Die Language at Play Spiele des Jahres 2024
Das Jahr 2024 ist fast vorbei, und damit enden eher ruhige zwölf Monate auf Language at Play. Und dennoch ist einiges passiert: Immerhin haben wir einige Calls for Abstract geteilt, die die deutschsprachigen Game Studies in den nächsten Jahren bereichern werden (einer davon ist zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung noch sehr aktuell). Dazu haben wir wie gewohnt an Büchern mitgeschrieben und durften mit Alexander Bärtl sogar ein neues Teammitglied begrüßen! Zeit wird es also, das Jahr mit einem Blick auf die Spiele des Jahres zu beenden, die unserer Redaktion besonders wichtig waren oder die großen Einfluss auf unsere nächsten Forschungs- oder Analyseprojekte genommen haben beziehungsweise noch nehmen werden. Viel Freude mit den Language at Play Spielen des Jahres 2024!
Alex
V: „Warum dich selbst aus dem Verkehr ziehen?“
D: „Weil ich ein Auto in einer Welt bin, die Menschen gehört. Potthässlich, ohne Perspektive, auf der Straße Schlägern wie dir hilflos ausgesetzt. […] Psychiater hassen Fahrzeuge. Wir haben keine Mütter.“
Was macht den Menschen aus, was die Maschine? Können nicht-biologische Entitäten eine eigene Identität mit Emotionen und Autonomie oder gar eine eigenen Seele entwickeln? Fragen wie diese drängen immer mehr ins Bewusstsein der Gesellschaft und in den Fokus ethischer und juristischer Diskurse rund um Künstliche Intelligenz. Als Ort zur Auslotung von Szenarien, in denen KI eine Persönlichkeit und damit eine ganz eigene gesellschaftliche Position besitzt, ist das Science-Fiction-Action-Rollenspiel Cyberpunk 2077 samt des Ende 2023 erschienenen Addons Phantom Liberty. Die bereits früh im Spiel auftauchende Figur des Delamain – ein von einer KI gesteuerter privater Transportservice – erscheint mit ihren in Emotionen aufgespaltenen Persönlichkeiten als anthropomorphes Individuum, obgleich sie ohne menschenähnliche Gestalt und stattdessen als Konzern in der dystopischen Welt von Night City agiert. Thema meiner nächsten Analyse wird daher sein, wie in Cyberpunk 2077 anhand sprachlicher und multimodaler Mittel Künstliche Intelligenzen vermenschlicht werden, welche Besonderheiten dadurch in der Spielerinteraktion bestehen und was dies für die Mensch-Maschine-Beziehung bedeutet. Zentrum der Untersuchung wird die oben vorgestellte Figur sein, wobei sich nicht darauf begrenzt wird. Es wird insbesondere auf linguistischer Ebene gezeigt, welche komplexen und zugleich greifbaren Mechanismen wirken, durch die im Spiel KI so menschlich wirkt und dennoch ihre ganz eigene Identität entfesselt. Denn wenn KI sowohl in ihrer Sprache als auch ihrem Habitus sukzessive Wesenszüge des Menschen aufweist, was unterscheidet uns dann noch von ihnen?
Aurelia
Dragon Age: The Veilguard ist mehr oder weniger alles, was ich mir von dem Spiel erhofft hätte: Eine oft queere Fantasy-Seifenoper, in der sympathische Held*innen sich durch die nunmehr dritte Apokalypse in zwanzig Jahren improvisieren – Thedas, du hast ein Problem – dabei wahrscheinlich nebenbei aus Versehen mindestens zwei weitere auslösen, die dann Folgetitel, sofern sie denn kommen, beschäftigen können, und am Ende gemeinsam mit ihren Freund*innen in dramatischen Szenen ein paar Elfengötter vermöbeln. Es ist bunt, es ist geradlinig, es ist manchmal ein wenig albern und es hat auf eine Art Herz, die wunderbar weit weg von der ewig ermüdenden Prämisse ist, dass Grittiness Erwachsensein oder sogar tiefe Gedanken bedeuten würde, statt (häufig) nur leeren und ziemlich langweiligen Zynismus. Dabei gefällt es mir an vielen Stellen sogar besser als das zu Recht viel gelobte Baldur’s Gate 3, auch weil Dragon Age nun einmal Dragon Age bleibt und die Reihe für mich ein besseres Gespür für ihre Figuren hat, aber das nur am Rande.
Eigentlich erwähne ich Veilguard aus einem anderen Grund an dieser Stelle, denn abgesehen davon, dass sich in dem Zusammenhang wie immer viel über Queerness und Dragon Age sagen ließe, steht das Spiel mehr auf einer Metaebene in Verbindung zu meiner aktuellen Forschung. Denn was mich im Moment am meisten beschäftigt, und interessiert sind Diskurse über Spiele und ganz besonders, wie sich diese Diskurse z.B. in der Gamespresse, aber auch sonst verändert haben. Und da ist Veilguard das neuste Beispiel dafür, was besonders viele Marginalisierte in den letzten 10-15 Jahren im Gaming erkämpft haben: Frauen sind vielseitige Figuren statt Objekten, queere Figuren sind auf eine beiläufige Art normal, die früher undenkbar war, und ein rechter Shitstorm über queere NPCs zum Release trifft zu einem guten Teil auf den Spott, den er verdient hat. Das klingt banal und ist es auch, aber wenn ich mich dabei ertappe, den Anfang des Spiels zu spielen und zu bemerken, dass ich gerade die ersten Spielstunden nur mit einer Gruppe von Frauen bestreite, und dabei plötzlich an mein Teenagerinnen-Ich denken muss, die das wahrscheinlich nie für möglich gehalten hätte, dann … Na ja, dann ist es vielleicht doch nicht so banal, sondern Teil eines langsamen und überfälligen, aber sehr guten Diskurswandels.
Erik
Ich denke, die besten Spiele – Werke überhaupt – verbindet eine Gemeinsamkeit. Sie weigern sich, den Kopf zu verlassen. Sie zwängen sich immer und immer wieder in den Vordergrund des Bewusstseins, wachsen kontinuierlich, wandeln ihre Form mit jedem erlebten Tag. Sie sind ein Wort mit tausenden Bedeutungen, das ein fast zwanghaftes Bedürfnis auslöst, es erneut lesen zu wollen. Dieses Jahr hat mich nur 1000xResist so fühlen lassen. Das Debüt des kanadischen Studios sunset visitor ist eine komplexe Sci-Fi-Story über Mütter und Töchter, Unterdrückerinnen und Unterdrückte, Verstorbene und Verbliebene, Vergangenheit und Gegenwart; über die Covid-19-Pandemie, Han in der Diaspora, die Hongkong-Proteste und intergenerationales Trauma. Die vergleichsweise kurze Erzählung von 1000xResist lebt von ihrem dichten Netz aus Figuren, ihren Beziehungen und Emotionen, mal intim und verletzlich, mal laut und gewaltvoll. Vor allem aber zeichnet 1000xResist eine Bekenntnis zu unangenehmen aber wichtigen Wahrheiten über Widerstand und eine bessere Zukunft aus. Manche Dinge können nicht bleiben. Manche Dinge verdienen keiner Vergebung. Es wundert mich, dass 1000xResist bisher kaum Aufmerksamkeit zukam, ob im GOTY-Diskurs, Artikeln oder gemessen am kommerziellen Erfolg (besonders, wenn man sich die Nominierten für Best Narrative bei den diesjährigen Game Awards anschaut, come on). Deswegen: Tut euch den Gefallen, zumindest einen Trailer zu schauen oder eine der wenigen Reviews zu lesen. Vermutlich hat seit Disco Elysium kein Spiel besser gezeigt, was das Medium erzählerisch sein kann, leisten kann.
Jenni
In Dustborn beschließt die Protagonistin Pax mit einer Gruppe von Freund*innen und Bekannten durch verschiedene Länder zu touren und sich dafür als Band auszugeben. Der eigentliche Zweck: antifaschistische Arbeit. Die Bandmitglieder sind “Anomals” und besitzen besondere Fähigkeiten, durch die sie mit sprachlichen Mitteln eine bestimmte Macht auf die Welt ausüben können. Während Pax mit ihren Kräften vor allem starke Emotionen in Menschen hervorrufen und sie von einer bestimmten Vorstellung überzeugen kann, sind andere beispielsweise zum genauen Gegenteil fähig. Sie löschen starke Emotionen aus, verursachen Schmerz oder verändern ihren eigenen Körper. Manipulationen, die in Kämpfen sehr hilfreich sein können, sind im Privatleben aber doch eher weniger gern gesehen. Hier geht es in erster Linie nicht um klassische Superheldinnen, die Menschen durch gute Taten retten, sondern um solche, die ihre Kräfte nutzen, um sich irgendwie durchs Leben zu schlagen. Das mysteriöse Event, das diese Fähigkeiten ausgelöst hat, hat die Gesellschaften sehr durcheinandergeworfen. Zusammen mit den Figuren lernt man mehr über die Ursprünge und die Auswirkungen dieser Veränderungen. Eine Protosprache wurde entdeckt, die älter zu sein scheint als die Menschheit und die die Realität selbst beeinflussen kann. Kein Wunder also, dass sich auch im Spiel, alle Linguist*innen auf ihre Erforschung stürzen. Leider allerdings nicht nur die, sondern auch alle religiösen und faschistischen Machthungrigen, die diese Gelegenheit nicht an sich vorbeiziehen lassen wollen. Die Aushandlung davon, wer entscheiden darf, wie die Welt auszusehen hat, welche Sprache verwendet werden darf, was Information und was Desinformation ist, wirft auch die Frage danach auf, ob überhaupt jemand diese Macht besitzen sollte und ob dieser jemand dadurch nicht zum Gott gemacht wird. Sprache ist hier nicht nur in Quasi-Zaubersprüchen während der aktiven Kämpfe, sondern in ihrer Essenz eine Waffe im Kampf um die neue Realität.
Pascal
Typing Games sind für mich eigentlich eher als Konzept interessant, spielen mag ich sie meistens gar nicht so gerne, bis auf wenige Ausnahmen wie Typing of the Dead oder Epistory. Als ich von der Existenz von Cryptmaster erfuhr, habe ich es zwar innerlich als spannendes Spiel für Language at Play vermerkt, aber eigentlich keinen Bedarf verspürt, es selbst zu spielen. Bis ich auf der DevGamm Lissabon im November den Writer des Spiels und Stimme des Cryptmasters persönlich traf, Lee Williams. Der hielt einen großartigen Talk voller Einblicke in die Entwicklung und insbesondere ins linguistische Puzzledesign des Spiels. Erwachsen aus einem Typing-Game-Prototypen rund um Piraten, die die Buchstaben aus den Namen ihrer Gegner schießen, ist Cryptmaster schließlich ein klassischer Dungeon Crawler geworden, bei dem jedoch alle Aktionen durch das Eintippen von Befehlen ausgelöst werden. Als Loot gibt es Buchstaben, mit denen man die Fähigkeiten und Erinnerungen der vierköpfigen Party in Form von Worten vervollständigen kann. Neben Tipp-Puzzles wie dem Erraten von Gegenständen anhand von Antworten, die der Cryptmaster auf Aktionen gibt (“Leck es ab.” – “Es schmeckt metallisch, und ist spitz!”) sprach Williams auch über die Constructed Language im Spiel und gerne er Spieler*innen mit linguistischen Mitteln trollt und veräppelt. Die im Bild gezeigte kryptische Schrifttafel beispielsweise kann von Spieler*innen im Wohnzimmer einer Antagonistin entziffert werden und bedeutet “Live, Laugh, Love”. Schließlich sprach er auch noch über die Lokalisation des Spiels, das es aktuell neben dem englischen Original auch im Spanischen gibt, voll vertont – eine riesige Leistung, die die Übersetzer*innen da vollbracht haben, schließlich mussten dafür teilweise ganze Puzzles verändert werden.
Nach dem Talk und einem Gespräch mit Williams auf der Messe war mein Interesse geweckt, und beim Spielen wurde ich nicht enttäuscht. Cryptmaster ist nicht nur ein Typing Game, es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein linguistisches Spiel. Jede Aktion, jedes Rätsel und jedes von Spieler*innen einsetzbare Verb (haha) nutzt Sprache auf eine Art, die in dieser Kombination einzigartig ist. Hier wird das Lösen von Dad Jokes zur Progressionsmechanik, die klassischen Cosy-Games-Mechaniken vom Angeln und Insektenfangen zu Fantasy-Tippspielen (und ganz nebenbei auf Zombiehorror-Art verballhornt), und das Erkunden einer Rasterkarte zur Suche nach dem semantischen Sinn. Ich muss ehrlich sein, als Dungeon-Crawler-Neuling ist es mir teilweise zu hart und gelegentlich zu langsam, aber als Linguist liebe ich dieses Spiel von vorne bis hinten.