Long Live The Queen: Die Königin ist tot, lang lebe die Königin!
Ein Beitrag zu den Interactive Fiction Days von Aurelia Brandenburg.
Long Live The Queen ist ein auffällig pinkes und auffällig auf niedlich getrimmtes Visual Novel. Und trotzdem verbergen sich dahinter ein Spiel voller spannender Politik und Intrigen, Feminismus und auch ein bisschen Gossip Girl.
Wenn es ein Spiel gibt, von dem ich sagen würde, dass den Entwicklern darin mit sehr einfachen Mitteln eine wirklich interessante Spannung aus spielbarer Politik und Intrigen gelungen ist, dann ist es Long Live The Queen. Das mag sich auf den ersten Blick sehr merkwürdig lesen und ist zugegeben vielleicht auch eine etwas steile These, weil das Spiel zunächst einmal in einem sehr pinken Manga-Look und voller Magical Girl-Tropes wie das Gegenteil von etwas wirkt, hinter dem man eine Politik- und Intrigensimulation vermuten würde. Schließlich haben uns Videospiele und westliche Popkultur im Allgemeinen über Jahrzehnte hinweg beigebracht, dass brutale und von Gewalt geprägte Settings nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch düster gehalten sind. Ist die Welt brutal, ist auch die Stimmung meistens hoffnungslos, die Figuren und Hintergründe detailliert und voller Probleme und Widersprüchlichkeiten, die Musik melancholisch und die Farbgebung wahrscheinlich eher dunkel. – Und Long Live The Queen nimmt genau diese gritty realism-Konventionen als so konstruiert, wie sie im Grunde auch sind, und wirft sie erst einmal über Bord.
Die Königin ist tot, lang lebe die Königin!
Dabei erzählt das Spiel die Geschichte von Elodie, einer vierzehnjährigen Prinzessin, die nach dem plötzlichen und nicht weiter erklärten Tod ihrer Mutter deren Thron besteigen soll. Als Minderjährige muss ihre Krönung allerdings noch bis zu ihrem 15. Geburtstag warten, aber dazu muss sie erst einmal lang genug überleben. Denn ihre Jugend, Unerfahrenheit und ihre damit insgesamt eher wackelige Position rufen sehr schnell verschiedene Adelige, Attentäter und Opportunisten auf den Plan, die sie entweder ausnutzen oder ermorden und ersetzen wollen. – Die Königin ist tot, lang lebe die Königin. Nur wie lange genau?
Im Grunde ist Long Live The Queen ein Visual Novel, nutzt allerdings neben den dafür typischen Elementen von Dialog und situationsbedingten Spielerentscheidungen noch ein paar zusätzliche Mittel, um dem Spiel seine Komplexität verleihen. Nachdem Elodie sehr jung und unerfahren ist, erhält sie jede Woche Unterricht in verschiedenen Fächern, die ihr als Königin helfen sollen. Von Geschichte über Konversation und Intrigen bis hin zur Falknerei oder dem Militärwesen ist alles dabei. Theoretisch ist alles wichtig und Elodie könnte alles davon gebrauchen, aber die Zeit ist knapp und so kann sie pro Woche nur zwei Fähigkeiten verbessern. Dazu kommt, dass ihre Stimmung ihren Erfolg oder Misserfolg beim Lernen mit beeinflussen. Zu Beginn des Spiels, direkt nach dem Tod ihrer Mutter, ist sie traurig und kann sich deshalb schlecht konzentrieren, ist dafür aber gut in Aktivitäten, bei denen sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen kann, wie z.B. Tanz oder Gesang. Ihre Laune ändert sich entsprechend der Tätigkeiten, die sie am Wochenende ausführt. Beten kann helfen, mit ihrer Angst oder Traurigkeit umzugehen. Ist sie in dieser Zeit dagegen unter Adeligen, fühlt sie sich danach unter Druck gesetzt und ist beherrschter, was wiederum dafür sorgt, dass sie besser darin ist, die Regeln der Hofetikette zu lernen.
Alles ist wichtig und für nichts ist Zeit
In einem idealen Szenario könnte Elodie alles. Sie wäre ein strategisches Genie, würde jede Intrige auf weite Entfernung sehen können und nebenbei auch noch zu der quasi mächtigsten Magierin aufsteigen, die ihre Welt je gesehen hat. In der Realität des Spiels ist sie eine Vierzehnjährige, die noch nicht einmal ahnt, was ihr alles blüht. Sie stolpert von einer Situation in die nächste, scheitert – oft! – und rappelt sich danach wieder auf. Es gibt nicht nur einen, ›richtigen‹ Weg, um das Ende des Spiels zu erreichen, stattdessen gibt es mehr eine Reihe von mal mehr, mal weniger brenzligen Situationen, in denen Elodies Fähigkeiten getestet werden, was wiederum ihre Reaktion bestimmt. Erfolg oder Misserfolg bei diesen Events werden dabei anhand der Werte ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten unterschieden. Kennt sie sich gut genug mit der Hofetikette aus, weiß sie, dass sie Schmuck, den ihr ein Adeliger schenkt, vielleicht nicht tragen sollte, weil das als öffentliches Symbol einer möglichen Verlobung gedeutet werden würde. Andernfalls freut sie sich nur über das schöne Geschenk und zieht die Kette direkt an, nur um später darauf angesprochen zu werden.
Viele kleine und große Momente des Scheiterns gehören dabei dann schon aufgrund der großen Auswahl an Fähigkeiten zum Programm. Elodie ist heillos überfordert und gerade im ersten oder zweiten Spieldurchgang sind die Chancen für Elodies frühen Tod deshalb hoch. Denn manchmal macht den entscheidenden Unterschied nicht nur ein »Ja« oder »Nein«, das sich mit dem Laden eines Saves leicht ändern ließe, sondern, wie gut sie sich mit zum Teil ganz unerwarteten Fähigkeiten auskennt. Trainiert man sie – ahnungslos wie man ist – darin nicht genug, kann es oft genug einfacher sein, direkt einen Neustart zu wagen statt mühsam alte Fehler auszubügeln.
Wissen statt XP
Das hat mehrere Folgen. Zum einen bedient Long Live The Queen so im Grunde die Essenz dessen, was Politik- und Herrschaftsbilder unter dem Einfluss von gritty realism ausmacht, während es zum anderen eine auffällig positivistische Perspektive ermöglicht. Durch das Prüfen von Elodies Fähigkeiten wird eine Spannung erzeugt, wie sie selten wirklich in Spielen aufgeht. Verhandlungen zu führen, Intrigen zu enttarnen oder selbst welche zu spinnen sind Konflikte, die viel mit Dialog und wenig mit bildgewaltiger Action zu tun haben. Es gibt wenig zu sehen, dafür aber umso mehr, das unterschwellig abläuft.
Erfahrung ist mit einem Mal immer schlechter in XP als viel mehr in Wissen und Beziehungen messbar und genau da liegt die große Stärke des Spiels. Nicht nur, weil ich theoretisch mit jeder Lektion, die Elodie erhält, auch direkt das Wissen mitlesen kann, das sie erworben hat, sondern auch weil Wissen genauso wie sein Fehlen hier zwischen Leben und Tod entscheiden. Weiß Elodie nicht, wie sie sich zu benehmen hat, vergrault sie ihren eigenen Hof, was wiederum zu einem Aufstand oder ihrer Ermordung führen kann. Ist sie militärisch unerfahren oder kennt sich nur mit See- statt Landschlachten aus, könnte auch einer der potentiell drohenden Kriege für sie sehr unschön ausgehen. Und hat sie keine Ahnung von Giften oder der Wirtschaft eines ausländischen Reiches, stirbt sie vielleicht einfach, weil sie nicht ahnt, dass ein Geschenk gar nicht so freundlich gemeint war.
Gritty Realism und kein Gritty Realism
Damit folgt Long Live The Queen theoretisch dem, was unter einem groben Schlagwort von ›Realismus‹ auch außerhalb des Mediums Spiel bei Geschichten über Adel und Intrigen üblich ist. Es gibt kaum jemanden ohne Hintergedanken und hinter jeder Ecke lauert Gefahr. Das beißt sich auf den ersten Blick mit dem visuell so ›girly‹ gecodeten Look, ist aber gleichzeitig auch erfrischend. Nur weil gritty realism in Mode ist, bildet diese Stilrichtung nicht zwingend irgendetwas wirklich der Realität Nahes ab, sondern wird oft genug auch als bequeme Ausrede für katastrophale Frauenbilder, Rassismus oder grundsätzliche Feindlichkeit gegenüber benutzt.
Long Live The Queen bricht damit und hat so eine Heldin, die auf ganz unterschiedliche Art und Weisen ihre Probleme meistern kann und gleichzeitig erstaunlich verletzlich und positiv gezeichnet wird. Elodie mag Süßigkeiten, ist von den Avancen eines Adeligen im Alter ihres Vaters eingeschüchtert und kann trotzdem zu einer Puppenspielerin wie aus dem Bilderbuch werden, die überall Augen und Ohren hat und der absolut nichts entgeht. Oder zu einer legendären Magierin. Oder zu einem militärischen Genie. Vollkommen egal, denn Schwächen und Stärken schließen sich nicht aus. Auch nicht bei einer vierzehnjährigen Königin in einem Spiel, das zumindest im ersten oder zweiten Durchgang mit seinen harten Konsequenzen durchaus überraschen kann.
Adel, Macht und Intrigen
Die Überraschung nimmt mit jeder Wiederholung sicher etwas mehr ab, weil die Geschichte am Ende doch relativ eng gescriptet ist und man so früher oder später die entscheidenden Gabelungen der Handlung kennt. Doch auch das stärkt die Intrigengeschichten, die Long Live The Queen zu erzählen versucht, eigentlich nur. Die Beziehungen zwischen Elodie und den anderen Figuren, auf denen die Spannung der potentiellen Intrigen und Konflikte basiert, sind festgelegt und damit zwar in sich im Vergleich zu anderen Spielegenres statischer, haben aber dafür mehr Raum für Details und Emotionalität, während gleichzeitig soziale Interaktion etwas ist, woran viele Spiele, die Politik und Intrigen abzubilden versuchen, ebenfalls scheitern.
Denselben Effekt hat übrigens auch The Queen’s Crown, ein anderes und im Vergleich zu Long Live The Queen optisch deutlich düstereres Visual Novel mit derselben Idee einer überraschend den Thron besteigenden und sehr jungen Königin. Dieses Spiel ist zwar in seiner Vollversion bisher noch nicht erschienen, aber schon zu Beginn, in Form der Demo, profitiert die Geschichte bei den Beziehungen und der Konstruktion von einem Gefühl der spannenden Intrigen auf dieselbe Weise. Stimmt das Writing von sozialer Interaktion und den daraus resultierenden Beziehungen, geht normalerweise auch die Idee eines diffusen Mythos von adeliger Herrschaft, Gesellschaft, Politik und Intrigen auf.
Am Ende ist ohnehin alles nur eine Form der Seifenoper
Denn dieser Mythos unterscheidet sich am Ende vom Drama in Gossip Girl oder dem Denver-Clan auch nur darin, dass die zeitliche Inspirationsvorlage eine andere ist und dementsprechend ein paar Morde mehr eingestreut werden. Dieses reichlich künstliche Drama funktioniert dann nur über die Beziehungen der Figuren und ein klares Script, was trotz der Interaktivität des Mediums Spiel auch genau das ist, wovon Long Live The Queen entscheidend profitiert. Jedenfalls bis Elodie wieder einen erschreckend grausamen und gleichzeitig sehr niedlich illustrierten Tod stirbt. Obwohl diese Kombination zugegeben etwas merkwürdig ist.
Deshalb reizt mich die Politik eines Spiels wie Long Live The Queen oder The Queen’s Crown sehr viel mehr als selbst die eines Crusader Kings. Ein Verrat bekommt Bedeutung, nicht alles ist streng logisch kausal, die Figuren haben Stärken und Schwächen und gleichzeitig kann ich gehörig daran scheitern, dass ich die falschen Fähigkeiten trainiere. Das alles wie im Fall von Long Live The Queen in einem betont niedlichen rosafarbenen Look und schon gehen weit verbreitete Konventionen von gritty realism und Mord, Totschlag und Intrigen an einem Königshof fast in Flammen auf. Und das ist eigentlich ganz gut so.
Über die Autorin:
Aurelia Brandenburg studiert Geschichte und Digital Humanities und bloggt nebenher auf geekgefluester.de über Videospiele, Literatur, Filme und Storytelling, manchmal auch über Geschichte und diese Dinge. Alles, was sie nicht verbloggt, landet meistens auf ihrem Twitteraccount.
Behandeltes Spiel:
Long Live the Queen. 2012. Entwickler: Spiky Caterpillar/Hanako Games. Publisher: Hanako Games. Plattform: Windows/Mac/Linux.
Hi Aurelia. Schöner Artikel, interessantes Thema! Auch als Fortführung deines Artikels “Rollenspiele und die Spielbarkeit von Politik” sehr passend; ich denke, ich werde den dort mal mitverlinken. 🙂
Meine erste Assoziation war: Princess Maker (2). Seit vielen Jahren ein persönliches Lieblingsspiel, dass ich immer wieder gern einmal spiele (auch auf modernen Systemen mittels DOSBox leicht hinzukriegen). Das Alter der Protagonistin, die Bedeutung der Bildung in unterschiedlichen Disziplinen, und auch durchaus düstere Seiten… Kennst du das evtl. und wenn ja, inwiefern siehst du Parallelen? Was mich vor allem interessieren würde, weil ich diesen Aspekt auch bei Princess Maker stehts interessant fand: In welchem Verhältnis steht die Protagonistin von Long Live the Queen zum Spieler? Wie erklärt das Spiel die Rolle des Spielers, ist er ein Berater o.ä., oder übernehmen wir de facto die Kontrolle über die Heldin selbst? Kann sich die Heldin den Entscheidungen des Spielers auch widersetzen (wie das mitunter in Princess Maker geschieht, wo wir die Rolle des Adoptivvaters übernehmen, der zwar sehr weitreichende, aber nicht absolute Kontrolle über die Lebensgestaltung seiner Tochter hat).
Princess Maker steht zwar noch nur auf meiner Wunschliste, aber die düstere Färbung hat “Long Live The Queen” durchaus auch, wenn auch z.T. nur andeutungsweise. Elodie kann z.B. über einen angeblichen Mörder richten, wobei schon im Dialog klar wird, dass da etwas im Busch sein muss und nicht ganz stimmen kann (der Ankläger ist ein Adeliger, der sich merkwürdig benimmt) und an dieser Stelle ist es beispielsweise von Elodies Fähigkeiten und Bildung abhängig, was für ein Schicksal diesen “Mörder” ereilt. Es gibt immer mal wieder ein paar Situationen, in denen andere – auch manchmal sehr grausam – zu Schaden kommen, wenn Elodie in irgendetwas zu ungebildet ist. (Es betrifft also nicht nur sie, sondern auch andere Figuren, selbst Freunde oder Familie.)
Das Verhältnis von Spieler zu Protagonistin ist tatsächlich etwas, das ich in “Long Live The Queen” ganz spannend finde, weil man tatsächlich Elodie direkt steuert. Sie “wehrt” sich nicht direkt, wenn ich mich also dazu entscheide, sie an einen viel älteren Adeligen zu verheiraten, behandelt das Spiel das als ihre (kalkulierte) Entscheidung. Wobei solche Entscheidungsmöglichkeiten meistens überhaupt erst nach einem Fähigkeitentest kommen, d.h. im Zweifelsfall stellt das Spiel ein Verwehren eines Ergebnisses bzw. einer Entscheidungsmöglichkeit eben als ein Scheitern von Außen (an einer zu schweren Aufgabe) dar und nicht als etwas, dem sich die Protagonistin bewusst widersetzen würde.
Sehr schöner Artikel! Ich finde das Spiel von ein paar kleinen Dingen abgesehen sehr gelungen. Es gab ja auch 2015 ein kostenloses Content-Update, und in Sachen Text hat man sich wirklich Mühe gegeben – sehr wohltuend, im Vergleich zu dem was man sonst in Spielen (auch in Sachen Rechtschreibung) so zum Fraß vorgeworfen bekommt. Kudos an die Entwickler und den Publisher. Elodie finde ich auch sehr menschlich und durchaus tiefgründig dargestellt. Sie muss schnell reifen und lernen, andererseits ist sie doch noch ein 14-jähriges Mädchen, das bei Schmeicheleien kichern muss und Schokolade nur schwer widerstehen kann (OK, können viele Erwachsene ja auch nicht). Ich verbinde das Spiel, obwohl es ja nur eigentlich nur im royalen Thema ähnlich ist, irgendwie auch mit der Reigns-Reihe, die ich ebenso witzig fand und die eine sehr gute deutsche Übersetzung hat. Die im Text und den bisherigen Kommentaren genannten Titel müsste ich mir mal ansehen.