Tell Me More – Wie digitale Spiele jenseits von Dialogen Geschichten erzählen (können)
Ein Beitrag zu den Interactive Fiction Days von Christina Kutscher.
Wenn Spiele etwas können, dann ist es Grundlegendes so zu verpacken, dass es innerhalb des Mediums revolutionär wirkt. Als wäre Erzählen nie da gewesen, als hätten wir Geschichten immer nur auf eine Art und Weise kommuniziert, als wäre jedes andere Medium nicht halb so potent wenn es um Narrative geht wie das der digitalen Spiele. Das ist natürlich grober Unfug. Erzählen ist elementar. Es ist unser Werkzeug Sinn zu stiften, die Welt zu erfahren und durch Sprache selbst Abstraktes und Unerfahrbares zu artikulieren. So ist es nicht verwunderlich, dass digitale Spiele das Erzählen neu erfinden wollen und facettenreiche Methoden entwickelt haben, um eben dies zu tun. Zum großen Leidwesen aller, die nun die narratologische Offenbarung erwarteten, beschränkt sich Erzählen in Spielen jedoch meist auf Dialoge und zunehmend cineastische Zwischensequenzen, die eine Handlung vorantreiben, welche zwischen den Sequenzen im besten Fall marginal erwähnt wird und im schlimmsten Fall nicht mit den gespielten Ereignissen zu vereinbaren ist. Es gibt aber auch Beispiele, die die Möglichkeiten interaktiver Fiktion aufzeigen und innerhalb des Mediums, das von Passivität und Partizipation gleichermaßen lebt, neue Möglichkeiten des Erzählens erschließen. Hier soll es um eben solche Spiele gehen, die neuartige Wege des Erzählens aufzeigen – oder diese zumindest besonders einfallsreich wiederverwerten.
Wenn Spielende zu Erzählenden werden
Where the Water Tastes Like Wine (2018), das nach Angaben des Entwicklers Johnnemann Nordhagen trotz guter Kritiken kein kommerzieller Erfolg war, versetzt Spielende in die Rolle eines Reisenden, der durch Amerika streift und Geschichten unterschiedlichster Menschen hört und weitererzählt. Mit jeder Reaktion auf diese Erzählungen verändert er die Geschichte ein wenig und erzählt sie später weiter. So reisen die Story-Vignetten durch Amerika. Entsprechend kann es passieren, dass ein vollkommen neuer Charakter, dem der Reisende später begegnet, die Geschichte in einer neuen Version aufgeschnappt hat und nun selbst weitererzählt. Eine der größten Inspirationen für das Spiel war neben der Geschichte Amerikas die Folklore. Die Diversität der Geschichten und Menschen des Landes spiegelt sich in den Charakteren und folglich in den erzählten Geschichten im Spiel wieder. Zusätzlich legt Where the Water Tastes Like Wine den Fokus auf das Erzählen als Praxis – immerhin geht es darum, das wahre Ich einer Person mithilfe der Geschichten zu ermitteln und die Erfahrungen und Eindrücke einer Reise zu vermitteln. Wie ginge das besser als in einer Erzählung?!
Dass sich jede Erzählung je nach Rezipient und Erzähler ändert, beweist nicht zuletzt Bohemian Killing (2016) von The Moonwalls. Im Paris des späten 19. Jahrhundert, der wohl populärsten Epoche für Detective Stories, geschieht ein Mord und der Protagonist wird angeklagt. Um sich nun vor der Guillotine zu retten, muss er die Ereignisse der tragischen Nacht rekonstruieren. An dieser Stelle übernehmen Spielende die durchaus schwierige Aufgabe, eine Nacht zu erleben, die mit Zeugenaussagen und Beweisen vereinbar ist, aber letztendlich nicht mit dem Mord endet. Entsprechend der vielen Indizien, die gegen den Angeklagten sprechen, gibt es mehrere mögliche Enden – die Guillotine ist eines davon. Bohemian Killing präsentiert ein dynamisches Spiel, das von der Autarkie der Spielenden zehrt. Die Instabilität der Erzählung, auf die Spielende aktiv Einfluss nehmen können, verdeutlicht nicht nur die Subjektivität, sondern auch den partizipatorischen Faktor interaktiver Fiktion.
Erzählen zwischen passiver Anteilnahme und aktiver Selbstreflektion
Weniger ausufernd, aber nicht minder dramatisch präsentiert What Remains of Edith Finch (2017) von Giant Sparrow, wie das Medium das Gameplay als Teil des Plots instrumentalisieren kann. Während die Protagonistin, Edith Finch, das nun verlassene Haus ihrer Familie erkundet und in den Räumen der verstorbenen Familienmitglieder deren Lebensgeschichte nachstellt, utilisiert das Spiel diverse Texte, beispielsweise Tagebücher, Comichefte und Briefe, aber auch Fotografien und Gemälde. Diese Texte werden zu Zeitmaschinen, die Spielende in die Welt des jeweiligen Familienmitglieds transportieren und dessen letzte Momente erfahrbar machen. Die Rezeption eines Textes wird somit als Erfahrung dargestellt. Bereits diese Neuinterpretation der Mimesis, also der Nachahmung, ist interessant: das Spiel nutzt nicht nur visuelle und narratologische Mittel, sondern lässt Spielende die Handlung tatsächlich nachahmen. Edith ist folglich weniger die klassische Spielfigur, sondern Katalysator für die Rahmenhandlung. Die interne Fokalisierung erlaubt es, ihren Gedanken zu lauschen, die das Gezeigte kommentieren und Spielenden den Zugang zur Spielwelt, der Familie, ermöglichen. Dass die Geschichten der Familienmitglieder in Analepsen und anachronistisch erzählt werden, erweckt den Eindruck eines Blicks von außen und schafft zwischen den einzelnen Episoden immer wieder Distanz zwischen Geschehen und Spielenden.
What Remains of Edith Finch verbindet die Geschichte mit dem Gameplay – nicht zuletzt, weil die Handlungen der Spielenden die Handlungen der Figuren imitieren, beispielsweise wenn man die Geschichte von Ediths Bruder Lewis spielt: Mit dem linken Analogstick müssen weiterhin monoton Fische von links nach rechts geschoben werden, während man mit dem rechten Analogstick in der fantastischen Gedankenwelt von Lewis unterwegs ist. Durch das Minimum an Selbstständigkeit und die extrem lineare Darstellung der Ereignisse der Rahmenhandlung fühlt sich What Remains of Edith Finch noch mehr an wie eine Reise, auf der man das Ziel nicht kennt, wie sich in seinen eigenen Gedanken zu verlieren, wie ein extrem langes Déjà-vu, das fremd wirkt und doch Erinnerungen hervorruft.
Im Gegensatz zur deutlichen Analogie zwischen Geschichte und den Handlungen der Spielenden in What Remains of Edith Finch spielt Don’t Kill Her (2016) mit der Diskrepanz zwischen Plot und dem Gezeigten. Es soll um den Mord an einer alten Dame gehen, welcher laut Spielbeschreibung schon geschehen ist, laut Titel allerdings noch verhindert werden kann. Die Geschichte ist also weitaus düsterer als die Bleistiftzeichnungen erahnen lassen. Inwiefern nun das Gameplay dort hinein spielt, wird hier nicht verraten, dass die Widersprüchlichkeit jedoch beabsichtigt ist und eine ganz eigene Geschichte erzählt, betont Entwickler Wuthrer mehrmals. Spielende lassen die niedliche Figur über schwebende Blöcke hüpfen, an fantastischen Wesen vorbei fliegen und lösen kleinere Rätsel in einer Welt, die nichts Böses erahnen lässt.
Wie viel bleibt Spielenden verborgen?
Ähnlich abstrakt werden die Bilder in Stories Untold (2017) von No Code genutzt, um Ereignisse zu suggerieren statt sie explizit darzustellen. Spielende sitzen wahlweise vor einem Computer, Funkgerät oder Instrumenten, deren Funktion unbekannt ist, drücken Knöpfe, führen Befehle aus. In drei scheinbar unzusammenhängenden Episoden scheint es zunächst um die beschriebenen Tätigkeiten selbst zu gehen (das Spielen eines Textadventures, das Bedienen seltsamer Gerätschaften, um etwas zu untersuchen und das Entziffern von chiffrierten Botschaften in der Arktis). Als konditionierte Interpreten denken Spielende irgendwann, einen Plot zu erkennen, eine Idee, auf die das Spiel hinaus will.1
Tatsächlich offenbart erst die vierte Episode, worum es eigentlich geht. Sie fungiert als klassische Auflösung, fast schon als Katharsis für die bis zu dieser Stelle durch wild blinkende Lichter und plötzliche Ohnmachtsanfälle traumatisierten Spielenden. Hier offenbart sich die Metaebene von Stories Untold: Es geht um die Wahrnehmung eines Individuums, die sich an Erinnerungen und äußeren Einflüssen orientiert, durch eine schwere Kopfverletzung des Protagonisten allerdings verzerrt wird. Charakter und Spielende versuchen parallel einen Sinn hinter den fragmentierten Eindrücken zu finden und sich die Zusammenhänge zu erschließen. Assoziationen führen die Geschichte dabei in eine ganz andere Richtung und führen letztendlich auch zu den Trugschlüssen der Spielenden. Tatsächliche Begebenheiten werden aus subjektiver Perspektive dargestellt, unbewusst werden Schemata und Konzepte angewendet, die die Wahrnehmung beeinflussen. So arbeitet Stories Untold viel mit Manipulation und Andeutungen, wird selten explizit und stellt bloß, wie wir als Spielende die Erzählungen hinnehmen (müssen) und dem ausgeliefert sind, was das Spiel zeigt – sei es nun kryptisch wie in Stories Untold oder scheinbar offensichtlich wie in Final Fantasy 9.
Final Fantasy 9 (2000) von Square Soft ist erst einmal ein klassisches JRPG mit typischem Plot, der Kreaturen unterschiedlichster Klassen und Herkunft vereint, den ersten Bösewicht nach zahlreichen Stunden mit dem eigentlichen Todfeind ersetzt und Spielende eine fantastische Welt bereisen lässt. Neben der vordergründigen Geschichte, in der es um Machtmissbrauch und Weltherrschaft geht, werden Themen wie Identitätssuche, Freundschaft, Loyalität und Selbstbestimmung besprochen. Allerdings verlässt sich Final Fantasy 9 dabei hauptsächlich auf Dialoge. Die musikalische Untermalung ist subtil, offenbart aber Details zu Orten, Charakteren und Ereignissen, wenn man nur genau hinhört. Analog zum Antagonisten Kuja entwickelt sich sein Theme weiter. Jedes Mal, wenn er auftaucht oder die Handlung Parallelen zu seinen Machenschaften verdeutlichen möchte, wird sein Lied gespielt. Ein anderes Leitmotiv ist die Melodie aus dem Opening Theme von Final Fantasy 9, die im Theme der Hochburg Ipsen wieder aufgegriffen wird, einem Ort, den die Charaktere später besuchen. Es ist ein nuancierter Hinweis auf die Bedeutung der Burg, deren Hintergrundgeschichte der Geschichte des Spiels ähnelt.
Mehr als Dekor
Zu guter Letzt bedienen sich digitale Spiele der Umgebung, um Geschichten zu erzählen. Eine elaborierte Umwelt dient nicht nur der Erschaffung einer glaubwürdigen Atmosphäre zugunsten der Immersion, sondern kann auch das einzige Mittel sein, mit dem Spiele etwas kommunizieren. So ist zum Beispiel Future Unfolding (2017) von Spaces of Play eine meditative Erfahrung, die Spielende in einer phantasmagorischen Welt sich selbst überlässt. Was hier passiert, wo es lang geht, wie man dorthin kommt und was das Spiel darüber hinaus erreichen möchte, bleibt unbeantwortet – doch darauf kommt es auch gar nicht an.2 Auch Shape of the World von Hollow Tree Games will das Gefühl eines Spaziergangs ohne Ziel zelebrieren, das sich verlaufen ohne wirklich verloren zu sein. Sowohl Future Unfolding als auch Shape of the World überlassen es dank zufällig generierten Orten den Spielenden ihre eigenen Geschichten zu erschaffen, Sinn zu stiften anhand der Flora und Fauna, die die Wege der Spielenden kreuzen. Es gibt keine Geschichte, die sich aufdrängt, ob es überhaupt eine gibt, steht Spielenden frei zu entscheiden. Gegeben ist nur ein unmittelbarer Blick auf die Fantasiewelt und die Möglichkeit, sich diese Welt anzueignen.
Vielleicht ist es ein nostalgisch-vernebelter Blick auf Spiele, vielleicht ein wohlwollender oder romantisierter – doch Erzählen in digitalen Spielen kann viel mehr sein als das Zeigen standardisierter Cut Scenes oder eben stereotypische Dialoge. Die Immersion muss nicht gebrochen, der Spielfluss nicht unterbrochen werden, um eine Geschichte zu erzählen, was die obigen Beispiele hoffentlich verdeutlicht haben. Sei es der kreative Einsatz der Steuerung, die Implementierung unerwarteter Mechaniken oder weitaus weniger differenzierte Elemente, wie musikalische Untermalung und Details, die Spielende in der fiktiven Welt entdecken können. Erzählen ist in diesem Medium auf diverse Arten möglich und über Genregrenzen hinweg so omnipräsent wie potent.
Über die Autorin:
Christina Kutscher studiert British and American Cultures: Texts and Media in Hamburg. Nebenbei ist sie als Medienpädagogin tätig und schreibt für Lost Levels und Gameplane.de über Indiespiele. Twitter
- Anm. d. Red.: In ihrem Beitrag zu den Interactive Fiction Days hat sich Sophie Bömer mit der Erzählweise des Horrors in Stories Untold befasst: (https://languageatplay.de/2018/06/26/stories-untold-als-horror-hommage-an-interactive-fiction/)
- Anm. d. Red.: Über die Art des Erzählens in Future Unfolding haben wir bereits hier auf Language at Play geschrieben: (https://languageatplay.de/2017/06/25/wie-future-unfolding-involviert-und-erzaehlt/)