Zeit. Zufall. Elitismus! Wenn „Destiny“ Vorsehung heißt, warum basiert dann so vieles auf dem Zufall?
Seit ich im Jahr 1993 das erste Mal neben meinem Bruder an seinem 486er[1] saß und über seine Schulter beim Klicken durch das Abenteuer von Indiana Jones und dem Schicksal von Atlantis zuschauen durfte, hatten mich digitale Spielen in ihren Bann gezogen. Nach einigen Point & Click-Adventures und vielen Jahren des Spielens, die mir spannende Geschichten vom angeblichen Untergang der Stadt Atlantis oder eines unfähigen Möchtegern-Piraten auf dem Weg zu Ruhm und Gold erzählten, wurde ich das erste Mal zu einer LAN-Party eingeladen. Gemütliches Klicken und Kombinieren war hier selbstverständlich fehl am Platz und alle, die in ihrem Leben jemals eine LAN-Party besucht haben, wissen wieso. Vielmehr geht es darum, möglichst viele Punkte im Death Match- oder Capture The Flag-Modus von Unreal Tournament oder Quake zu erzielen, indem möglichst schnell die Freunde via Fadenkreuz und Schusswaffe vom Bildschirm getilgt werden.
Destiny war mein Schicksal
In einem kleinen Raum. Fünf pubertierende Jungs, die eigentlich noch viel zu jung für solche Spiele waren. Und obwohl weder Schalter noch Gegenstände oder Hinweise per Klick mit dem Cursor kombiniert werden mussten, fand ich schnell Gefallen an der Jagd nach Punkten, um der Beste unter meinen Freunden zu werden. Als dann der Sprung von der LAN-Party ins Internet kam, wollte ich nicht nur mit meinen Freunden, sondern mit Menschen aus der Welt spielen, die meine Begeisterung teilten. Nette Bekanntschaften und ein überdurchschnittliches Talent für das Auslöschen anderer Avatare konnte mich jedoch nicht davon abhalten, die Begeisterung an diesen einfachen ‚Schießspielen‘ wie Counter-Strike (2000) zu verlieren. Dieser Verlust der Begeisterung wurde zudem von einer recht unfreundlichen Community begleitet. Lief etwas nicht wie geplant, wurde rasch eine schuldige Person auserkoren, die sich dem Spott und Hohn der anderen Mitspielenden aussetzen musste. Dabei wurde nicht mit verbalen Schlägen unter die Gürtellinie gegeizt.
Also hielt ich über die Jahre Ausschau nach anderen Multiplayer-Ego-Shootern, die dem Genre einen neuen Anstrich verliehen. Nach einem kurzen Abstecher in die MOBA-Szene[2], die interessant und abwechslungsreich, aber ebenso von Unfreundlichkeit vergiftet war, erschien im Jahr 2014 der Shooter Destiny, der mich durch sein hervorragendes Gunplay[3] in seinen Bann zog. Neben dem Aspekt des Schießens bot mir der Titel etwas Frisches und Neues: die Möglichkeit ein Abenteuer im Weltall zu bestreiten und zugleich einen ansprechenden kompetitiven Spielermodus, der durch die besonderen Fähigkeiten der einzelnen Klassen neuen Schwung brachte. Obgleich es mir letzterer Modus angetan hatte, schätzte ich auch das Abschließen von abwechslungsreichen Mission und das Allerbeste war, dass ich bislang noch nie eine solche nette Community kennenlernen durfte. Dies mochte an der guten Balance zwischen Einzelspieler*innen- und Mehrspieler*innenmodus liegen. Spielerinnen und Spieler gingen offen aufeinander zu, waren freundlich, halfen einander auf Missionen einander und organisierten sich selbstständig auf unterschiedlichen Foren, um zusammen neue Ausrüstungsgegenstände zu erspielen. Doch waren erstmal alle Story-Missionen sowie Hauptquests abgeschlossen, trat die unaufhörliche, repetitive Art des Erstehens von mächtigen Gegenständen, auch ‚grinding’ genannt, in den Vordergrund.
I don’t have time for that!
Die Spielerfahrung musste einem schnellen Abschluss von Missionen weichen. Dies bedeutete nicht nur, dass Aktivitäten in der Spielwelt möglichst effizient abgeschlossen werden mussten – man wollte ja keine Zeit verlieren, um seinen Avatar mit den stärksten Items auszustatten – sondern, dass auch das freundliche Miteinander passé war. Vor allem litten Mehrspieler-Missionen, die darauf ausgelegt waren, mit mindestens zwei weiteren Spielenden zu kooperieren. Ging es nicht schnell genug oder starb eine Mitstreiterin oder ein Mitstreiter zu häufig, wurden Aktivitäten ohne Rücksprache mit dem Team kurzerhand abgebrochen. Selbstverständlich erst nach einer Tirade übler Beschimpfungen. Schuld daran waren die großangelegten Mehrspieler-Missionen („raids“), die noch stärkere Ausrüstung garantierten. Nur musste hierfür ein Mindestlevel des Avatars erreicht sein, um dieser überhaupt Herausforderung beizutreten. Wer möchte schon gerne warten, wenn es um tolle Ausrüstung geht? Zeit ist nun mal Geld. Oder Rüstung. Oder Handfeuerwaffe. Oder ein sonstiges tolles Item, das allen da draußen zeigt, was man so erspielt hat.
Wer also Teil eines Teams werden wollte, das die großen Abenteuer des Raids ergründete und dabei fette Beute machte, musste sich zunächst unter großen Zeitaufwand seinen Weg in Gefilde der Würdigen erspielen. Klingt legitim. Allerdings waren die besten Stücke der Destiny-Waffenkammer nicht einfach erspielbar. Einige wurden nach abgeschlossenen Aktivitäten zufällig an die teilnehmenden Spielenden ausgeschüttet. Klingt fair? Nun, immerhin hatten so alle eine faire Chance auf etwas ganz Tolles. Niemand wurde bevorzugt. Allerdings hatte Destinys Entwickler*innenteam Bungie die Rechnung ohne die Community gemacht. Das meist ersehnte Objekt der Begierde – Gjallarhorn – war eines der zufällig ausgeschütteten Items. Warum es so begehrt war? Die Geschosse dieser Panzerfaust suchten sich nicht nur automatisch ihr Ziel, sondern teilten sich nach dem ersten Auftreffen in weitere zielsuchende Streuraketen auf. Nebenbei sei erwähnt, dass die Waffe zudem unglaublich schnell nachgeladen werden konnte und eine beeindruckende Explosionskraft aufwies.
GJALLARHORN!!!1!!11!!
Zog man also Gjallarhorn während einer Mehrspieler-Mission hervor, waren neidische Blicke garantiert. Wow! Oh! Ahhhhh! Himmelhoch jauchzend scharrten sich die anderen Avatare um den eigenen. Stimmen im Voice-Chat stellten unaufhörlich Fragen: „Wo hast Du das her?!“, und obwohl alle wussten, dass Gjallarhorn durch seine zufällige Ausschüttung überall gefunden werden konnte, dachten einige durch die Beantwortung dieser Frage mögliche Hinweis für ein baldiges eigenes Auffinden zu erhalten. Es würde schon passieren, wenn man nur fest daran glaubte und möglichst lange vor dem Bildschirm säße, um immer wieder dieselben Aktionen durchzuführen. Doch selbst nach vielen, vielen Stunden: Gjallarhorn wollte einfach nicht erscheinen. Es würde auch ein Leben in Destiny ohne Gjallarhorn geben, dachten sich wohl die Meisten. Ein Trugschluss, wie sich herausstellen sollte, denn einigen, denen die virtuellen Sterne freudig zugezwinkert hatten und denen Gjallarhorn im Inventar erschienen war, wollten ihre neuerstandene Macht nicht nur durch Ohs und Ahs im Voice-Chat bestätigt haben. Gjallarhorn war zu mächtig und die Zeit drängte schon wieder, denn wer rastete konnte den Boss im Raid nicht besiegen und bekam keine neue Ausrüstung.
Was nun geschah, hätte man vermutlich vorausahnen können. Die davonlaufende Zeit, das Streben nach stärkeren Avataren, mächtigere Ausrüstung und das damit einhergehende Aufbrausen der Community ließ nur einen Schluss zu: Spielerinnen und Spieler ohne Gjallarhorn wurden von den vielversprechendsten Aktivitäten des Spiel ausgeschlossen. Für einen Raid etwa werden sechs Teammitglieder benötigt. Wenn man diese nicht zufällig bei der Hand hat, können in Foren wie Destinylfg.net oder destinyteamfinder.com potenzielle Kameradinnen und Kameraden angeworben werden. Dies kann teilweise sehr zeitaufwendig sein. Dementsprechend muss der anschließende Raid schnell abgeschlossen werden. Zeit ist Rüstung. Zeit ist Handfeuerwaffe. Durch die schiere Kraft von Gjallarhorn würde dies viel schneller gehen und wer es nicht hatte, wäre ohnehin nur Ballast. So wurden Spielende, denen die Sterne nicht hold waren, systematisch aus dem Raid ausgeschlossen. Eine zufällig privilegierte Schicht von Spielenden entschied somit, wer würdig war, die umfangreichsten Aktivitäten von Destiny zu genießen, dabei mächtige Ausrüstung zu erbeuten und schlussendlich, wer unter dem unaufhörlich drehendem Rad des ‚grindings’ leiden musste.
Wir müssen draußen bleiben
Gjallarhorn hatte somit nicht nur die Kraft alle Endgegner*innen zu pulverisieren, sondern ebenso die Fähigkeit Gaming-Communities zu spalten. Ein vorherrschender Elitismus ging um und machte sich in den Foren der Destiny-Community breit. Selbstverständlich reagierte das Entwickler*innenteam Bungie und kündigte Veränderung hinsichtlich der Attribute von Gjallarhorn an. Dies schien die Community jedoch nur noch weiter zu reizen und führte zu aggressiveren Vorgehensweisen einzelner Community-Mitglieder. Selbst wenn Gjallarhorn bis zur Unkenntlichkeit verändert würde, sollte das elitäre Gjallarhorn-Regime weiterhin die legendäre Panzerfaust als Eintrittskarte für begehrte Aktivitäten verwenden.[4]
Die Situation entspannte sich allerdings mit der Erscheinung des DLCs Das Erwachen der eisernen Lords im Jahr 2016, als Gjallarhorn eine eigene Quest spendiert bekam und somit für alle Spielerinnen und Spieler auf die gleiche Art und Weise zu erhalten war.[5] Diese Vorgehensweise seitens Bungie zerschlug den Elitismus der Community mit einem kräftigen Schuss aus der Panzerfaust der Gleichberechtigung. Niemand konnte mehr systematisch ausgegrenzt werden oder musste Repressalien befürchten.
Dieser Paradigmenwechsel fand schließlich seinen Weg in den Nachfolger Destiny 2, der im Jahr 2017 erschien. Neben neuen Ausrüstungsgegenständen sollten auch altbekannte Waffen und Rüstungen ihren Weg in das neue Abenteuer finden. Viele Spielerinnen und Spieler spekulierten bereits vor der Veröffentlichung, ob auch Gjallarhorn unter diesen sei. Doch dieser Wunsch blieb unerfüllt. Ohnehin hatte Bungie einige Veränderung an der Art der Ausrüstungsbeschaffung vorgenommen. Viele besonders starke Waffen oder Rüstungsteile konnten nun durch dedizierte Quests erworben werden. Der Faktor des Zufalls wurde somit nahezu vollständig eliminiert. Natürlich gab es weiterhin einige Items, die zufällig ausgeschüttet wurden. Allerdings handelte es sich bei diesen um recht unbeliebte Items, die schon in Destiny 1 nur bedingt zum Einsatz kamen und somit keine große Fangemeinde aufgebaut hatten. Somit schien die Welt von Destiny wieder ins Gleichgewicht gebracht worden zu sein. Zumindest wirkte es zunächst so…
Elitists wanted?
„(…) all the loot has been made pointless and generic and the hard end-game activities are often less rewarding (…)”, wabert es aus meinen Lautsprecherboxen.[6] Es spricht der Destiny-YouTuber Darkside Royalty Lore, der allerdings überhaupt nicht zufrieden zu sein scheint über das neue System der Ausrüstungsausschüttung. So würde dem Spiel eine besondere Art der Belohnung genommen werden ohne diese Destiny 2 an Spaß und Wiederspielwert verliere. Ist dies wahr oder einfach nur egoistisch?
Elitismus ist selten bis nie erstrebenswert, muss doch eine große Gruppe von Menschen unter dem privilegierten Fortleben einer wesentlich kleineren Gruppe leiden. Selbstverständlich könnte sich die Community selbst helfen und sich utilitaristisch unter die Arme greifen. Spielerinnen und Spieler mit höherwertiger Ausrüstung könnten Schwächeren durch die Missionen helfen. Wie beschrieben hat jedoch die Vergangenheit gezeigt, dass dem nicht so ist und sich das Individuum lieber in den Vordergrund drängt, um Anerkennung für errungene Zufälligkeit zu erlangen. Dementsprechend war Bungies neuer Ansatz der richtige, fördert er doch eine gleichberechtigte Community und ein faires Miteinander. Doch was tun mit den Spielerinnen und Spielern, die unter dem Deckmantel des Elitismus nach mehr Ausrüstung lechzen?
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen
Mit der Einführung des neuen Ausschüttungssystems im Hauptspiel von Destiny 2 musste die Community nun Zeit und Arbeit für den Erhalt mächtiger Ausrüstung investieren. Diese Prozeduren wurden auch in die nachfolgenden Spielerweiterung Der Fluch des Osiris, Kriegsgeist und Forsaken übernommen. Begehrte Waffen oder Rüstungsteile sind somit zielgenau ansteuerbar. „What you see is what you get“. Doch ein kleiner Teil des Elitismus bleibt. Spielerinnen und Spieler, die mehr Zeit in Destiny 2 investieren können und dementsprechend anderen weit voraus sind, erhalten nun Quests, die Avatare mit einem sehr hohen Level voraussetzen. Auf diese Weise bietet das Spiel auch nach dem Abschluss Ausrüstungsgegenstände, die erneut neidische Blicke garantieren. Somit hat Bungie einen guten Mittelweg zur Ausschüttung von Items entwickelt, der den vorherrschenden Elitismus aus Destiny 1 auf ein Minimum reduziert.
Dennoch findet man ab und an noch einige Forenbeiträge in denen Spielerinnen und Spieler von Aktivitäten ausgeschlossen werden, sollten sie nicht die entsprechend geforderte Ausrüstung mitbringen. Bungie wird es vermutlich nie schaffen, den Elitismus der Community vollständig zu eliminieren. Dafür müsste die Struktur der zufälligen Ausschüttung von Ausrüstungsgegenständen abgeschafft werden. Eine Möglichkeit wäre, neue Waffen oder Rüstungsteile nur noch per Quest oder Spielwährung zugänglich zu machen. Somit würde allerdings der Überraschungseffekt, der durch eine zufällige Ausschüttung ausgelöst wird, abhandenkommen und dementsprechend auch ein Teil der Freude am Spiel. Eine vollständige Währungsreform sowie eine umfangreiche Queststruktur scheinen diesbezüglich am sinnvollsten um eine größtmögliche Menge der Community zu befriedigen und einen umgehenden Elitismus auszuschließen. Eine so umfangreiche Community, wie die von Destiny, jemals glücklich zu stimmen, erscheint als Sisyphus-Aufgabe. Allerdings zeigen die zahlreichen Anpassungen und Updates, wie wichtig Bungie dieses Anliegen ist. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, welche Entwicklung Destiny hinter sich hat und dass es einen langen Reifeprozess durchlaufen hat. Ist es perfekt? Nein. Was ist das schon? Aber mit ein wenig Hilfe wird es Schritt für Schritt zu einem immer besseren Massively Multiplayer Online First-Person Shooter.
[1] Der Begriff 486er beschreibt hier als Kurzform ein PC-System mit einen eingebauten Intel i486 (oder auch 80486) Prozessor, der 1989 veröffentlicht wurde. Von 1992 bis 1995 wurde der Prozessor durch seine finanzielle Erschwinglichkeit besonders populär.
[2] MOBA (Akronym aus dem Englischen: Multiplayer Online Battle Arena) definiert ein Spiele-Genre, in dem sich zwei spieler*innen-gesteuerte Gegnergruppen auf einer arenaartigen Karte bekämpfen. Dabei ist das Hauptziel des Spiels, die gegnerische Basis der Gegenspieler*innen einzunehmen.
[3] Gunplay (aus dem Englischen für ‚Waffenverhalten‘) subsumiert die programmierte Authentizität der Handhabung hinsichtlich von Waffen im digitalen Spiel. Dies meint Rückstoß, Streuung, Nachladegeschwindigkeit und weitere individuelle Waffeneigenschaften, die somit ein unterschiedliches Spielerlebnis bei den Spieler*innen fördern und zugleich einen angepassten Gebrauch und Einsatz erfordern.
[4] Vgl. ‚Cerberus SR4‘. „Calling all Gjallarhorn elites“. Abrufbar unter: https://www.bungie.net/en/Forums/Post/139678780. Stand: 16.10.2018.
[5] Vgl. ‚Schuhmann‘. „Destiny Guide: Gjallarhorn-Quest “Pracht der Zerstörung” – Rise of Iron“. Abrufbar unter: https://mein-mmo.de/destiny-guide-gjallarhorn-quest-pracht-der-zerstoerung/. Stand: 16.10.2018.
[6] ‚Darkside Royalty Lore‘. Abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=-BFnJlGqJM8 (siehe ab 4:30 min.) Stand: 16.10.2018.