Playing by the Books? Ludonarrativer Ungehorsam und die Open World der Fabled Lands
Ein Beitrag zu den Interactive Fiction Days von Sylvio Konkol.
1. Einleitung
Kaum ein Videospiel-Blockbuster kommt heutzutage ohne das Versprechen einer »vast open world« aus – einer ausgedehnten, offenen Spielwelt also, innerhalb derer sich die Spieler*innen weitestgehend frei bewegen und ihre Herausforderungen nach eigenem Gutdünken wählen können. Dass der Siegeszug der Open World, wie wir sie heute kennen, zu einem entscheidenden Teil im Erfolg von Grand Theft Auto III aus dem Jahr 2001 begründet liegt, lässt sich dabei kaum leugnen. Lassen wir den Blick allerdings weiter in die Vergangenheit schweifen, wird offensichtlich, dass das Konzept einer offenen Spielwelt fast so alt ist wie das Medium selbst, und dass es vor allem Rollenspiele wie die Ultima-Reihe und The Elder Scrolls waren, die schon früh die Open World mit interaktivem Storytelling und einem großen Maß an Handlungsfreiheit paarten. Dass diese Kombination ihren Reiz bis heute nicht verloren hat, zeigt der Erfolg von Titeln wie The Witcher III und Skyrim. Weniger bekannt ist hingegen, dass diese Entwicklung sich analog auch im medialen Nischen-Genre der sogenannten Adventure-Gamebooks vollzog und Bücher dieser Art schon in den 1990ern mit komplexen Open World-Konzepten experimentierten.
Der vermutlich ambitionierteste Vertreter solcher Open World-Gamebooks hört auf den Namen Fabled Lands und war ursprünglich auf zwölf Bände angelegt, von denen 1995/96 allerdings nur sechs tatsächlich erschienen sind. Die von den Briten Dave Morris und Jamie Thomson verfasste Reihe erblickte somit sogar noch vor The Elder Scrolls II: Daggerfall das Licht der Welt, hat mit Bethesdas Rollenspiel aus dem Jahr 1996 aber vieles gemeinsam: So steht im Mittelpunkt dieser Spiele nicht länger die Erfüllung eines vorbestimmten Schicksals, sondern eine Welt, die erkundet werden möchte, sowie die Spielfigur selbst, die ihre eigenen Fähigkeiten entfalten darf und deren Weg von den Spieler*innen bestimmt wird. Ein potentiell endloses, individuelles Abenteuer – so lautete das Versprechen in beiden Fällen.
Doch während digitale Open World-RPGs wie Daggerfall und Interplays Fallout Erfolge feierten und ihr Genre in der zweiten Hälfte der 1990er nachhaltig veränderten, kam Fabled Lands zu einer Zeit, als die goldene Epoche der Adventure-Gamebooks eigentlich schon vorbei war. Das schlug sich in der verhaltenen Rezeption der Reihe nieder. Denn obwohl Fabled Lands das Genre um eine Fülle von Innovationen bereicherte, bliebt der Erfolg aus, sodass die weiteren sechs Bände, die in den noch nicht enthüllten Kontinenten einer fiktiven Welt spielen sollten, weder veröffentlicht noch auch nur geschrieben wurden. Nichtsdestotrotz gelang der Reihe über den Verlag Ravensburger auch der Sprung nach Deutschland, wo die Bücher unter dem Namen Sagaland (in Anlehnung an das populäre Brettspiel, obwohl weder inhaltlich noch spielerisch Gemeinsamkeiten bestehen) und in relativ prächtiger, großformatiger Aufmachung in den Handel kamen. Allerdings nur vier der sechs Bände, die überdies einige spielmechanisch kritische Übersetzungsfehler enthielten.
Erst seit 2010 ist die Fabled Lands-Reihe im Taschenbuchformat erneut auf Englisch erhältlich; kurze Zeit später erfuhr sie auch auf Deutsch eine Neuveröffentlichung. Unter dem Titel Legenden von Harkuna sind inzwischen alle sechs Bände in neuer Übersetzung erschienen. Die Absicht der Autoren, im Falle eines Erfolges auch die nie realisierten, weiteren sechs Bände in Angriff zu nehmen, verlief dagegen zunächst im Sand, einer iOS-Portierung war ebenfalls kein langes Leben beschert, und ein Pen & Paper-Rollenspiel auf Basis der Welt der Fabled Lands hat das Rad nicht neu erfunden. Umso erstaunlicher, das kürzlich nun doch ein siebter Band vollendet und veröffentlicht wurde – finanziert über Kickstarter, verfasst von Paul Gresty, auf Grundlage der Notizen und mit dem Segen der Originalautoren – und, wie zu hören ist, wohl sehr gelungen.
Doch bevor wir uns den Abenteuern auf blutroten Meeren und in endlosen Steppen stellen, blättern wir noch einmal zurück – übrigens die geläufigste Form des Cheatens in Adventure-Books. Was ist ein Adventure-Book eigentlich? Derartige, auch als Choose-Your-Own-Adventure-Books oder (Abenteuer)-Spielebücher bekannten Bücher erlebten den Höhepunkt ihrer Popularität in den 1980ern. Im Unterschied zu gewöhnlichen Romanen sollten die Spieler*innen hier die Aktionen des Helden mitbestimmen und so ihr ganz persönliches Abenteuer erleben können, ohne dass es dazu eines Spielleiters oder einer Hardware bedurfte. Üblicherweise setzen sich Adventure-Gamebooks dazu aus einigen hundert Kapiteln oder Textpassagen zusammen, die in nicht-chronologischer Reihenfolge, mit fortlaufenden Zahlen versehen abgedruckt sind. Gewöhnlich enden die einzelnen Textpassagen mit der Wahlmöglichkeit aus zwei oder mehr Handlungsoptionen, an der sich entscheidet, bei welcher Textstelle im Buch die Leser*in weiterlesen muss. Kämpfe und andere Prüfungen in der Spielwelt werden in der Regel mit ein oder zwei sechsseitigen Würfeln ausgefochten, ähnlich wie bei Pen & Paper-Rollenspielen, aber meist weniger komplex. Dass die Entwicklung der Adventure-Gamebooks dabei auch in enger Wechselwirkung mit der Geschichte digitaler Games stattfand, kann man etwa im lesenswerten Kapitel zu Interactive Storytelling in Steven Pooles Buch Trigger Happy nachlesen. Beispielsweise waren die beiden Begründer der einflussreichen Fighting Fantasy-Reihe später bei Eidos (Ian Livingstone) und Lionhead (Steve Jackson) tätig.
2. Die Open World der Fabled Lands
Die Geschicke des Helden bestimmen und ein »eigenes« Abenteuer erleben können – dies ist das Versprechen der meisten Gamebooks, das in der Praxis aber nur selten eingelöst wurde. Die Gründe dafür, wie Steven Poole sie darlegt, unterscheiden sich nicht grundlegend von denen, die auch in digitalen Spielen einer wirklich interaktiven Story im Wege stehen. Entsprechend entpuppen sich die meisten Adventure-Books bei genauerem Hinsehen als ziemlich lineare Angelegenheiten, in denen es in Wahrheit kaum möglich ist, ein individuelles Abenteuer zu erleben, sondern vielmehr »nur« darum geht, die von den Autoren erdachte Geschichte »erfolgreich« abzuschließen. In den meisten Gamebooks bewegen wir uns durch eine Abfolge sich verzweigender Korridore, die überdies nur die Fortbewegung in eine Richtung erlauben. Das bedeutet, früher oder später sind wir am Ende des Buches und unserer Quest angelangt, vorausgesetzt, dass wir auf dem Weg dorthin nicht das Zeitliche segnen.
Im Gegensatz dazu bewegen wir uns in der Welt der Fabled Lands durch ein ein komplexes Netz hunderter querverbundener Orte und Ereignisse, die grundsätzlich in beliebiger Reihenfolge und Richtung besucht werden können – und das sogar über mehrere Bände der Reihe hinweg. Den Büchern gelingt auf diese Weise eine eindrucksvolle Illusion einer offenen Spielwelt, die mit den digitalen Open Worlds unserer Zeit erstaunlich viel gemeinsam hat und die es schafft, das Versprechen eines wirklich einzigartigen, eigenen Abenteuers weitestgehend einzulösen. Ferner kontrollieren wir in Fabled Lands keinen vordefinierten Helden, noch sind wir gezwungen einer Haupt-Quest zu folgen. Wir beginnen unser Abenteuer als gesichtsloser Niemand ohne Vergangenheit – ein formloser Abenteurer, der abseits seiner Zugehörigkeit zu einer von sechs Klassen keinen individuellen Hintergrund mitbringt. Und der, ein ungenanntes Ziel vor Augen, Schiffbruch erleidet, seiner Besitztümer beraubt an eine Küste gespült, und schließlich in die Obhut der Spieler*in übergeben wird. Von diesem Moment an liegt es ganz bei uns, in welche Richtung wir uns wenden, welche Orte wir besuchen, und nach welchen Schätzen wir streben.
Eine derart offene Spielstruktur führt zwangsläufig zu der Frage, wie sich so etwas wie Fortschritt oder eine Handlung entwickeln kann. Auch in Bezug auf »gewöhnliche« Gamebooks argumentiert daher auch Steven Poole im oben genannten Text: »To keep the numbers manageable, very many sections of story in these gamebooks are shared by different plotlines. Yet, if an episode can be reached by means of several different previous ones, there is no way it can ever refer to its past – say what particular road the reader took to get there. You end up with a species of story that is totally amnesiac, that has no sense of its own history.«
Diese Behauptung tut aber auch traditionellen Gamebooks Unrecht: Schon dort gab es durchaus die Möglichkeit, auf vorangegangene Ereignisse Bezug zu nehmen. Einerseits mithilfe einzigartiger Items, die an einer späteren Stelle im Spiel sozusagen als Beleg dafür dienen, dass an einem früheren Punkt ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat, andererseits durch das einfach Befragen der Spieler*in: »Wenn du dem Tatsu schon im Forst der Schatten begegnet bist, weiter bei 144. Wenn nicht, geht es weiter bei 156«, heißt es etwa in Das Schwert des Samurai von Mark Smith und Jamie Thomson. Im Falle eines dezidiert als endlos konzipierten Open World-Gamebooks ist auf das Erinnerungsvermögen der Spieler*in allerdings nicht mehr zu vertrauen, und auch dem Einsatz von Quest-Items sind Grenzen gesetzt, da das Spieler*inneninventar in diesem Fall schon bald enorme Ausmaße annehmen würde. Die Autoren der Fabled Lands lösen das Problem der Rückbezüglichkeit schließlich auf eine Weise, die auch im Programmcode digitaler Spielmechaniken abläuft, mit Wenn/Dann-Anweisungen, mit Schaltern sozusagen. Diese Schalter tauchen in Fabled Lands in drei Formen auf:
1. Schalter in Form von questgebundenen Gegenstände sind in Fabled Lands vergleichsweise selten. Die allermeisten Gegenstände, die das Inventar des Spielers bereichern, sind Ausrüstungs- oder Verbrauchsgegenstände oder lassen sich an unterschiedlichen Punkten der Spielwelt einsetzen, in den meisten Fällen auch einfach kaufen oder verkaufen. Gelegentlich gibt es sie aber doch, die Quest-Items. Den abgetrennten Kopf eines Ghouls etwa, der nach dem Besiegen seines Besitzers in unser Inventar wandert, und der schließlich beim nächsten Aufeinandertreffen mit unserem Auftraggeber nicht nur narrativ, sondern auch spielmechanisch als Beleg dient, dass wir besagten Ghoul tatsächlich schon getötet haben – woraufhin wir an einer speziellen Stelle im Buch weiterlesen dürfen, an der wir eine entsprechende Belohnung erhalten.
2. Die vermutlich häufigste Form der Schalter in Fabled Lands sind allerdings Checkboxen und dienen vornehmlich dazu festzustellen, ob ein bestimmtes, einmaliges Ereignis vom Spieler bereits erfahren wurde. Gelangen wir etwa an Passage 619 im ersten Band, so werden wir zunächst gefragt, ob das zur Passage gehörende Kästchen bereits abgehakt wurde. Wäre das der Fall, so würden wir direkt an Abschnitt 339 verwiesen. Beim ersten Besuch wird die Box allerdings leer sein, sodass wir der Aufforderung folgen, die Box nun abzuhaken und danach direkt hier weiterzulesen. Wir werden nun mit einem brennenden Haus konfrontiert und können entweder heldenhaft zu Hilfe eilen oder einfach weitergehen. Wie wir uns auch entscheiden, die Box wurde abgehakt, sodass wir bei einem späteren Besuch desselben Stadtviertels direkt zu Abschnitt 339 weiterspringen müssen. Dort finden wir schließlich die Beschreibung eines bereits abgebrannten Hauses vor. Mithilfe der Checkbox wurde somit sichergestellt, dass wir den Hausbrand nicht mehr als einmal erleben und die Illusion einer fortschreitenden Handlung entsteht (auch wenn zumindest in diesem Fall Abschnitt 339 keinen Bezug darauf nehmen kann, ob wir beim ersten Besuch dieser Gegend Mut zeigten oder weitergingen).
3. Die wohl innovativste Errungenschaft der Fabled Lands sind allerdings sogenannte Codewörter, die es ermöglichen, dass Passagen Bezug nehmen können auf andere Passagen, Ereignisse und Spielerentscheidungen, die sowohl in der fiktiven Spielwelt als auch im der physischen Realität des Buches weit voneinander entfernt sind. Derartige Codewörter erhält die Spieler*in bei bestimmten Ereignissen, etwa nach Abschluss eine Quest oder wenn sie einen Auftrag annimmt, wobei die genauen Wirkmechanismen dieser Codewörter in der Regel erst im Nachhinein erkennbar werden. Befreien wir etwa in Band 1 ein bestimmtes Wesen aus der Sklaverei, so dürfen wir auf der letzten Buchseite das Codewort ›Altruist‹ abhaken. Mehr geschieht vorerst nicht, bis wir in Band 4 in eine Gebirgsregion gelangen, in der wir von Angehörigen der Rasse dieses Wesens überfallen werden. Dort erfolgt schließlich eine Abfrage des Codeworts, sodass wir einen Blick auf die letzte Seite des ersten Bandes werfen und gegebenenfalls erkennen, dass wir es tatsächlich besitzen. Wir dürfen deshalb an einer anderen Passage weiterlesen, als es der Fall wäre, wenn wir dem Wesen nicht die Freiheit geschenkt hätten, oder wenn wir den Sklavenmarkt nie betreten hätten: Der ehemalige Sklave stellt sich schlichtend zwischen uns und die Angreifer, die Feindseligkeit schlägt in Gastfreundschaft um, und wir dürfen eine schöne Belohnung mit nach Hause nehmen.
Dieses komplexe System, das hier nur in seinen Grundzügen beschrieben wurde, macht es möglich, dass wir nur mit ein paar hundert Seiten bedrucktem Papier, einem Bleistift und zwei Würfeln eine weitläufige Welt mit Hunderten Quests bereisen dürfen, in der wir uns frei in alle Richtungen bewegen können, Aufträge entgegennehmen, Beute sammeln, Monster erschlagen und Herrscher stürzen. Wir können im gesellschaftlichen Rang aufsteigen, Handelsschiffe samt Crew erwerben und mit ihnen die Meere bereisen, Geld bei Handelsgilden anlegen, Häuser kaufen, in denen wir unser Hab und Gut deponieren, und vieles andere mehr. Natürlich ist das und mehr auch Teil eines Skyrimund anderer digitaler Rollenspiele. Wie es in Fabled Lands allerdings mit den Limitierungen gelingt, die das Medium mit sich bringt, das ist allemal beeindruckend und zeigt, dass die Möglichkeiten dieser Art der Interactive Fiction noch lange nicht erschöpft sind.
Es ist nicht nur dem Pionierstatus geschuldet, dass der Open World-Ansatz der Fabled Lands aber auch einige Probleme mit sich bringt, die lineare Gamebooks in dieser Form nicht haben. Einige dieser Probleme ähneln denen, die uns auch in den Open Worlds digitaler Spiele begegnen. Doch bietet Fabled Lands, begründet in der Natur seines Mediums, ganz andere Möglichkeiten, diesen Problemen auf kreative Weise zu begegnen.
3. Aller Anfang ist schwer.
Unsere erste Reise in die Fabled Lands wird mit großer Wahrscheinlichkeit keine sehr lange sein: Die Schonfrist umfasst kaum mehr als ein Dutzend Passagen, ein relativ ereignisarmes Eiland, doch sobald wir die vermeintlich sicheren Mauern der erstbesten Großstadt erreichen, ist die Chance hoch, dass wir ob unserer Neugier im Kochtopf eines Kannibalenkults landen. Ein vorzeitiges Ende unter vielen – und dann heißt es, den Radiergummi zücken, unsere wenige Erfolge vom Adventure Sheet tilgen, und die Reise noch einmal von vorn beginnen. Ohne Zweifel stammen die Fabled Lands aus einer Zeit, als Spiele generell noch unerbittlicher waren und ihre Spieler*innen nicht im Minutentakt mit Mini-Erfolgserlebnissen zuschütteten. Geschenkt wird uns nichts, die Aussicht auf eine Belohnung geht fast immer mit der Gefahr eines bleibenden Verlusts oder gar des Spielendes einher. Das ist manchmal nervenzerreißend spannend, wenn wir in Gegenden vordringen, die wir nie zuvor betreten haben, aber oft auch recht frustrierend.
Dabei kommen nur wenige klassische Adventurebooks ohne Trial & Error aus, das in der Tat ein elementarer Bestandteil ihrer Spielmechanik ist. Diese ist nämlich nicht darauf ausgelegt, dass ein Abenteuer schon beim ersten, zweiten, dritten Anlauf erfolgreich abgeschlossen werden soll. Das Scheitern dient vielmehr als Ansporn, es noch einmal zu versuchen, nach anderen, besseren Wegen zu suchen, und somit mehr vom Buch zu erleben und länger Spaß zu haben. Wir eigenen uns auf diese Weise Wissen an, das unsere Spielfigur unmöglich haben könnte, was zweifellos in einer Form von ludonarrativer Dissonanz ist. »If you know the consequences of your choice in advance, it is no longer a choice. A corner of the imaginery world has been cordoned off«, so Steven Poole. Zur Spielmechanik von Adventurebooks gehört es aber ebenso dazu wie zu vielen älteren Computerspiel-Adventures. Und sogar dann, wenn wir die vorteilhaften Pfade einmal kennengelernt haben, wenn wir uns eingeprägt haben, welche Passagen den sicheren Tod bedeuten, und diese entsprechend vermeiden, können wir ohne Würfelglück noch immer grandios scheitern. Andererseits merkt man einem Buch wie Das Schwert des Samurai an, dass etwa die Zahl der Proviantrationen und die unterschiedlichen Spezialfähigkeiten sehr gut auf die Herausforderungen und die Länge des Abenteuers abgestimmt sind, sodass sich – mit Erfahrung und Geduld, mit dem fortschreitenden Abriegeln von unvorteilhaften Pfaden also – der Erfolg früher oder später einstellen wird. Das beweist aber auch, dass die meisten Adventure-Gamebooks viel eher Rätseln ähneln, die es zu lösen gilt, und keineswegs die versprochenen Spielplätze zur Selbstentfaltung.
In Sachen Schwierigkeitsgrad gibt sich die Fabled Lands-Reihe nachsichtiger als die meisten anderen Adventurebooks. Vor dem Hintergrund ihres Open World-Ansatzes und der daraus resultierenden, deutlich längeren Spielzeit ist das auch dringend notwendig. Entsprechend sind unabwendbare Instant-Deaths als Resultat eines fehlgeschlagenen Trial & Error vergleichsweise selten. Schließlich würde es, wenn man streng den Regeln folgt, unter Umständen Stunden dauern, überhaupt erneut an dieselbe Stelle zu gelangen. Allerdings zeigt sich in Fabled Lands das Problem, dass die Herausforderungen einer Open World zwangsläufig weniger scharf auf die Fähigkeiten der Spielfigur zugeschnitten sein können, als das in einem linearen Spiel möglich wäre, da kaum vorhersehbar ist, welches die Fähigkeiten und Charakterwerte der Spielfigur beim Eintreten eines bestimmten Ereignisses sein werden. Areale rigoros abzutrennen und an bestimmte Mindestwerte zu koppeln würde dem Open World-Konzept widersprechen, und eine adaptive Berechnung wie in digitalen Spielen ist im Medium Buch kaum möglich. Augenscheinlich ist Fabled Lands gerade zu Spielbeginn besonders hart und verlangt der Spieler*in eine Lernphase mit mehreren Anläufen ab. Wer diese Phase irgendwann überstanden hat und weiß, wo Quests mit niedrigerem Schwierigkeitsgrad zu finden sind, wer sich nach ersten Erfolgen eine ordentliche Rüstung leisten kann, kommt sich in weiteren Kämpfen aber auch schnell übermächtig vor oder hat mehr Geld, als sie sinnvoll ausgeben kann. Dass selbst derart hochgeskillte Figuren an anderer Stelle doch wieder einen sofortigen Tod erfahren oder aber ihr gesamtes Hab und Gut verlieren, weil sich das Gefahrenpotential einer Region nicht abschätzen ließ oder Würfelglück fehlte, wiegt diese scheinbare Unbesiegbarkeit zwar wieder auf, ist aber erst recht frustrierend. Nicht ohne Grund verzichten digitale Open World-Games in aller Regel auf den sogenannten Perma-Death. Immerhin macht Fabled Lands ein kleines Zugeständnis: relativ seltene, relative teure Wiederbelebungsmaßnahmen, die aber trotzdem wehtun und nicht absolut sind. So gibt es mindestens eine Passage, an der die Nutzung einer Wiederbelebung bei der Verkündung unseres Todes explizit ausgeschlossen wird. Respekt dem, der dann nicht schwach wird.
4. Wer bin ich und was tue ich hier eigentlich?
Die Fabled Lands nehmen die Prämisse des »eigenen« Abenteuers sehr ernst – so ernst, dass sie der Spieler*in nicht weniger vorwerfen als eine weitläufige Welt, die vollgestopft ist mit mehreren hunderten größeren und kleineren Quests und Ereignissen. Die Figur, die wir steuern, besitzt keine individuelle Vergangenheit, hat keine Persönlichkeit und keine ausformulierten Ziele und ist somit nicht gezwungen, eine bestimmte, vorgegebene Rolle zu erfüllen. Auch hier dient als Gegenbeispiel Das Schwert des Samurai, wo wir nicht nur einen zentralen Auftrag erfolgreich abschließen, sondern auch in Einklang mit dem Ehrenkodex unseres gesellschaftlichen Standes agieren und Herausforderungen auf ehrenhafte Weise begegnen müssen. Doch so interessante Möglichkeiten diese Freiheit in Fabled Lands auch eröffnet und so beeindruckend komplex ihre Umsetzung ist, so stellt sich ohne ein zentrales Spielziel auch die Frage nach der langfristigen Motivation.
Ist die anfängliche Begeisterung einmal verpufft, dann ist es vor allem die Aussicht auf noch unentdeckte Regionen, die zum Weiterspielen animiert: Gold and Glory – wie es im Titel des zweiten Bandes heißt – bleiben leere Verheißungen, wenn der erzählerische Unterbau fehlt, wenn es kein Fernziel gibt, das größer ist als wir selbst und in das wir unsere wachsende Stärke investieren könnten. Zugegeben, es gibt Quests, die umfangreicher sind als andere und die sich mitunter sogar über mehrere Bände erstrecken, allerdings muss deren Einfluss auf die Spielwelt schon deshalb begrenzt bleiben, weil es bedingt durch das letztlich doch starre Medium Buch nicht möglich ist, schwerwiegende Veränderungen in der Spielwelt zu bewirken, die sich nicht nur in wenigen ausgewählten Textstellen ausdrücken.
Nehmen wir als Beispiel den Machtkampf um den Thron des Königreichs Sokara im ersten Buch, der dem Konzept einer Main-Quest noch am nächsten kommt: Wir haben hier die Wahl, ob wir uns auf Seiten des rechtmäßigen Thronerben des korrupten alten Königshaus oder der Vertreterr eine strengen Militärdiktatur schlagen. Das verlangte Attentat auf den Führer der jeweils anderen Fraktion stellt sich als vergleichsweise schwierig dar und ist eigentlich erst möglich, wenn wir zuvor einige leichtere Quests abgeschlossen und unsere Fähigkeiten ausgebaut haben. Insofern kann man hier durchaus von einem Höhepunkt und einem Erfolgserlebnis sprechen. Die Auswirkungen des erfolgten Attentats belieben allerdings minimal. Es bleibt bei Andeutungen, eine nachhaltige Veränderung der Spielwelt bleibt aus. Und so sind selbst diese zentralen Quests, die auch auf den Buchrücken erwähnt werden, nie wirklich essentiell, sondern immer rein optional, erscheinen immer nur als ferner Hintergrund. Bloßes Effizienzdenken öffnet den Weg zu Gold, Items und Skillpunkten, zu spielmechanischen, nicht erzählerischen Belohnungen also, die den Weg freimachen zu noch mehr Gold, Items, Skillpunkten. Natürlich bleibt es eine Freude, mit der hinzugewonnenen Stärke neue, gefährlichere Regionen erkunden zu dürfen, nach und nach den Geheimnissen der Spielwelt, den untergegangenen Zivilisationen, den aristokratischen Intrigen auf die Spur zu kommen, die sich uns nur Stückweise enthüllen. Aber ein spannendes Setting und eine spannende Geschichte sind zweierlei Dinge – und als Spieler neigen wir nicht unbedingt dazu, uns in einer freien Welt auf »spannende«, dramaturgisch sinnvolle Art und Weise zu verhalten.
5. Ludonarrativer Ungehorsam
Das Spannende ist: Wir als Leser*in beziehungsweise Spieler*in haben die Möglichkeit, diese und viele andere Defizite und Ungereimtheiten zu beheben. Wer ein Adventurebook spielt, war schon immer Spieler*in und Spielleiter*in beziehungsweise Regelwächter*in in Personalunion. Aber erst der Open World-Ansatz der Fabled Lands eröffnet uns darüber hinaus die Möglichkeit, zum »Modder« zu werden, auf spielmechanischer als auch narrativer Ebene. Den einen oder anderen »Bug« beheben wir damit im Vorbeigehen übrigens auch.
Ich, der ich mit digitalen Videospielen aufgewachsen bin, empfand die Möglichkeiten, dir mir Gamebooks insgeheim boten, zunächst als Bürde. Gamebooks erlaubten mir zu cheaten, zurückzublättern, »weil ich diese Entscheidung ja ohnehin nicht wirklich treffen wollte«, heimlich noch einmal zu würfeln, »weil die Würfel beim ersten Mal nicht richtig gerollt sind«, aber natürlich nur dann, wenn das Ergebnis nicht zu meinen Gunsten ausfiel. Diese Möglichkeit zum Cheaten irritierte mich, doch ebenso wenig konnte ich sie ignorieren. Unklarheiten im Regelwerk – der Verteidigungswert berechnet sich aus der Summe des Rüstungswertes, des gesellschaftlichen Ranges und des Kampfwertes, doch welches Kampfwertes? Ist damit der Basiswert gemeint oder der Wert nach Berücksichtigung des Waffenbonus? – wollte ich zunächst unter Rückgriff auf eine ›Instanz‹ beantworten (»vielleicht steht das ja in irgendeinem Internet-Forum?«). Bis ich erkannte, dass ich sie einfach zu meinen Gunsten interpretieren konnte, wo ich das Spiel doch ohnehin schwer genug fand, und deshalb wie oben beschrieben cheatete, und niemandem außer mir selbst Rechenschaft schuldig war. Andererseits erkannte ich jedoch, dass das Ausnutzen regelkonformer ›Exploits‹ und ein vornehmlich effizienzgeleitetes Spielen zwar den Erfolgschancen, nicht aber der Immersion zuträglich war. Ich setzte mir daher eigene Restriktionen, achtete darauf, mich auf meinen Reisen durch die Welt weitestgehend natürlich zu bewegen. Nicht im Kreis zu laufen – auch buchstäblich. Und Lücken im Regelwerk schlüssig zu interpretieren: Zum Beispiel trägt man zu Beginn des Spiels ein einfaches Schwert ohne Combat-Bonus im Inventar. Ein gewinnbringende und regelkonforme Reaktion war stets die, dieses Schwert bei der erstbesten Gelegenheit zu verkaufen, da es den Combat-Wert ohnehin nicht erhöht und zu Spielbeginn selbst die kleinsten Geldmengen unseren Handlungsspielraum erheblich erweitern. Erzählerisch ergibt es hingegen keinen Sinn, ein Waffe abzugeben, dabei aber nichts an Kampfkraft einzubüßen. Ich entschied daher als ›Spielleiter‹ ein Machtwort zu sprechen, und mir selbst, auch wenn das Spiel dadurch schwieriger wird, den Verkauf dieser Waffe zu verbieten.
Irgendwann gelangte ich schließlich zu dem Schluss, die verschiedenen Probleme, Bugs und Lücken im ludo-narrativen Gerüst der Fabled Lands gar nicht mehr als Bürde oder gar als Defizit, sondern als Chance anzusehen und auf dieser Grundlage nicht nur das Spiel nach meinen Bedürfnissen zu optimieren, sondern es auch zu modifizieren. Und damit Fabled Lands nicht nur nach meinem Empfinden zugänglicher und glaubwürdiger zu machen, sondern tatsächlich noch einmal ganz anders zu erleben. Seit einigen Stunden spiele ich nun mit folgenden Modifikationen, die vor allem den sonst so mühsamen und inzwischen auch ziemlich monoton gewordenen Spieleinstieg leichter gestalten und mir außerdem eine zusätzliche, bandübergreifende Main-Quest verschaffen sollten:
Statt mit mickrigen 16 Goldstücken zu starten, gewährte ich mir Goldstücke in Höhe eines Wurfs mit zwei Würfeln multipliziert mit zehn. Ich entschied, dass ich zusätzlich zu den Startwerten eines Priesters noch 6 Skill-Punkte zusätzlich verteilen dürfe und erschuf mir damit eine Art Kriegerpriester. Ich legte fest, dass ich mehr als eine Wiederbelebungsvereinbarung gleichzeitig haben darf. Mehr noch, ich entschied, dass ich mit 5 ›Continues‹ starten und mit jedem Aufstieg im Rang ein weiteres erhalten würde, und dass ein derartiges Continue mir erlaubt, an jeder beliebigen Stelle beliebig weit zurückzublättern, um mich anders zu entscheiden oder noch einmal zu würfeln. Im Gegenzug würde ich von weiteren, unkontrollierten Schummeleien allerdings komplett absehen. Und schließlich setzte ich mir ein zusätzliches Spielziel, nämlich dass mein Charakter es sich zur Aufgabe gemacht habe, alle Religionen der Spielwelt kennenzulernen. Während man eigentlich nur Anhänger eines Kults zugleich sein kann, darf ich die religiösen Zugehörigkeiten nun sammeln. Und zu guter Letzt warf ich die Inventarsbeschränkung ab, die meist nur nervte, zumal das Spiel auch so genügend Anreize bietet, aus Sicherheitsgründen nicht das gesamte Inventar und alles Gold ständig mit sich rumzuschleppen, sondern in erworbenen Häusern zwischenzulagern.
Mit diesen Regeln habe ich schließlich schon viele Abenteuer erlebt, vor allem im ersten Band, die es an Spannung nicht mangeln ließen. Ich kann mich damit freier bewegen, komme mir aber auch nicht als Betrüger vor, und ich habe zumindest ein loses zusätzliches Ziel vor Augen. Sicher sind noch extremere Modifikationen möglich. Wieso nicht auf dem höchsten gesellschaftlichen Rang anfangen, aber ein illegitimes Zurückblättern mit dem Abstieg um einen Rang bestrafen? Das würde zu Spielbeginn große Handlungsfreiheit ermöglichen, das Spiel mit zunehmender Dauer aber immer mehr zuspitzen. Warum nicht im Falle unseres Ablebens unsere gesammelten Besitztümer am Ort des Ablebens eintragen und in den Item-Boxen belassen, auf dass er beim nächsten Spielen von einem anderer Spielcharakter dort aufgenommen werden kann? Warum nicht Fabled Lands als Koop-Multiplayer spielen und dabei auf die Ergebnisse der Handlungen des anderen Spielers stoßen, ihn ›treffen‹ können und Items tauschen, wenn man die Textpassage erreicht, an der er zuvor aufgehört hat?
Das Medium Gamebook macht es möglich, derartige Modifikationen ohne technisches Hintergrundwissen und ohne den speziellen Segen der Autoren (etwa in Form eines Leveleditors) umzusetzen. Und ohne den Ärger von Mitspielern, versteht sich. Allerdings würden derartige Modifikationen in linearen Gamebooks kaum mehr als eine Veränderung des Schwierigkeitsgrades nach sich ziehen. Erst in der non-linearen Open Welt der Fabled Lands, in der wir uns nicht auf sich verzweigenden Einbahnstraßen auf ein vorgegebenes Ende hinbewegen, ist es möglich, dass diese Mods die erlebte Geschichte bestimmen oder dass wir die Geschichte selbst modifizieren. Letzteres ist allerdings erheblich schwieriger, da es fundierte Kenntnisse der Spielwelt voraussetzt, ein Wissen darüber, welche Abenteuer überhaupt möglich sind.
6. Ich widersetze mich, also bin ich.
Im Vergleich zu den komplexen digitalen Rollenspielen der Gegenwart mag unser Handlungsspielraum in einem Gamebook, selbst in einem so komplexen wie Fabled Lands, noch immer ziemlich eingeschränkt erscheinen: Wir bewegen uns auf einer begrenzten Zahl von festen Pfaden und haben scheinbar keine Möglichkeit, kreativ auf Herausforderungen zu reagieren, auf eine Weise also, die uns nicht schon von den Autoren als mögliche Handlungsoption vorgegeben wäre. Doch schauen wir genauer hin, dann können wir eine zusätzliche Dimension der Interaktivität entdecken, die ihren Ursprung darin hat, dass wir selbst sozusagen die Hardware sind, auf der das Spiel läuft, dass wir es sind, die auf die Einhaltung der Regeln achten – oder mehr oder weniger selbstbewusst darauf pfeifen. Denn immer schon verlangten gedruckte Adventurebooks von uns als Spieler eine beständige Auseinandersetzung nicht nur mit den Regeln des Spiels, sondern im Zuge dessen auch mit uns selbst. Und zumindest in diesem Sinne lässt sich letztlich doch irgendwie sagen, dass wir ein ganz eigenes, ›unser‹ Abenteuer erlebten, auch wenn die Hintergrundgeschichten als solche selten wirklich interaktiv waren.
Im Zusammenspiel mit der Open World der Fabled Lands-Reihe eröffnet sich nun allerdings ein Spielerlebnis, das noch viel mehr eine Konfrontation mit uns selbst ist: Wie reagiere ich auf Unschärfen und Lücken im Regelwerk? Wann erlaube ich mir zu schummeln? Welche Modifikationen betrachte ich als fair, welches Verhalten als schlüssig? In den Antworten auf diese Fragen liegt eine Dimension von Agency, die uns in den meisten digitalen Spielen fremd ist, sofern diese nicht von vornherein einem Sandbox-Prinzip folgen oder durch Modding auf technischer Ebene verändert werden. Dem, der danach sucht, bietet Fabled Lands ein Spielerlebnis, das Regeln und Vorschriften in einem anderen Licht zeigt, als die meisten digitalen Spiele es tun. Nämlich als etwas, das nicht hingenommen und durch Anpassung gemeistert, sondern hinterfragt und gegebenenfalls geändert werden kann, das ad hoc gebeugt werden kann, Unschärfen kennt und Interpretationsspielraum lässt, statt in festen Strukturen zu verlaufen. Nicht wir passen uns der Welt an, sondern wir machen die Welt zu der unseren. Wir widersetzen uns den vorgefundenen Regeln.
Nicht zuletzt deshalb ist das Spielerlebnis in digitalen Portierungen von Gamebooks nie dasselbe, ein Problem, das auch Versoftungen von Brettspielen kennen, die wohl auch deshalb nie zu größerer Popularität gelangten. Komfortfunktionen mögen für ein schnelleres Spielerlebnis sorgen und niemand muss sich Gedanken machen, eine Regel falsch zu interpretieren. Allerdings können die Unschärfen und regelverletzenden Freiheiten gedruckter Bücher so nicht emuliert werden. Ähnlich verhält es sich mit dem derzeit beliebten Softwaretool Twine, auf dessen Grundlage viele interessante Spielkonzepte entstanden sind, welche dem Genre digitaler (Text-)Adventures einen neuen Frühling beschert haben, aber die besondere Natur analoger Spielebücher bleibt auch hier außen vor.
Es sind jedoch nicht nur neue Spielerlebnisse, die wir im Regelbruch und im Setzen neuer Regeln finden können. Egal, ob wir streng den vorgegebenen Regeln der Fabled Lands folgen, ob wir sie hin und wieder zu unseren Gunsten beugen, sie ergänzen oder gleich komplett über den Haufen werfen, wir sind stets im Dialog mit uns selbst, begegnen uns dabei selbst, werden auf unserer Reise in diese zusätzliche Dimension der Interaktivität schließlich wieder auf uns selbst zurückgeworfen. Mut zum Regelbruch, das ist Mut zum Ungehorsam, zur Rechenschaft uns selbst gegenüber, zur Verfolgung eigener Ideale und zur Erkundung neuer Wege. Und mögen das auch große, bedeutungsschwere Worte sein, sie erfahren ihre Erprobung im Spiel.
Doch leider ist das, was die meisten Computerspiele von uns erwarten, nach wie vor vor allem Internalisierung und Anpassung. Die Fabled Lands und ihr Medium sind demgegenüber eine wunderbare Sandbox, um zu testen, wie weit wir uns einem vermeintlich starren Gefüge von Regeln und Narrativen widersetzen können – in der Erfahrung eines wirklich ›interaktiven‹ Spielerlebens, in dem sich Autor und Rezipient auf Augenhöhe gegenüberstehen.
Über den Autor:
Sylvio Konkol studiert(e) Anglistik und Religionswissenschaft an der Uni Leipzig und schrieb seine Masterarbeit über Feminismus und Weiblichkeit in den Werken Xiaolu Guos. Er ist Chefredakteur und Gründer von SPIELKRITIK.com und schreibt für die Printausgabe des GAIN-Magazins. Digitale Spiele liebt er seit Zelda: Link’s Awakening. Mit Perfect Dark hat er die meisten Stunden verbracht und mit Shenmue II verbindet er die intensivsten Erinnerungen. Er spielt Spiele meist fünf Jahre zu spät und bekommt deshalb weder von den Launch Day-Bugs noch von den Online-Modi viel zu sehen.
Behandelte Texte:
Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Fabled Lands I: The War-Torn Kingdom. Fabled Lands Publishing 2010.
Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Fabled Lands II: Cities of Gold & Glory. Fabled Lands Publishing 2010.
Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Fabled Lands III: Over the Blood-Dark Sea. Fabled Lands Publishing 2010.
Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Fabled Lands IV: The Plains of Howling Darkness. Fabled Lands Publishing 2010.
Morris, Dave & Jamie Thomson (1996). Fabled Lands V: The Court of Hidden Faces. Fabled Lands Publishing 2012.
Morris, Dave & Jamie Thomson (1996). Fabled Lands VI: Lords of the Rising Sun. Fabled Lands Publishing 2012.
Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Sagaland: Auf dem blutroten Meer. Deutsch von Astrid Frank. Ravensburger Buchverlag 1998.
Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Sagaland: Die endlose Steppe. Deutsch von Astrid Frank. Ravensburger Buchverlag 1999.
Smith, Mark & Jamie Thomson (1986). Das Schwert des Samurai. In Das 6. große FantasyAbenteuerSpielBuch. Eds. Steve Jackson & Ian Livingstone. Deutsch von Dirk und Frank Schulter. Stuttgart, Wien & Bern: Thienemann 1999.
Poole, Steven (2000). Trigger Happy: The Inner Life of Videogames. London: Fourth Estate.
Ich habe deinen Artikel mit großem Interesse gelesen, da ich solche Bücher nicht kannte. Mit Ausnahme von manchen Gänsehaut-Büchern und glaube ich auch Drei ???-Büchern, kenne ich nichts, was in diese Richtung geht.
Aber meinst du denn, dass das Cheaten, wie du es nennst dazugehört? Also das man seinen Charakter schon zu Beginn modifiziert und auch die Welt. Eben um einen gelungeneren Einstieg zu haben. Ich frage mich, ob diese Art von Buch als EBook funktionieren würde. Vielleicht noch mit einer integrierten Würfelmechanik, die dann sofort dein Würfelergebnis umsetzt. Was aber auch heißt, dass du nicht nochmal würfeln kannst. Wäre das etwas, was zu solcher Art Buch passen würde, oder nicht?
Ich glaube, irgendsoein Buch hatte ich auch einmal, Gänsehaut oder so… ^^ Das war aber deutlich “verspielter” und richtete sich klar an Kinder, da war so eine Folie für Geheimbotschaften dabei oder so ähnlich. Ich war auf jeden Fall ziemlich enttäuscht davon. Allerdings hab ich das auch eher mit diesen Detektivbüchern verglichen, die eigentlich auch mal ein interessantes Thema wären. Zum Beispiel John Sladeks Auf heißer Spur. Allerdings beschränkt sich die Interaktivität dort darauf, am Ende einer Kurzgeschichte auf Basis des Gelesenen herauszubekommen, wer der Täter ist oder wie sich ein Fall zugetragen hat.
Interessante Frage, das mit dem Cheaten. Ich würde nicht sagen, dass es dazu gehört und ich hab all die Jahre lang nie das Spiel derart “modifiziert”, wie ich es im Artikel beschreibe, und trotzdem meinen Spaß gehabt, sondern allenfalls sehr sparsam solche Soft-Cheats angewandt, von wegen “der Würfel lag jetzt aber wirklich auf der Kante” oder “halt, Moment, diese Entscheidung wollte ich doch gar wirklich nicht treffen”. Zumindest was Fabled Lands angeht, hatte ich als Kind vielleicht auch einfach etwas mehr Geduld, Sachen wieder und wieder zu versuchen, wogegen ich heute nicht viel Sinn darin erkennen würde, einen großen Part eines Spiels noch einmal zu beginnen, praktisch identisch durchzuspielen (weil ich den “besten” Weg kenne) um dann an der Stelle des einstigen Scheiterns eine andere Entscheidung zu treffen. Aber das geht “uns” bei digitalen Spielen ja heute meist ganz ähnlich, wo es kaum mehr akzeptiert ist, infolge eines Todes einen ganzen Level oder gar (nach Verlust aller Leben) ein komplettes Spiel neu beginnen zu müssen. Und solche Rücksetz- oder Speicherpunkte fehlen den Gamebooks jener Zeit leider noch (wobei ich nicht weiß, ob neuere da etwas bieten, und Fabled Lands’ Wiederbelebungsdeal geht schon in diese Richtung).
Stichwort eBook. Wie ich am Artikel beiläufig erwähne, ist Fabled Lands tatsächlich einmal vor ein paar Jahren als digitale iOS-Version auf den Markt gekommen, die ich allerdings nicht gespielt oder gesehen habe und die inzwischen nicht mehr verkauft wird. Ich nehme an, dass es da auch so etwas wie eine Würfelmechanik gab und Cheaten nicht möglich war, aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Daneben gibt es halt u.a. diese Twine-Entwicklungen, da hab ich vor ein paar Wochen eines namens American Angst gespielt, und funktionieren tut das schon (und bietet durch seine digitale Natur auch wieder ganz eine Möglichkeiten). Aber wie ich im Artikel auch argumentiere, ich glaube, dass bei einer 1:1-Übertragung in eine digitale Form stets ein Teil der Faszination verlorengeht, sogar dann, wenn ich mich ohnehin nur regelkonform verhalten möchte. Ich meine, dass es etwas ganz anderes mit dem Spieler “macht”, wenn er in einer digitalen Version den Tod erleidet und nichts dagegen tun kann weil das Spiel so programmiert ist, oder wenn das in einem Buch geschieht und das Buch von ihm verlangt: Nun mach mal, akzeptiere den Tod, radiere alle deiner Besitztümer und Codewörter heraus und fang noch einmal ganz von vorne an. Da ist er in einer seltsamen Position von Verantwortung und Kontrolle, wo er den Regeln unterworfen ist aber eigentlich auch wieder nicht, und vielleicht fühle ich mich aus diesem Grund bei analogen Gamebooks noch einmal zusätzlich ins Spielerlebnis “involviert”.
Sehr interessante Kritik und auch nachdenkenswerte Vorschläge, wie man mit der Spielbuchserie umgehen kann. Ich habe Fabled Lands Ende der 90er/ Anfang der 2000er gespielt, knallhart nach Regel. Ich habe nämlich eine sehr hohe Frustrationstoleranz (bzw. hatte sie zumindest damals) und habe es so lange immer wieder neu versucht, bis ich mit einem Charakter praktisch ewig spielen konnte. Dafür habe ich mir eigene Abenteuerblätter entwickelt, schon damit ich gar nichts in das Buch schreiben muss – der Platz für verschiedene Informationskategorien war halt so bemessen, dass ich da wochenlang was eintragen konnte, ohne aufgrund von Platzmangel neue Blätter für den Charakter erstellen zu müssen. Dafür benötigte ich halt Platz auf dem Tisch, da es natürlich mehrere Zettel waren.
Was mir an der Serie unter anderem gefällt ist, dass man am Anfang fast nichts hat und kann und man in wirklich vielen Dimensionen Belohnungen erhalten und sich entwickeln kann. Da sind die Charakterwerte, der Rank, die Titel und Ehren, Reichtum, Gegenstände mit mächtigen Eigenschaften, bedeutende Bewegungserleichterungen duch verschiedene Mittel, Wiederbelebungsvereinbarungen, Segnungen usw. usf. Ich denke, bunte, umfassende, reichhaltige Belohnungen und Entwicklungsmöglichkeiten in möglichst vielen Dimensionen sind ein sehr starker und nachhaltiger Motivationsmotor, so dass zumindest ich nicht nur wochen- und monatelang, sondern sogar jahrelang Spass haben konnte. Demgegenüber haben die anfangs zahlreichen frustrierenden Tode nur dazu beigeragen, den Wert der verschiedenen Belohnungen und Entwicklungen meiner späteren hochgepowerten Charaktere um so mehr zu schätzen. Dinge, die nicht so leicht zu haben sind, erhalten oft gerade dadurch ihren subjektiv hohen Wert für uns. Und so blieb das Erkunden immer neuer Bereiche, die erst nach und nach wirklich zugänglich wurden (also spielbar ohne gleich zu sterben), stets spannend und motivierend für mich.
Dieser Punkt ist für mich zusätzlich zu narrativen und rollenspieltechnischen Themen sehr wichtig. Fabled Lands hat die Limitierungen des Mediums Spielbuch auf ungeahnte Weise gesprengt. Sicher wäre da noch mehr möglich, aber ob es heutzutage dafür einen genügend großen Markt gibt, wage ich zu bezweifeln. Ein sehr großes Plus gegenüber Computerspielen bleibt für mich jedoch, dass ich mir als Leser anhand des Textes meine eingene Vorstellung entwickle, die nur gelegentlich durch Bilder in den Büchern gelenkt wird.