»Someone breathes on your neck. Standing over you.« Stories Untold als Horror-Hommage an Interactive Fiction
Ein Beitrag zu den Interactive Fiction Days von Sophie Bömer.
Wird von Horrorgames gesprochen, drängt sich häufig zuerst die Vorstellung von einem verlassenen, verfallenen Haus bei Nacht auf, vielleicht sogar von einem Kranken- oder Herrenhaus. Bevölkert wird es von Geistern, Monstern oder Mördern und alles, was man als Spielfigur besitzt, ist eine Taschenlampe, die hilft sich durch die Dunkelheit zu tasten. Dass sich Horror aber auch in einem wesentlich reduzierteren Setting entfalten und einen das Grauen lehren kann, beweist das Episoden-Spiel Stories Untold von No Code (2017). Für die erste Episode The House Abandon wird im Spiel nichts weiter benötigt als ein an den Commodore 64 erinnernder Heimcomputer, eine flackernde Lampe und Familienfotos.
Doch wie soll so ein Horrorspiel überhaupt funktionieren? Die Antwort darauf liefert ein Genre, das auf den Entstehungsbeginn von digitalen Spielen verweist: das Textadventure oder die Interactive Fiction. Ältere Jahrgänge werden sich vielleicht noch an die Spielereihe erinnern, die dieses Genre in den späten 80ern am meisten prägte: Zork (Infocom, 1980-1982). Dieses Spiel und auch andere dieser Art bestehen vollständig aus textuellen Beschreibungen der Umwelt. Es gibt keinerlei Grafiken oder Bewegungsmöglichkeiten durch einen wie auch immer gearteten visuellen Avatar, sondern nur Schrift. Die einzige Möglichkeit, überhaupt mit dem Spiel zu interagieren, sind eingetippte Befehle. So stellt der Beschreibungstext für gewöhnlich ein bestimmtes Set an Gegenständen oder Umgebungen zur Verfügung, mit der die spielende Person dann durch Befehle wie Go, Look, Use, Take oder auch Open interagieren kann.
Stories Untold greift genau auf diese Mechaniken zurück und kombiniert sie mit einer grafisch ansprechenden Oberfläche, die das Genre auch für jüngere Generationen zugänglicher macht. Aber dies ist sicherlich nicht ihre einzige Funktion. Während sich auch hier die Interaktionsmöglichkeiten mit dem Spiel hauptsächlich auf Eingaben mit der Tastatur beschränken, so geht das Feedback des Spiels über das bloße Triggern neuer Textpassagen weit hinaus. Denn die textuelle, visuelle und auch auditive Ebene stehen bei Stories Untold in engem Zusammenhang, sodass sich ein enges Netz aus atmosphärischem Horror um Spieler*innen spinnt. Dabei wird weitestgehend auf Jump-Scares verzichtet und vielmehr der Schwerpunkt auf die Vorstellungskraft und tiefsitzende Ängste gelegt. Beispielhaft sei dafür meine Spielerfahrung mit der ersten Episode von Stories Untold betrachtet.
Diese fängt bereits mit einem besonderen narrativen Kniff an, denn ich spiele ein Spiel im Spiel. Ich steuere also meinen Avatar dabei, wie dieser ein Textadventure namens The House Abandon spielt. Der Inhalt des Textadventures wiederum ist es, ein verlassenes Haus zu betreten und ein von dem Vater dort hinterlassenes Geschenk einzusammeln. Im weiteren Verlauf stelle ich fest, dass das Haus verlassen und verfallen ist – also doch nicht so weit entfernt von dem, was eine typische Horrorerzählung ausmacht. Die Beschreibungstexte halten zwar die Balance zwischen ausreichender Beschreibung der Umgebung und genug Raum, um meine Vorstellungskraft zu aktivieren, sodass ich mein ganz eigenes Horrorhaus vor Augen habe. Jedoch entwickeln die Texte ihre volle Wirkung erst im Zusammenspiel mit den Ereignissen außerhalb der Interactive Fiction.
Wenn zunächst nur der Textinhalt betrachtet wird, dann wird weniger durch die Beschreibung des Hauses ein Eindruck davon vermittelt, sondern vielmehr durch Äußerungen wie »You can’t stand to be near this place.«, »The kitchen […] feels completely unfamiliar.« oder »There is no love here.«. Sie drücken eine tiefsitzende Abscheu des namenlosen Protagonisten in The House Abandon gegenüber diesen Ort aus, wodurch die reduzierten Beschreibungen des Verfalls verstärkt werden. Somit wird bereits durch den Text eine Stimmung gesetzt, die durch seltsame Ereignisse noch um einiges an Bedrohlichkeit zunimmt. Dies ist der Punkt, an dem sich die audiovisuelle Außenperspektive auf den Bildschirm in Stories Untold mit den Ereignissen im Textadventure vermischt und sich beide Ebenen gegenseitig beeinflussen.
Ein Beispiel: Auf den Hinweis des Textadventures, dass irgendwo im Haus ein Wecker klingle, beginnt zur gleichen Zeit der Wecker auf dem Bildschirm, auf dem das Textadventure gespielt wird, zu klingeln. Aber anstatt dass der Protagonist durch den Befehl »stop alarm« den Alarm selbst beendet, hört er im Textadventure scheinbar von allein auf und so auch der Alarm des Wecker auf dem Bildschirm.
Ereignisse wie diese werden immer wieder im Spiel eingestreut, sodass sich mit jeder neuen Situation der Eindruck aufdrängt, dass sich der Protagonist des Textadventures nicht nur nicht allein in dem verlassenen Haus befindet, sondern dass sich sogar mein Avatar im gleichen Haus befindet und ich als Spielerin auf verwinkelte Art und Weise beide Figuren spiele. Die Beklemmung, die sich aus dieser Vermutung ergibt, vermischt sich mit der Verwirrung, wer hier nun eigentlich der Eindringling, wer der Fremde im Haus ist. Es ist eine subtile Form des Grauens, die mir langsam den Nacken hinauf kriecht und mich beim Spielen unwillkürlich dazu bringt auf Geräusche zu lauschen und über die Schulter zu schauen, um zu überprüfen, ob ich gerade wirklich alleine vor meinem Computer sitze. Es ist ein Grauen, das mich bei ähnlichen Ereignissen im Spiel (einem Telefon, das klingelt; Schritten auf der Treppe; einem Scharren an der Tür) zögern lässt, einen Befehl einzutippen und Enter zu drücken, aus Angst davor, was ich vielleicht sonst noch über die andere Person (mich, meinen Avatar, den anderen Protagonisten?) erfahren könnte oder ihr gar zu begegnen.
In einer anderen, späteren Episode von Stories Untold ist es außerdem möglich, den Avatar durch Gänge zu steuern, ganz in der Manier eines Walking Simulators. An dieser Stelle befindet er sich in einem Krankenhaus, in dem die Flure dunkel und leer sind. Ich lenke ihn ohne ein richtiges Ziel durch die Gänge, nur um des Fortschritts willen, und lande schließlich mit ihm in einem dunklen Warteraum. Während die unheimliche Musik im Hintergrund neben dem Setting bereits das nötige beklemmende Gefühl vermittelt, um Furcht zu erregen, wird das Grauen durch die Einblendung eines einzigen Satzes noch gesteigert. »The waiting area is dark, but you feel a presence right behind you.« Nach dem Lesen trage ich als Spielerin einen Kampf mit mir aus, der sich aus tief sitzenden Ängsten ergibt. Schaue ich mich um, um dann wirklich jemanden hinter mir stehen zu sehen? Oder richte ich meinen Blick weiter nach vorne, auch auf die Gefahr hin, gleich von jemandem von hinten angesprungen zu werden? Nur wenige Schritte weiter wird die zuvor noch wage Aussage weiter konkretisiert. »Someone breathes on your neck. Standing over you.«
Basierend auf dieser einfachen Aussage muss ich mich umdrehen und zwar nicht nur im Spiel, sondern auch in der Realität. Das Kribbeln in meinem Nacken ist so mächtig, dass ich mich ihm nicht entziehen kann. Ich muss mich vergewissern, allein zu sein.
Während also im ersten Beispiel die textuelle Ebene noch die Rolle der Einstimmung gespielt und die visuelle und auditive Ebene darum herum den tatsächlichen Horror ausgelöst haben, ist es im zweiten Beispiel genau umgekehrt. Hier treibt der Text das zunächst nur unheimliche Gefühl auf die Spitze und lässt es zum Grauen werden. Auf diese Art und Weise hält Stories Untold stets die Waage zwischen der gängigen Umsetzung von Horror in kontemporären digitalen Spielen und dem Genre des Textadventures, das es inzwischen in seiner Reinform nur noch selten gibt, dem aber auch eine völlig eigene Art des Horrors innewohnt. Daraus entsteht ein Spiel, das aufbauend auf Genre-Konventionen und einer vermeintlich ›alten‹ Spielmechanik eine einzigartige Spielerfahrung bietet, die der Erfahrung von Horror in AAA-Spielen wie zum Beispiel Dead Space (Visceral Games, 2008) in Nichts nachsteht.
Über die Autorin:
Sophie Bömer ist seit 2013 Studentin an der Philipps-Universität Marburg und befindet sich derzeit in ihrem Master in Medienwissenschaften. Obwohl sie sich selbst nicht unbedingt als eingefleischte Spielekennerin bezeichnen würde, hat sie dennoch Freude daran, sich (auf wissenschaftliche Weise) mit Videospielen aller Art auseinanderzusetzen. Dieser Leidenschaft geht sie in erster Linie als Autorin bei Pixeldiskurs und als Co-Host des Pixeldiskurs-Podcasts nach. Folgt ihr bei Twitter unter coralunda oder Pixeldiskurs.
Behandeltes Spiel:
Stories Untold. 2017. Entwickler: No Code. Publisher: Devolver Digital. Plattform: PC/Mac.
Eine Antwort
[…] vor allem in seinem ersten Kapitel nutzt, um Spieler*in und Spielfigur gleichermaßen anzusprechen: »Someone breathes on your neck. Standing over you.« Amon Oberhofer, gerade mal kurz vor der Jahrtausendwende geboren, setzt sich seit Anfang 2018 auf […]