahrheit sagt, wie bisher angenommen. Davids Charakter erscheint uns plötzlich in einem anderen Licht: Er wird zu einer dreidimensionalen Figur mit eigenen Intentionen und legt damit endgültig sein Amt als zuverlässiger Erzähler nieder. Nach unserer Definition erweist er sich nun als unzuverlässiger Erzähler des Typus 3: Derjenige, der seinem Publikum mit voller Absicht Informationen vorenthält oder sie verfälscht.
Die Parallaxe
Dass David deutliche Schnitzer in seine eigene Glaubwürdigkeit macht, fällt in etwa mit einer seltsamen Häufung fremder Nachrichtenverläufe zusammen, die uns aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erreichen. In ihnen finden wir nicht nur Hinweise auf Davids Vergangenheit, sondern auch auf die Entstehung der SH311 und den Beziehungen verschollener Personen. Während wir David also in der Gegenwart folgen, lesen wir also parallel die Vorgeschichte zu alldem – und erhalten zusätzlich merkwürdige Tipps von einer unbekannten, fremden Partei, die uns kontinuierlich vor Gefahren warnt, denen David begegnen könnte und uns schwören lässt, für sein Überleben zu sorgen.
All diese zusätzlichen Stimmen bieten uns einen geeigneten Gegenpol zu dem, was wir an Subjektivität aus Davids Aussagen herauszufiltern gezwungen sind. Nun sind wir in der Lage, viele der Informationen, die er uns gibt, mit denen gegen zu checken, die wir über die unterschiedlichen Absender und Echo-Nachrichten erhalten. Während David beispielsweise an einer Stelle davon überzeugt ist, dass die Tankstelle verlassen und dadurch sicher ist, bekommen wir von Unbekannt den Tipp, dass dort Gefahr droht. Verglichen mit dem Medium des Films sind die fremden Perspektiven wie unterschiedliche Kameraeinstellungen, die dem Zuschauer bzw. Spieler mehr verraten, als dem eigentlichen Protagonisten der Geschichte. Wir sind nicht mehr länger auf Davids Perspektive beschränkt und gezwungen, ihm alles zu glauben, sondern können uns ein eigenes Bild von der Lage machen, die Glaubwürdigkeit der einzelnen Personen gegeneinander abwiegen und uns letztendlich entscheiden, wem wir Glauben schenken wollen.
Und hier kommt nun der Titel ins Spiel: The Parallax beschreibt den im deutschen gleich heißenden Begriff der »Parallaxe«. Der wiederum beschreibt ein Phänomen aus der Physik, bei dem sich ein Objekt durch die Umpositionierung seines Betrachters scheinbar verschiebt. Man kann diese optische Täuschung sehr einfach an sich selbst beobachten: Zuerst streckt man seinen Arm mit dem Daumen nach oben von sich weg. Dann schließt man das rechte Auge und betrachtet den Daumen mit dem linken, schließt dann das linke Auge und betrachtet den Daumen mit dem rechten – auf diese Weise sieht es so aus, als würde der Daumen seine Position ändern, bloß, weil sich die Perspektive geändert hat. Erst die Verwendung beider Augen führt zum gewünschten Ergebnis und der Ermittlung seiner echten Position.
So viel zur Physik, aber was bedeutet das jetzt für uns? Das ist relativ einfach. Das unzuverlässige Erzählen in The Parallax und die Nachrichten unterschiedlicher Nebencharaktere stehen unübersehbar miteinander in Verbindung und führen zu dem, was man im übertragenen Sinne als Parallaxe verstehen könnte: Der Ermittlung der richtigen Position. Betrachten wir Davids Erzählungen allein, also nur mit einem einzigen Auge, sind wir gezwungen uns auf seine Worte zu verlassen, auch wenn diese nicht immer zu einhundert Prozent glaubwürdig sind – wir haben schließlich keinen Gegenbeweis. Erst durch das Hinzufügen einer oder mehrerer Perspektiven erhalten wir ein relativ genaues Bild von der Situation und sind in der Lage zu entscheiden; ob wir jedoch die richtige Entscheidung treffen, hängt dann nur noch davon ab, wie gut wir zielen können (um die Metapher des Zielens an dieser Stelle noch einmal aufzugreifen). Denn Verfehlen können wir auch dann noch, wenn wir glauben, die Situation voll und ganz durchschaut, das Ziel genaustens erfasst zu haben.
Zombieapokalypse, aber mit Stil
Um auf die Sache mit dem unzuverlässigen Erzählen zurückzukommen: Ohne diese Form des Erzählens würde uns der Grund fehlen, unserem Protagonisten zu misstrauen. Damit ginge nicht nur eine große Menge an Spannung verloren, es würde uns auch den Impuls nehmen, die ganze Geschichte kritisch zu hinterfragen und ins Spekulieren zu geraten. Und das macht das Genre des Mystery – oder vielleicht auch jede andere gute Geschichte – aus, oder nicht? Dass man involviert wird und die Geschichte genug hergibt, um unsere Gedanken auch dann noch ins Rotieren zu bringen, wenn wir den Bildschirm längst beiseitegelegt haben. Zusätzlich sorgt David als unzuverlässiger Erzähler dafür, dass er selbst sich aus der Position des einfachen, linearen Erzählers in eine dreidimensionale Figur verwandelt, die vom Spieler als Person und aktiver Dialogpartner ernstgenommen werden kann. Und schließlich führt sein Mangel an Glaubwürdigkeit dazu, dass der Spieler für die Perspektiven anderer Figuren im Spiel sensibel und dazu angeregt wird, die unterschiedlichen Positionen miteinander zu vergleichen, um sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen und ihn tiefer in die Geschichte zu involvieren. The Parallax ist damit also nicht nur eine wahnsinnig spannende Geschichte über einen Mann, verloren in einem von Zombies bevölkerten Land, sondern auch ein äußert geschickt konzipiertes, sprachliches Kunstwerk.
Über die Autorin:
Julia Krokoszinski aka Goldfuchs studiert zurzeit ihren Master im Fach »Deutsche Philologie« an der Universität Wien und ist nebenbei als freiberufliche Lektorin und Journalistin für unterschiedliche Magazine wie Volume.at und Computerwelt.at tätig. Auf ihrem Gamingblog »Goldfuchs Plug’n’Play« hält sie ihre Leser täglich über aktuelle Spiele und Nachrichten aus der Gaming-Branche auf dem Laufenden, und rezensiert auf ihrem Bücherblog »Die Bücherfüchsin« die neusten Titel des Jugendbuch- und Fantasy-Genres. Schreiben tut sie also irgendwie den ganzen lieben-langen Tag.
- Bode, Christoph: Der Roman. Eine Einführung. 2. erweiterte Auflage. Tübingen/Basel: Francke, 2011.
- Nünning, Ansgar: Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: Unreliable Narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Hrsg. von Ansgar Nünning. Trier: WTV, 1998. S. 3-40.
- Busch, Dagmar: Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähl- theoretisches Analyseraster. In: Unreliable Narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Hrsg. von Ansgar Nünning. Trier: WTV, 1998. S. 41-58.
Superspannender Beitrag! Mich hat der Titel direkt neugierig gemacht, weil ich an der Uni einem ein Referat gehalten habe, das unter anderem zum Inhalt hatte, wie über die Messung der Paralaxe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts u.a. durch Bessel erstmalig die Entfernung eines Sterns zur Erde mit großer Exaktheit bestimmt wurde. Das fand ich ziemlich faszinierend und ich denke es ist eine tolle Idee, dieses physikalische Phänomen auf subjektive Erzählperspektiven zu übertragen.
Das Folgende ist zugegeben recht kleinlich, aber das Beispiel mit dem linken und dem rechten Auge ist eigentlich kein besonders gutes. Die meisten Menschen haben, ebenso wie sie eine stärke Hand haben, nämlich auch ein “stärkeres” Auge, und zwar in dem Sinne, dass der Daumen bei Benutzung dieses stärkeren Auges an der selben Stelle bleibt wie bei der Verwendung beider Augen. Damit stimmt es zwar, dass wir Entfernungen mittels einer Art von Parallaxenberechnung bestimmen, aber eine in dem Sinne “echt Position” des Daumen können wir auch mit beiden Augen nicht sehen.
Hey ich bin schon länger ein begeisteter spieler von The Parallax ich wollte mich hier mal für den tollen beitrag bedanken. Er spiegelt das spiel wieder und weckt das interesse vieler menschen The parallax ist leider noch relativ unbekannt ich habe es jedoch in meinem freundeskreis weiter empfohlen und mehrere andere menschen dazu geholt. danke das ist das auch mit euren beiträgen macht !