Welcher Spruch schmückt Geralts Schläfe in The Witcher 3: Hearts of Stone?
Für viele Spieler und Kritiker war es schon zum Release das Spiel des Jahrzehnts: The Witcher 3: Wild Hunt nahm 2015 die großartige Erzählung von The Witcher 2: Assassins of Kings auf, verpackte es in eine überdurchschnittlich lebendige Welt und schmückte es mit Nebenquests, die über die typischen MMO- und Assassin’s Creed-Schemata hinausging. Ich muss gestehen, dass ich The Witcher 3 bis Ende letzten Jahres ein wenig stiefmütterlich behandelt habe. Nach dem ersten dreißig Stunden Ritt durch Velen kurz nach Release war mir klar, dass ich hier nicht die eng gepackte lineare Spannungskurve meines persönlichen Favoriten The Witcher 2 bekomme. Ich legte den Controller nieder und zog weiter, bis meine Freundin, selbst großer Fan von Andrzej Sapkowskis Der Hexer-Romanen, mich dazu brachte, mit ihr das Spiel neu zu beginnen.

Quelle: witcher.wikia.com
Noch einmal fünfzig Stunden vergingen, in denen ich mich insgeheim ein wenig langweilte, bis mir das Spiel dann doch ans Herz wuchs. Der Grund dafür war das erste große Addon zu Witcher 3: Hearts of Stone. Hier bekam ich meine lineare Erzählung, ununterbrochen von zu großen Welten und zu viel Herumreiterei. Hearts of Stone führte mich durch eine clevere Storyline, die nahtlos von leichtherzig und zum Brüllen komisch hin zu bierernst und traurig wechselte. Dazu versuchte das Spiel endlich, seine ohnehin durchaus imposanten Bossgegner entsprechend zu inszenieren; einer der Bereiche, in denen das Hauptspiel bis dahin kläglich versagt hatte. Außerdem, und auch das war für mich unverbesserlichen Linguisten ein schöner Antrieb, starrte ich während Hearts of Stone beständig meiner Profession ins Gesicht und durfte mich gar ein wenig mit einer Sprache beschäftigen, die ich erst kürzlich zu lernen begonnen hatte. Es folgen leichte Spoiler zu The Witcher 3: Hearts of Stone.
Schon recht zu Beginn der Geschichte von Hearts of Stone wird Geralt von Riva mit einem Brandzeichen im Gesicht versehen: Master Mirror, den wir als Händler Gaunter O’Dimm aus dem Prolog des Hauptspiels in Weißgarten kennen, entpuppt sich als übernatürliches Wesen und hilft Geralt aus einer misslichen Lage. Im Gegenzug erwartet er von Geralt, ihm beim Lösen von drei Aufgaben zu helfen – und versieht den Hexer mit einem Zeichen seiner Schuld, direkt im Gesicht.

Die von Gaunter O’Dimm auf Geralts Schläfe gebrannten Zeichen. Quelle: The Witcher 3: Wild Hunt, Addon Hearts of Stone, PS4.
Sehr zu meiner Freude erinnerten mich die beiden eingebrannten Symbole auf Geralt Schläfe an Schriftzeichen, mit denen ich mich im letzten Jahr viel beschäftigt habe: der tibetischen Schriftsprache bod skad (བོད་སྐད).
Ein kleiner Exkurs ins klassische Tibetisch
Das bod skad, im Deutschen meist klassisches Tibetisch genannt, ist ein sogenanntes dbu can-Alphabet, was “mit Kopf” bedeutet. Damit ist die ‘Wäscheleine’ gemeint, an der jeder Buchstabe hängt, also die Kopflinie der Schreibzeilen. Der Aufbau des Alphabets ist dem unseren, lateinischen nicht unähnlich: Es verfügt über 30 Konsonanten und die gleichen 5 Vokale wie wir: a, e, i, o und u.
Besonders ist dabei, dass jeder Konsonant bereits einen Vokal inherent hat, nämlich das a. Steht nichts weiteres dabei, wird also in der Regel das a mitgesprochen. Erst durch Markierung mit speziellen Vokalzeichen werden die anderen vier Vokale eingebaut. Die Vokalzeichen sind die Linien über oder unter dem Buchstaben, die ihr hier im Bild seht, und die an jeden beliebigen der 30 Grundbuchstaben angefügt werden können.

Das untere Schriftzeichen entspricht einem ‘cha’, das obere ähnelt stark dem ‘nya’ des tibetischen Alphabets.
Lasst uns nach diesem Crashkurs tibetischer Schriftzeichen also zurück zu Geralt kommen. Wer möchte, kann ja einmal die Tabelle mit den Symbolen auf Geralts Schläfe abgleichen. Das untere Zeichen wird recht schnell ersichtlich: Es handelt sich um das ཆ cha, den zweiten Buchstaben der zweiten Zeile. Das obere Zeichen ist etwas schwerer zu entziffern. Das liegt vor allem daran, dass sich die tibetischen Schriftzeichen in unterschiedlichen Druck-Fonts und Handschriften stark unterscheiden (Vielleicht aber auch daran, dass die Zeichen auf Geralts Gesicht garnicht aus dem Tibetischen stammen und das untere nur zufällig genau wie das cha aussieht. Wer weiß?). Nach etwas Geknobel und Gesuche fällt jedoch die Ähnlichkeit zum ཉ nya, dem vierten Buchstaben der zweiten Zeile, am stärksten auf. Die darin vorhandenen Stiftschwünge oben links können problemlos zu einem durchgängigen Kreis verbunden werden.
Wir können also vertreten, dass auf Geralts Schläfe der folgende Ausdruck steht:
ཉ་ཆ་ nya cha
Der hochgestellte Punkt ་ zwischen den beiden Zeichen, der sogenannte tsheg, dient im Tibetischen wie unser Leerzeichen als Trenner zwischen den Silben und Worten.
Suchen wir den Ausdruck nya cha nun im Wörterbuch, etwa dem Nitartha-Onlinewörterbuch des Nitartha-Instituts für Buddhistische Studien in Seattle oder dem analogen Standardwerk, dem Tibetan-English Dictionary von Heinrich August Jäschke, so bekommen wir heraus: Nichts. Der gemeinsame Ausdruck ist nicht lexikalisiert, also kein feststehender Begriff. Die beiden Bestandteile haben jedoch einzeln sehr wohl eine Bedeutung, die sich zu einer gemeinsamen verbinden lässt. nya bedeutet dabei “Vollmond”, während cha die Seite, ein Teilstück oder einen Aspekt eines damit verbundenen Gegenstands markiert. Als nya cha könnten wir also jede beliebige Seite des Mondes bezeichnen, ein Stück Fels vom Mond oder eine Eigenschaft des Mondes, etwa das Spiegeln von Sonnenlicht.
Spiegeln?
Gehen wir also davon aus dass nya cha ‘Mondvorderseite’ oder auch ‘Spiegeln des Mondes’ bedeutet. Das dürfen wir! Denn Tibetisch ist eine enorm kontextabhängige Sprache. Tibetische Schriftsteller lassen sehr gern haufenweise Informationen aus ihren Sätzen heraus, die sich Leser:innen aus den vorherigen Sätzen oder gar den Leseumständen erschließen müssen. Angenommen, nya cha stünde in einem vollständigen Text, dann könnte es, je nach vorhergegangenem und nachfolgendem Satz, irgendeine der folgenden Bedeutungen haben:
“Der Mond spiegelt.”
“Der Mond hat eine Vorder/Rückseite.”
“Ich habe/ Er hat einen Stein vom Mond.”
“Er/Sie/Es ist wie der Mond.”
Und so weiter. Wie ihr seht, können ebenfalls sowohl die Person als auch der Kasus und die Zeitform des Satzes unmarkiert sein und sich einzig aus den umliegenden Textstellen erschließen. Nehmen wir nya cha nun also als alleinstehenden Text, so sind wir mit ‘Mondspiegeln’ völlig im Rahmen der interpretierbaren Bedeutung.
Ihr habt bestimmt schon bei der Überschrift dieses Abschnittes aufgehorcht, denn wenn es einen Begriff gibt, um den sich das Mysterium von Hearts of Stone rankt wie um keinen anderen, dann ist es der Spiegel beziehungsweise Mirror. Gaunter O’Dimm, Master Mirror, der Mann aus Glas. Der Mond, der nicht selbst leuchtet, sondern lediglich das Licht der Sonne auf die Erde zurückwirft, ist in gewisser Weise der ultimative Reflektor; eine Art natürlicher Superspiegel. Erst recht in einer Fantasywelt, in der aus der Stellung der Himmelskörper magische Kraft geschöpft werden kann. Die Konjunktion der Sphären, also die Katastrophe, die Jahrtausende vor der Handlung der Hexer-Romane Magie und Monster aus einer Paralleldimension in die Welt gebracht hat, wird im Intro von The Witcher 3: Wild Hunt als eine bestimmte Sternzeit auf einem Astrolabium dargestellt. Himmelskörper haben damit eine tragende Bedeutung in der magischen Dimension von The Witcher, weshalb sie auch für Master Mirror von großer Bedeutung sind.
Besonders, wenn man sich das Ende der finalen Hauptquest Was ein Mann säht… von Hearts of Stone ins Gedächtnis ruft, wird klar, dass es sich dabei wohl kaum um einen Zufall handelt. Nachdem Geralt und Olgierd von Everec am vereinbarten Treffpunkt, dem Tempel von Lilvani eintreffen, gesellt sich auch Gaunter O’Dimm zu ihnen, indem er vor einem beeindruckenden Vollmond vom Himmel herabsteigt wie auf einer Treppe. Olgierd, dessen Pakt mit O’Dimm nach Vereinbarung erst gelöst werden kann, wenn sich die beiden auf dem Mond begegnen, ist davon wenig beeindruckt, da er das Treffen im Vollmondschein nicht als solches akzeptiert. O’Dimm wirbelt daraufhin den Sand vom Boden des Tempelgeländes und offenbart, dass die drei auf einem Neumondmosaik stehen, womit der Wortlaut des Paktes erfüllt sei. Es bestehen also wenig Zweifel, dass der Spiegelmeister in besonderer Verbindung zum Mond steht. Das Treffen auf dem Mond beziehungweise im Schein des Mondes mag sogar ein wichtiges Werkzeug für O’Dimm sein, seine Bezahlung aus den Verträgen, die er eingeht, einzutreiben, nämlich die Seelen seiner Vertragspartner. Vielleicht ist es ihm außerhalb dieser besonderen Konstellation überhaupt nicht möglich, einen solchen gewalttätigen Kraftakt zu vollbringen? Es kann allerdings auch sein, dass er seine Kräfte zwar aus der Spiegelung des Mondes zieht, dem bombastischen Auftritt am Ende von Was ein Mann säht… aber aus purer Theatralik vollführt. Dass der Mann aus Glas ein Faible für dramatische Inszenierung hat, zeigt er im Zuge von Hearts of Stone ja durchaus immer wieder.
Es scheint also, als hätte Gaunter O’Dimm Geralts Gesicht mit seinem persönlichen Markenzeichen gebranntmarkt! Zumindest, wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der Zeichnung tatsächlich um tibetische Schriftzeichen handelt. Die Ähnlichkeit wäre allerdings verblüffend und die passende Bedeutung ein wahrhaftiger Glücksgriff, wenn sich CD Projekt Red hier nur zwei Fantasiesymbole ausgedacht hätten. Vielleicht gibt es ja im Witcher-Universum tatsächlich irgendwo ein Äquivalent zu unserer buddhistischen Gebirgsnation. Dass es Weltenwanderern möglich ist, mitunter bis ins europäische Mittelalter vorzudringen, wird ja bereits im abschließenden Roman der Hexer-Reihe Die Dame vom See enthüllt. Auch The Witcher 3 lässt uns in der Hauptquest Durch Zeit und Raum einen Blick in völlig andere Sphären werfen. Vielleicht hat sich irgendwann einmal ein einsamer Schriftgelehrter aus dem Himalaya nach Velen verirrt?
Vielleicht doch Glagolitisch?
Eine werte Kommentatorin dieses Beitrags hat außerdem darauf hingewiesen, dass es sich bei der Schrift auch um glagolitische Zeichen handeln könnte, der ältesten bekanntesten slavischen Schrift. Das passt natürlich historisch ausgezeichnet zum Sitz von CD Projekt Red in Polen. In diesem Fall könnte das obere Zeichen ein N sein (našь, gesprochen “nasch”), das untere entweder ein D (dobro) oder ein L (ljudije). Wie im Tibetischen gilt jedoch auch hier: es existieren viele verschiedene Ligaturen des glagolitischen und in vielen ähneln sich ganz unterschiedliche Buchstaben. Möglicherweise handelt es sich also bei beiden auch um andere Zeichen.
Ob ND oder NL polnische Abkürzungen sind, konnte ich leider nicht herausfinden. Tatsächlich existiert jedoch die Abkürzung “n.d.” im U.S.-amerikanischen Handelsrecht, die für ‘not deeded’ stehen kann. Das bedeutet “nicht erfüllt” und bezieht sich auf eine noch ausstehende Zahlung in einem Vertragsverhältnis.Vielleicht hat sich CD Projekt Red hier also ein kleines Easter Egg erlaubt und Gaunter O’Dimm seinen Schuldner mit englischer Juristerei markieren lassen.
Behandeltes Spiel:
The Witcher 3: Wild Hunt. 2015. Erweiterung Hearts of Stone. 2015. Entwickler/Publisher: CD Projekt Red. PC/PS4/Xbox One [Behandelte Plattform: PS4].
Genutzte Literatur:
Caumanns, Volker. Skript zum Klassischen Tibetisch. Uni Hamburg.
Jäschke, Heinrich August. A Tibetan-English Dictionary. Forgotten Books: London.
Das ist nicht tibetisch, sondern glagolitisch. Google mal. Alle Wörter wurden im Spiel Buchstabe für Buchstabe aus dem Englischen in Glagolitische umgeschrieben. Auch alle Plakate und Wanted-Plakate…