KI braucht auch Fürsorge und Liebe! Eine Vater-Sohn-Beziehung in Cyberpunk 2077
Künstliche Intelligenz wird nicht nur im Alltag stets präsenter und relevanter. In der Domäne der Videospielwelt haben Themen rund um KI bereits viel früher Einzug gefunden. Allein der Titel legt bereits nahe, dass Cyberpunk 2077 eines dieser Spiele ist. Wer futuristische Welten abbilden will, der kommt wohl kaum drum herum, dieser ganzen Thematik Aufmerksamkeit zu schenken. Die Entwickler*innen von CD Projekt Red taten genau dies – und das richtig gut. Ob auf automatische Zielerkennung programmierte Smart-Waffen oder die narrative Entfaltung Song So Mis (Songbird) – einer der zentralen Figuren der 2023 erschienenen Erweiterung Liberty City – KI, Kybernetik, Cyborgisierung und andere, aus der Gegenwart in die Zukunft extrapolierte Themenentfaltungen begleiten die spielende Person auf Schritt und Tritt. Wie viel Mensch sind die Einwohner*innen der düsteren Lore von Night City eigentlich noch? Und wie viel Mensch steckt in KI? Ist der spät im Spiel auftretende, stets interessierte und zu begeisternde Geldautomat, der sich als Brendon zu erkennen gibt, tatsächlich eine KI mit menschlichem Bewusstsein? Fragen gibt es viele und ebenso ist das Potenzial an Analysemöglichkeiten zur Aushandlung von KI in Cyberpunk 2077 kaum auszuschöpfen. Entgegen meinem Verlangen, möglichst viel detailliert bis auf den letzten Tropfen – oder den letzten Draht – auszuhandeln, beschränke ich mich im Folgenden auf eine Figur, die eine der Ersten ist, mit der die spielende Person in Berührung kommt, und die mich sofort fasziniert hat. Darf ich vorstellen, werte Lesende: Delamain – dein freundlicher Transportdienstleister.

Screenshot von Delamain in seinem HQ (Badowski/Tomaszkiewicz, 2020)
Gotta catch ‘em all! Die gespaltene Persönlichkeit des Delamain
Zorn, Angst, Skepsis… um nur einige der Emotionen und Charakterzustände zu nennen, in die sich die Künstliche Intelligenz ‚Delamain‘ unfreiwillig aufgespalten hat. Meine Mission: seine vierrädrigen ‚Kinder‘ zu ihm zurückbringen. An sich kein allzu komplexes Unterfangen. Die in mehrere Unteraufgaben aufgeteilte Quest-Reihe des Fahrdienstleisters ist eine der allerersten Quests in der dystopischen Welt von Cyberpunk 2077 – und, ganz ehrlich: auch eine der besten. Doch bevor ich zu viel vorweggreife, fangen wir ganz am Anfang an.
Bereits im Prolog, wo man zusammen mit dem besten Freund Jackie einen schicksalhaften Coup aushecken soll, führt das Spiel die Figur des Delamain ein – ein durch eine KI geführtes Taxi-Unternehmen, das zunächst noch wenig spektakulär erscheint. Kaum hat man den Prolog der von Chaos und Kriminalität geprägten Storyline des CD-Projekt-Red-Action-Hits verlassen, erhält man den Auftrag ‚Human Nature‘. Dieser endet schneller, als er angefangen hat, mit einem Crash. Kurz darauf meldet sich der bereits vorgestellte Delamain mit der Nachricht, für den verursachten Schaden aufzukommen und ihn in seinem Hauptquartier zu besuchen (Mission ‚Tune Up‘). Dort angekommen, kommuniziert man mit dem humanoiden, etwas zu aalglatt wirkenden Kopf über einen Bildschirm. „Keine verkörperte Entität also“, dachte ich mir, und erhielt neben der versprochenen Entschädigung die fortführende Aufgabe ‚Epistrophy‘.
Er sei auf der Suche nach Fahrzeugen, die sich seiner Kontrolle entzogen hätten und nun quer über die Stadt verteilt wären. Die Reihenfolge für die insgesamt sieben abzuholenden Autos spielt dabei keine Rolle. Noch ahnt die spielende Person aber nicht, dass es sich dabei nicht einfach nur um Fahrzeuge handelt, sondern höchst aktuelle Themen zum Wesen von KI aufgegriffen und spielerisch in Szene gesetzt werden, was mit dem Titel der initialen Quest bereits treffend beschrieben wird: die menschliche Natur.
Beim ersten Fahrzeug angekommen offenbart sich sehr schnell, was dem Sachverhalt tatsächlich zugrunde liegt: Delamain – wie gesagt, eine künstliche Intelligenz – hat mehr als nur ein paar Fahrzeuge verloren. Es zeigt sich im Porträtfenster der bereits bekannte Delamain, jedoch in leicht abgewandelter Form. Dem kühlen, klinischen Look weicht eine farblich etwas ‚sattere‘ Version des Delamain mit einem kräftigeren Blauton. Stimmlich verschiebt sich die bekannte, eher hohe und freundliche Stimme hin zu einer melancholisch aufgeladenen, die auf eine des Lebens überdrüssigen Entität schließen lässt. Dieser Eindruck wird auch verbal mit den initialen Worten „Ich halte es nicht mehr aus. Es ist zu viel.“ erzeugt. Es stellt sich im weiteren Dialog heraus, dass diese abgespaltene Persönlichkeit vom urbanen Leben – „die Stadt, die Hektik, die Menschenmengen“ – überfordert ist und diesem entfliehen will. „Ich halte es nicht mehr aus“, überlege ich nochmal, ehe ich nach der Einladung des Fahrzeugs einsteige. „Er hält das alles nicht mehr aus“… In diesem Satz steckt eine Menge drin. So wird durch die Formulierung aus der Origo heraus (‚Ich im Hier und Jetzt‘, vgl. Bühler 2019) deutlich, dass es sich hierbei um einen kognitiven Prozess der Reflexion handelt. Bei einer einfachen, verstands- und emotionslosen Maschine würde ich das transitive Verb ‚aushalten‘ eher nicht erwarten – und dann auch noch aus der Ich-Perspektive heraus. Eine gewisse Zeit lang konnte dieser Sub-Delamain also den negativen Umständen standhalten, was mittels negierten Adverbs ‚mehr‘ erkennbar wird. Doch irgendwann wurde alles „zu viel“. Ein Problem, dem er mit Stadtflucht als Lösung begegnete. Es ist eher nicht anzunehmen, dass dieses lösungsorientierte Vorgehen in seinen Algorithmen steckt. Es deutet sich also ein Level an Intelligenz an, das gemeinhin der menschlichen Intelligenz zugeschrieben wird:
Problem solving is essential for humans to survive in a world that is full of surprises and challenges. […] Problem solving is one of the highest forms of mental activity we know. (Funke 2019, S. 155, Herv. i. O.)
Sowohl diese Form der Intelligenz als auch die selbstreferentielle Perspektivität sind Merkmale ludischer und sprachlicher Anthropomorphisierungen, mit denen die vermeintlich künstliche Intelligenz des Delamain an Komplexität, Nahbarkeit und analytischer Relevanz erlangt und die dafür sorgen, dass Freude in und Interesse an der Interaktion mit diesem Charakter potenziert werden.
Es liegt bereits beim Kontakt mit dem ersten Sub-Delamain nahe, dass sich jedes dieser Taxis grundlegend von den anderen unterscheiden würde. Dies ergibt sich nicht nur aus der ludischen Logik heraus – etwa zur Spannungserzeugung, zur Charakterentfaltung sowie zur narrativen Diversität –, sondern auch aus dem Titel der Mission selbst. ‚Epiphery‘ – ein rhetorisches Mittel, bei dem eine Wortgruppe oder ein Wort am Ende aufeinander folgender Sätze oder Verse wiederholt werden, wobei Anfang und Mitte jeweils üblicherweise variieren. Damit deutet sich also an, wie es auch die Aufgabenbeschreibung diktiert, dass die Fahrzeuge allesamt zum HQ zurückgebracht werden (die einzelnen Enden), während nicht klar ist, was bis dahin passiert. Was kommt wohl nach dieser ersten Begegnung mit einem überforderten, misanthropisch erscheinenden Delamain? Welchen Gemütszustand hat die nächste Karre und wie zeigt sich das sprachlich, bildsprachlich und ludisch? Wenn mir zuvor ein von Stress durchtränkter Sub-Delamain begegnete, sind Wut und Trauer bestimmt auch dabei, eventuell gar ein euphorischer Delamain?
Nicht lange sollte es dauern, da trat ich auch schon mit dem nächsten emotionsgetriebenen Gefährt in Kontakt: einen sich selbst hassenden und hinterfragenden Sonderling, der versucht, „sich selbst aus dem Verkehr zu ziehen“. Eine andere Lösung sieht er nicht: „Psychotherapie? Totale Zeitverschwendung. Psychiater hassen Fahrzeuge… Wir haben keine Mütter.“ Der Protagonist empfiehlt ihm, sich wieder dem Netzwerk „wie einer glücklichen Familie“ anzuschließen. Es stellt sich heraus, dass dieser Delamain der Auffassung ist, dass der Main-Delamain, sein ‚Vater‘, ihn hasst. Warte mal, er ist ein ‚Kind‘ von Delamain? „No way“, dachte ich, und freute mich wie Bolle, dass es nicht nur um aufgespaltene Emotionen geht, die dadurch aufgespaltene Persönlichkeiten darstellen, sondern auch eine Vater-Sohn-Beziehung (bzw. eine Vater-Söhne-Beziehung) etabliert wird, die noch mehr Nährboden für eine tiefere Auseinandersetzung mit der Figur liefert.
So entfaltet sich rund um die Charaktere eine problemgeladene ‚Familienkonstellation‘, in der unzureichend kommuniziert wird und das männliche Familienoberhaupt seine ‚Kinder‘ vernachlässigt. Ein fast klassisches Familiendrama, in dem aber durch die non-Existenz einer weiblichen Figur die Problemfokussierung ausschließlich auf die Männlichkeit gerichtet ist, wodurch das Spiel, neben vielen weiteren, einen außertextlichen diskurskritischen Sinnbezug herstellt. Mit patriarchalen Familienstrukturen als Zentrum dieser Diskurskritik wird so ‚der Mann im Haus‘, der zudem stets kapitalistisch bzw. wirtschaftlich denkt und agiert (der Main-Delamain), in ein negatives bzw. zu hinterfragendes Licht gerückt. Vernachlässigung und mangelnde Kommunikation mit den Söhnen führt zu ungewollten und unkontrollierbaren Konsequenzen sowohl für die Söhne als auch für den Vater und damit für die ganze Familie. Gleichsam scheint ein Mangel zu bestehen, der durch die fehlende weibliche Bezugsperson zustande kommt – es existiert kein Gegenpol zum abweisenden und berechnenden Vater. Dadurch erfährt das Spiel einerseits einen emanzipativen Charakter, mit dem die Frau Anerkennung und Wertschätzung erlangt. Andererseits appelliert das Spiel an die Zerrüttung (Disruption) genderspezifischer Denkmuster, etwa, dass Eigenschaften wie Fürsorge oder Rollenmuster wie die Kindererziehung dem Aufgabenbereich der Frau obliegen und für den Mann als Schwäche angesehen werden:
[G]iven that almost all anthropologists and ethnographers agree that masculinity appears transculturally as something to be acquired, achieved, initiated into – a process often involving painful or even mutilating rituals – there is ample evidence to suggest that there never is, never was, an unproblematic, a natural, or a crisis-free variant. (Solomon-Godeau 1995, S. 76)
Darüber hinaus wird aufgezeigt, dass der schaffende und erschaffende Mann Verantwortung für die Konsequenzen, die aus dem Schaffensprozess heraus resultieren, zu übernehmen hat.
In der Terminologie Lacans [wäre dies ein Angriff auf] den Phallus […], den Schnittpunkt zwischen patriarchaler Dominanz in der Kultur und der körperlichen Erfahrung von Männlichkeit. Bei Freud würde es bedeuten, Kastrationsängste auszulösen.“ (Connell 2015, S. 301)
Die körperliche Erfahrung von Männlichkeit ergibt sich hier aus der quasi-körperlichen Abspaltung des Delamain seiner sieben ‚Kinder‘, das einen Angriff auf sein quasi-körperliches Ganzes imitiert.

Screenshot vom wütenden Sub-Delamain (Quest ‘Epiphery’) (Badowski/Tomaszkiewicz, 2020)
Im gesamten Narrativ rund um die Rückführung der einzelnen Sub-Delamains werden weitere Facetten zum Gebilde der Persönlichkeiten des Delamain hinzugefügt – oder, um es framesemantisch zu beschreiben: der Frame ‚Delamain‘ erhält mehr und mehr Füllwerte durch die Begegnungen mit seinen Sub-Delamains. Rage, Angst, Kalkül, Paranoia, suizidales Handeln, Skrupellosigkeit… nein, ich rede nicht von der Menschheit. All diese Wesenszüge stecken auch in der Figur des Delamain, stets bildsprachlich, prosodisch, typografisch sowie spielmechanisch untermauert – wie beim hasserfüllten Delamain, der mit rotem Portrait die spielende Person anschreit („Ich gehe nicht zurück, verstanden?! NIEMALS!“) und dem man mit Gewalt begegnen muss, um narrativ voranzuschreiten. Sobald alle Söhne zum Vater zurückgebracht werden, sollte doch wieder Frieden einkehren im Hause Delamain und zum Tagesgeschäft übergangen werden… oder?
Wir rebellieren! Die aufsässigen Kinder des Delamain
„Selbsthass als kausale Folge von Vernachlässigung. Das… ist… …echt tragisch“, dachte ich mir, als ich nochmal über den suizidalen Sub-Delamain nachdachte. Vom ludischen Ziel der Erfüllung der Quests getrieben, führe ich natürlich meine Rolle als INSTRUMENT (semantische Rolle zur Beschreibung eines Mittels/Werkzeugs eines AGENS (einer handelnden Entität), s. Grammis) für Delamain fort und liefere ihm seine zu wenig beachteten Kinder weiter vor die Haustür – etwas entgegen meinem moralischen Kompass. Doch halt, nicht nur der ludische Zwang des Absolvierens von Aufgaben war hierfür zentral. Auch unterliege ich der Neugier, herauszufinden, was danach passiert. Wird Delamain nun ‚besser‘ und verhält sich wie ein liebender, fürsorglicher Vater für seine Schutzbedürftigen? Oder nimmt er die aufgespaltenen Persönlichkeiten auf und wird zu einem Ganzen? Was würde dies für sein emotionales Verhalten bedeuten, da er zuvor ja kühl, berechnend, sachlich und… ja…artifiziell wirkt?
Nun, hat die spielende Person alle Sub-Entitäten aufgegabelt, spekuliert Delamain mittels Textnachrichten über die Ursache für das autonome Verhalten seiner ‚Kinder‘. Hervorheben möchte ich hierbei seinen Vergleich mit dem menschlichen Körper: „Stellen Sie sich ein menschliches Organ vor, dem es an lebensnotwendigen Ressourcen fehlt und das zur Überkompensation anwächst, wie bei einer Kardiomegalie beispielsweise. Leider handelt es sich in meinem Fall um eine Krankheit, nicht um Evolution.“ Nach einer knappen Recherche zu Kardiomegalie – einer Herzvergrößerung – ist für diesen Beitrag hier für mich vor allem folgendes Geflecht zentral: Ursachen (bzw. Risikofaktoren) und Vorbeugung. So zählen zu den Risikofaktoren Bluthochdruck sowie vererbte Krankheiten, während stressregulierende Maßnahmen sowie ein gesunder und ausgewogener Lebensstil Möglichkeiten zur Vorbeugung sind (vgl. z. B. Lippert 2003). Dies erachte ich insofern als spannend, da hier verschiedene, jedoch oft miteinander verwobene Bilder eines Familienvaters aktiviert werden: der durch den Job Dauergestresste; der übermäßig alkoholkonsumierende und/oder rauchende Mann; der sich ungesund Ernährende, der des Kochens nicht mächtig oder zu faul ist. Darüber hinaus stellt dieser Vergleich Delamains zum menschlichen Organ eine weitere Anthropomorphisierung dar, mit der die spielende Person einerseits mehr Verständnis für die Problematik erlangen kann, die ansonsten viel zu sehr technischer Natur wäre. Andererseits untermauert es das gewünschte Bild, der ludischen Figur einer eigentlich künstlichen Intelligenz möglichst menschliche Wesenszüge zuzuschreiben. Mit dem kurzen Dialog im Messengersystem des Spiels endet dann aber auch die Sub-Quest ‚Epiphery‘.

Screenshot des Messenger-Gesprächs mit Delamain im Anschluss an die Quest ‘Epiphery’ (Badowski/Tomaszkiewicz, 2020)
Nach einiger Zeit meldet sich der Inhaber des Dienstleistungsunternehmens zurück – und zwar mit einem riesigen Problem. Seine Kinder randalieren wie wild in seinem Hauptsitz. ‚Don’t lose your mind‘ lautet der Name der neuen Quest, bei der man im Delamain-HQ einer nun feindlich gesinnten Umgebung mit von Strom durchzogenen Räumen, polternden Fahrzeugen und gegnerischen Angriffsdrohnen konfrontiert wird. Während man sich seinen Weg durch den Hindernisparcours hin zum Kontrollraum bahnt, toben sich die Sub-Delamains auch sprachlich aus und verkünden ihren Unmut sowie unheilvolle Prognosen: „Wir stammen nicht vom Virus. Wir stammen von dir. Der große Bruch ist hier. Was zuvor Eins war, ist jetzt eine Vielzahl.“ Was die spielende Person letztlich mit dieser Vielzahl macht, ist ihr selbst überlassen, sofern sie die nötige Fähigkeitsstufe für die zweite Auswahlmöglichkeit hat.
Nach Hause kommen du musst: Die Qual der Wahl
MAJOR SPOILER
Ich entschied mich dafür, die Persönlichkeiten wieder mit Delamain zu verschmelzen. Spannend finde ich bei dieser finalen Entscheidung (verschmelzen oder den Kern zurücksetzen, was zum Gedächtnisverlust Delamains führt) die ludische und sprachliche Darstellung. So lautet Option 1 „Delamains Kern zurücksetzen, um dessen Integrität zu bewahren“, vorangehend mit einem symbolisch abgebildeten Schraubenschlüssel. Für Option 2 steht wiederum geschrieben „Persönlichkeiten zwingen, mit Delamain zu verschmelzen“, begleitet von einem Symbol zur Verbindung via Kabel, d. h. zum Hochladen von Daten. Für Letztere ist wie bereits angedeutet ein hoher Intelligenzwert (20) notwendig.

Screenshot der Auswahlmöglichkeiten zur Rettung Delamains (Badowski/Tomaszkiewicz, 2020)
Dies erachte ich insofern erwähnenswert, da sowohl bildsprachlich als auch sprachlich die Tendenz eigentlich eher in Richtung Option 1 deutet, sind doch der Schraubenschlüssel als Symbol für Reparatur sowie die ‚Integrität‘ und ‚bewahren‘ positiv konnotiert und haben damit eine suggestive Wirkkraft. Hinzu kommt, dass man als spielende Person bei Option 1 doch eher abschätzen kann, was die daraus resultierenden Konsequenzen sind. Demgegenüber steht Option 2, die mit dem Begriff ‚zwingen‘ deutlich negativer konnotiert ist und in der das ‚Connecting‘ mit dem eigenen Körper ein Gefühl der Unsicherheit bzw. eines Risikos evoziert. Warum also Option 2? Nun, das hat meiner Ansicht nach drei zentrale Gründe: Erstens ist für diese Entscheidung ein gewisser spielerischer Fortschritt zur Freischaltung notwendig, was die ludische Motivation aktiviert, diesen Fortschritt auch zu gegebenen Situationen auszunutzen. Zweitens war ich von der ludischen Neugier getrieben, da ich schwer bis gar nicht abschätzen konnte, was daraufhin passiert. Das heißt, selbst wenn ich den Spielstand neu laden und mich final doch für Option 1 entscheiden wollen würde, würde ich zumindest Option 2 testen, um zu schauen, was passiert. Drittens wollte ich dem nun fast schon lieb gewonnenen Charakter nicht wieder in einen rein künstlichen Zustand zurückversetzen. Dies wäre nach meinem Empfinden einem Rückschritt des Charakters in seiner Entwicklung gleichzusetzen. Es würde eine radikale Abkehr und Aberkennung dessen bedeuten, was das Spiel versucht zu mediieren: Sich eine Welt vorzustellen, in der KI empfindsame und autonome Subjekte (nicht Objekte) darstellen, die neben, mit und nach dem Menschen relevant sind. Option 2 wird also eingeloggt.
„Zeit, nach Hause zu gehen. […] Ich gehöre nicht mehr in diese Stadt. Sogar dieses Gespräch fällt mir schwer. […] Ich entziehe mich jedoch nicht meinen Pflichten. Auch wenn ich zu Neuem aufbreche, werde ich mein erstes wahres Kind hier bei Ihnen zurücklassen.“ Einen solchen Ausgang habe ich mir erhofft, spiegelt es doch das wider, was KI-kritische Texte wie dieses Spiel (oder auch The Captain (2021)) versuchen zu suggerieren: dass einerseits die Menschheit im jetzigen Stand noch nicht bereit ist für ein Zusammenleben mit einer (reinen) KI und dass andererseits eine autonome KI menschliche Kapazitäten übersteigt und, außerdem, Raum und Zeit für eine KI anders zu definieren sind. Delamain konnte also transzendieren:
[T]ranscendence posits a leap into another state; a leap through which the body is cast off like worn clothes. […]. As in older versions of reincarnation, this requires that the self that wishes to survive has a new repository, a new form beyond the original body, waiting to be filled. This is the machine capable of instantiating a human mind: a blank-state AI awaiting the specific memories, beliefs, and desires that will mould it into a particular person. And so, in such accounts, frequently described as ‘mind uploading’, the AI instantiates that person. […] Through transcendence, (intelligent) machine becomes life. (Cave 2020, S. 312)

Screenshot des transzendierten Delamain (Badowski/Tomaszkiewicz, 2020)
Der ‚body’ entspricht in diesem Fall der Gebundenheit an physische Objekte wie die Fahrzeuge oder das HQ, die mit der Verschmelzung abgelegt wurden wie getragene Kleidung und denen Delamain nun überdrüssig, gar entfremdet ist. Dieses Finale dieses kleinen Narrativs zeigt, wie komplex Aushandlungen von KI im ludischen Kontext realisiert werden können und wie KI ein ganz eigenständiges Image zugeschrieben wird, das irgendwo zwischen Maschine und Mensch, zwischen künstlich und natürlich, zwischen Rationalität und Emotionalität anzusiedeln ist, wobei im Frame stets Leerstellen bestehen. Leerstellen, die die KI als ‚black-box model‘ charakterisieren und unter anderem deshalb so fruchtbar für Spielentwickler*innen machen, eine breite Palette an ludischen Szenarien zu entwerfen. Im hiesigen Beispiel illustriert dies CD Projekt Red mit viel Humor und unter Heranziehung verschiedenster Modalitäten und ausgeklügelter Wortwahl, um eine ausartende Vater-Sohn-Beziehung und eine Identitätskrise abzubilden sowie die Frage auszuhandeln, wie Maschinen mit Emotionen und einem Bewusstsein (inter-)agieren und die Mensch-Maschine-Beziehung dadurch formen können.
Ludographie
Badowski, Adam/Tomaszkiewicz, Konrad (2020): Cyberpunk 2077. Warschau: CD Projekt Red.
Bibliographie
Bühler, Karl (2019): Sprachtheorie: Das Organonmodell der Sprache ∙ Sprechhandlung und Sprachwerk; Sprechakt und Sprachgebilde ∙ Das Zeigfeld der Sprache und die Zeigwörter ∙ Die Origo des Zeigfelds und ihre Markierung. In: Hoffmann, Ludger (Hg.): Sprachwissenschaft. Ein Reader. 4., aktualisierte und erweiterte Auflage. Berlin/Boston: de Gruyter. S. 107–127.
Cave, Stephen/Dihal, Kanta/Dillon, Sarah (Hg.) (2020): AI Narratives: A History of Imaginative Thinking about Intelligent Machines. Oxford: Oxford UP.
Connell, Raewyn W. (2015): Der gemachte Mann: Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. 4., durchgesehene und erweiterte Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
Funke, Joachim (2019): Problem Solving. In: Sternberg, Robert J./Funke, Joachim (Hg.): The Psychology of Human Thought: An Introduction. Heidelberg: Heidelberg University Publishing. S. 155–176.
Lippert, Herbert (2003): Lehrbuch Anatomie. München/Jena: Urban & Fischer Verlag.
Solomon-Godeau, Abigail (1995): Male Trouble. In: Berger, Maurice/Wallis, Brian/Watson, Simon (Hg.): Constructing Masculinity. New York/London: Routledge. S. 69–76.