Was ist eigentlich »keine« Visual Novel?
Mit der ersten Iteration der Interactive Fiction Days haben wir vor über zwei Jahren den ersten Geburtstag von Language at Play gefeiert. Am dritten Geburtstag haben wir dann zu einer zweiten Runde aufgerufen: Das Thema diesmal war enger als zuvor, denn wir haben uns auf die “Visual Novel” beschränkt. Nun gehen die Interactive Fiction Days II an den Start: Sechs Wochen lang führt euch jeden Montag ein neuer Gastbeitrag gut in die neue Woche.
Es wäre sehr einfach, eine Sammlung über Visual Novels mit einem Artikel darüber zu beginnen, was dieses ‘Genre’ eigentlich ausmacht. Man könnte einführen, indem man einen heiteren Schwank erzählt, der die Visual Novel mit dem Walking Simulator in die Ecke der interaktiven Medien stellt, die von vielen Menschen gar nicht als Spiel akzeptiert werden. Indem man eine Definition von Wikipedia, dem Urban Dictionary oder einem namhaften Glossar kopiert, oder selbst eine knackige schreibt. Damit halst man sich jedoch alle Probleme auf, die mit dem Begriff ‘Genre’ einhergehen. Am Ende schließt man zweifellos Spiele aus, die eigentlich gepasst hätten, oder man klammert solche ein, die widersinnig erscheinen. Genrediskussionen sind müßig, und deshalb wollen wir uns auch hier nicht mit einer solchen Aufhalten. “I know it when I see it” ist ein guter Kompass im Meer der genreübergreifenden Hybridspiele, der Adventures, der Roguelike-lites und eben auch der Visual Novels. Manchmal muss man nur eben etwas länger auf ein Spiel schauen, um tatsächlich zu sehen.
Deswegen macht es durchaus Sinn, die Frage zu stellen: Was sehe ich eigentlich, wenn ich es sehe?
Die meisten Spieler:innen würden wohl auf Anhieb recht klar definierte Merkmale aufzählen können: (Oft zweidimensionale) Standbilder der miteinander kommunizierenden Figuren, die vor (ebenso oft zweidimensionalen, gezeichneten) Hintergründen posieren, sowie sehr viel Text in Boxen, wobei das Lesen eben dieses Texts die meiste Spielzeit in Anspruch nimmt. Entscheidungen, die zu unterschiedlichen Enden führen, Dating-Optionen zwischen der Hauptfigur und bestimmten Nebenfiguren und das Wiederholen des Spiels mithilfe einer Textskip-Funktion, um die anderen Enden oder Datingpfade zu beschreiten, dürften ebenfalls weit oben in einer solchen Umfrage zu finden sein. Wenn wir ganz optimistisch sind, werden vielleicht auch bestimmte Themengebiete von vielen Spieler:innen wiedererkannt: Slice-of-Life-Geschichten, Horror, Gore und Thriller oder Erotik, oft im japanischen Setting oder von japanischen Autor:innen.
Es ist an dieser Stelle ziemlich leicht, jedem einzelnen Merkmal entkräftende Gegenbeweise entgegenzustellen. Eine Visual Novel braucht keine zweidimensionalen Figuren oder Hintergründe (sonst wären AI: The Somnium Files und Zero Escape: Zero Time Dilemma keine), ja nicht einmal überhaupt sichtbare Figuren. Sie braucht keine Entscheidungen, kein Dating und keine daraus resultierenden sich aufspaltenden Enden (eine der prominentesten Visual Novels überhaupt, Higurashi When They Cry, hat nichts davon). Dass die wie auch immer geartete spielerische Mechanik der behandelten Thematik keinerlei Schranken auferlegt, versteht sich geradezu von alleine. Visual Novels können andere Arten Gameplay haben, etwa Room Escape-Wimmelbilder und Puzzles (Zero Escape), Rundenstrategiesegmente (Banner Saga und Utawarerumono), Sport-Matches (Pyre) oder die Erkundung einer offenen Welt (Danganronpa und Paradise Killer). Was sonst noch in und zwischen den Kapiteln der Visual Novel passiert, ist unerheblich für ihren Status als Visual Novel. Und das macht eine allgemeine Genre-Kategorie der ‘Visual Novel’ letztlich so nutzlos wie jedes andere Genre, wenn man zu genau nachharkt. Im Prinzip kann es nicht einmal Grundlage der Kategorisierung sein, dass man eine Geschichte vor einer visuellen Kulisse liest. Jede vertonte Visual Novel würde aus der Kategorie fallen, Menschen mit Seeschwäche würde man das Genre komplett vorenthalten, und experimentelle Spiele wie Intra-System: Trust Issues beweisen, dass das Konzept einer Visual Novel auch komplett auditiv ohne Textformat funktionieren kann. Der Fokus auf Text in Boxen entspringt dem gewohnten Prototypen einer Visual Novel, auf den sich die Masse der einem selbst bekannten Visual Novels mittelt. Eine Gewohnheit der Spielart, die oft vorkommt. Nicht etwa weil sie vorhanden sein muss, sondern weil sie tradiert ist und diverse zugängliche Entwicklungs-Tools diese Tradition einfacher (re-)produzierbar machen als exzentrischere Abweichungen davon.

Danganonronpa: Trigger Happy Havoc. Quelle: Spike Chunsoft, Steam.
Am Ende wissen wir also nicht, was eine Visual Novel ist, bevor sie uns ins Gesicht springt. Damit reiht sie sich in Riege der wenigen ‘Genres’ ein, die (noch) nischig genug sind, keine etablierte Formel zu besitzen. Keine Formel, deren Merkmale uns schon tief ins soziokulturelle Gedächtnis gebrannt sind und die uns schon beim Ansehen eines Trailers genau klarmachen, was uns erwartet. Und das macht die Visual Novel doch eigentlich erst spannend.
Nicht zufrieden mit der nihilistischen Schwammigkeit einer solchen Definition? Dann seid gespannt auf nächsten Montag und die Geschichte des Genres, die unser erster Gastautor zusammengetragen hat…
So hier nochmal, was ich bereits auf Twitter kommentiert habe: Interessanter erster Beitrag, gerade da die Diskussion ja tatsächlich immer mal wieder aufkommt – vor allem wenn es um die Grenze der Gameplay-Mechaniken geht. Ist Danganronpa noch eine Visual Novel? Dann auch Ace Attorney noch? Gibt es tatsächlich sehr unterschiedliche Meinungen.
Für mich ist Visual Novel daher auch eher ein Medium als ein Genre. Es ist virtuelles lesen, unterstützt von Bildern oder Animationen. Danganronpa oder Ace Attorney sind für mich als Spiele mit Visual Novel Passagen, reine Visual Novels haben HÖCHSTENS Entscheidungen für mich. Sowas wie Zero Time Dilemma oder AI: The Somnium Files, die hier auch als Gegenbeispiel genutzt werden, sind für mich ganz klar überhaupt keine Visual Novels mehr – Story-Fokussierte Spiele, ZTD vielleicht noch ein interaktiver Film. Wenn sie VNs wären, wären Filme/Serien mit angeschalteten Untertiteln auch welche, wenn eine Visual Novel keinen geschrieben Text braucht, ist auch ein Hörspiel ein Buch – und nein, “Hörbuch” lasse ich nicht gelten :p
Also ja, Punkt ist: Visual Novels sind in ihrer Reinform für mich erstmal kein Videospiel-Genre. Sie werden halt wie Videospiele als Programme gestartet und oftmals als solche vermarktet, aber Filme sind auch keine Videospiele, nur weil man am Anfang ein Menü hat, in dem man den ganzen Film starten oder direkt zu einer bestimmten Szene springen kann. Beide können halt mit Spielen gemischt werden – bei VNs kommt dann sowas wie Zero Escape oder Danganronpa raus, bei Filmen sowas wie Heavy Rain, AI: The Somnium Files oder The Walking Dead.
Ganz, ganz toller erster Beitrag zum Thema! 🙂 Mit deiner provokanten und zugleich spannenden Fragestellung hast du auch das leidige Thema “Was ist eigentlich ein Videospiel?” (bzw. eine Visual Novel) super auf den Punkt gebracht (bzw. umgangen ;-)) und ich finde die Lösung “I know it when I see it” auch im Sinne eines “kollektiven Genreverständnisses” (vgl. u.a. Rick Altman 1999 oder Jörg Schweinitz 2006, die auf ein lebendiges filmkuturelles Genrebewusstsein hinweisen) angebracht. Mit einer solchen Definition trauen wir Spieler:innen eine verinnerlichte Fähigkeit des Rezipierens zu und gewähren Raum für Subgenres oder schwer einzuordnende Medien, wie z.B. Kinetic Novels.