Das Spiel mit der Farbwahrnehmung in Gris
Die wunderbar gezeichnete Figur, die man bei Gris spielt, ist eine junge Frau, die in einer zunächst sehr bunten Welt zauberhaft für uns singt. Plötzlich aber verliert sie ihre Stimme und fällt scheinbar endlos in eine farblose Welt hinab. Im Laufe des Spiels erarbeitet sie sich die verloren gegangenen Farben der Welt wieder zurück. Auch wenn es vielleicht nicht das erste ist, woran man bei Farben denkt, ist die Anordnung dieser Level aus linguistischer Sicht sehr auffällig.
Unterschiedliche Farbbezeichnungen
Die erste Farbe, die sie zurückgewinnt, ist das Rot, das die Wüstenlandschaft beleuchtet, die sie durchquert. Nach dem darauf folgenden grünen Wald kommt sie in eine blaue Unterwasserwelt und zuletzt wird die Umgebung schließlich in gelbes Licht getaucht. In dieser Reihenfolge entdeckt man erstaunliche Parallelen zu der Nutzung sogenannter Farbwörter in verschiedenen Sprachen.
Schwarz und weiß | → | Rot | → | Gelb oder Grün | → | Grün oder Gelb | → | Blau | → | Braun | → | Grau Rosa Orange Violett Grau, etc |
Wir unterscheiden eine große Menge an Farben. Es wäre nun also nicht unwahrscheinlich, dass die Einordnung, welche dieser Farben eine eigene Kategorie bekommt und welche nicht, in verschiedenen Sprachen arbiträr – also mehr oder weniger zufällig – stattfindet. Bei verschiedenen Untersuchung von Farbwörtern stellten der Anthropologe Brent Berlin und der Linguist Paul Kay allerdings schon ab dem Jahr 1969 fest, dass dem nicht so ist. Sie haben insgesamt fast 100 Sprachen daraufhin untersucht, wie viele Grundfarben in ihnen unterschieden werden und in welcher Reihenfolge diese auftreten, das heißt welche Grundfarbwörter man zum Beispiel in einer Sprache findet, die nur drei davon hat.
Als Grundfarbwörter zählen nicht nur rot, gelb und blau, aus denen man alle anderen Farben mischen kann. Weitere Kriterien für Grundfarbwörter sind, dass sie nicht mit anderen Worten zusammengesetzt (hellblau, zitronenfarben) oder kürzlich aus anderen Sprachen entlehnt sein sollen. Außerdem darf ihre Denotation – also der Bereich, den sie beschreiben – nicht mit der anderer Worte überlappen. Scharlach und Türkis sind somit keine Grundfarben, weil sie zu rot beziehungsweise blau zählen. Man könnte vereinfacht sagen, dass es grundlegende Farben aus dem Allgemeinwortschatz der untersuchten Sprache sind.
In den Studien stellten Berlin & Kay fest, dass alle untersuchten Sprachen Wörter für Weiß und Schwarz haben. Hat eine Sprache nur ein einziges weiteres Grundfarbwort, dann ist dieses immer Rot. Bei vier und fünf Grundfarbworten treten Grün und Gelb in beliebiger Reihenfolge auf, danach Blau und noch vor allen weiteren Farben Braun.
Das namensgebende Grau (Spanisch: Gris) tritt hier als Kategorie erst nach braun in der letzten Stufe (mit unter anderem rosa, orange und violett) auf, also nur ergänzend, wenn alle oben genannten Farbwörter in einer Sprache schon existieren. Das heißt natürlich nicht, dass Unterschiede zwischen diesen Farben von Sprechern ohne diesen speziellen Begriff für die Farbe nicht wahrgenommen werden – sie bekommen nur keine eigene Kategorie. Grau etwa wird dann einfach als Mischung aus Schwarz und Weiß bezeichnet.
Farben im Spektrum
Die Fokalfarben – also die typischen Vertreter einer Farbe, an die man sofort denkt, wenn man das Wort hört – stimmen sprachübergreifend stark überein. In den meisten Sprachen ist man sich also einig darüber, was beispielsweise ein typisches Rot ist und kann dieses als universellen Fixpunkte im Farbenspektrum ansehen. Diese Konsens darüber, wie ein Farbvertreter auszusehen hat, legt seinen entsprechenden Farbbereich fest.
Die Arbeiten von Berlin und Kay bilden eine sehr gute Grundlage für die Farbwortforschung und haben auch noch ihre Gültigkeit, Natürlich gab es in der Forschung nach 1969 bis heute aber noch weitere Erkenntnisse. Ganz so eindeutig sind Unterteilung und Anordnung nämlich nicht.
Wie auch in allen anderen Bereichen des Sprachvergleichs ist es wichtig zu bedenken, dass natürlich nie tatsächlich alle Sprachen der Welt untersucht werden können. Eine vermeintliche Allgemeingültigkeit entpuppt sich oftmals als Ergebnis der eigenen Quellenwahl. In einigen Sprachen können Farben auch schon in “früheren Stufen” auftreten als angenommen, wie beispielsweise Grau als vierte Farbe nach Schwarz, Weiß und Rot. In Bantu-Sprachen aus Süd- und Mittelafrika und auch einigen anderen Sprachen werden Grün- und Blau-Töne nicht grundlegend unterschieden. Trotzdem wird Braun als Grundfarbwort angegeben. Dass in Gris die Farben Blau und Gelb vertauscht sind, passt diesen neuen Erkenntnissen nach somit auch ins Muster.
Wichtig ist zu verstehen, dass dies natürlich nicht heißt, dass diese Farben von den Sprechern nicht wahrgenommen werden. Sie bekommen nur kein eigenes Farbwort zugewiesen. Der Bereich, der von diesem bezeichnet wird, hängt sehr davon ab, welche Farbwörter die Sprache noch hat. Hätten wir im Deutschen zum Beispiel kein Wort für Violett, dann könnte diese Farbe auch von angrenzenden Bereichen (rot, rosa, blau, braun) abgedeckt werden (was früher auch so war) und deren Denotation würde sich dementsprechend erweitern.
Später auftretende Grundfarbwörter entstehen dadurch, dass zwischen bereits bestehenden Fokalfarben neue etabliert werden. Grau “entsteht” als neue Fokalfarbe zwischen Weiß und Schwarz, Braun zwischen Gelb und Schwarz, Orange zwischen Rot und Gelb und Violett zwischen Blau und Rot.
Erkenntnisse aus der Farbwortforschung
Dass Muttersprachler von Sprachen ohne Wörter für Orange oder Gelb diese beiden Farben in Tests manchmal verwechseln, spricht laut einigen Forschungsansätzen dafür, dass Sprache unser Denken beeinflusst. Hier ist aber sehr fraglich, ob sie die beiden Farben wirklich nicht unterscheiden oder nur die Begriffe nicht eindeutig zuordnen können. Würde in Deutschland jemand fragen “Was hiervon ist Violett und was Lila?”, hätten wir für die richtige Antwort wohl eine 50/50-Chance, obwohl wir doch begrifflich zwischen beiden unterscheiden. Das liegt daran, dass sie im Farbspektrum relativ nah beieinander liegen und wir außerdem im Alltag sehr selten überhaupt zwischen ihnen unterscheiden müssen. Würde man uns aber einen lilanen Gegenstand in die Hand drücken und sagen “Suche aus diesem Stapel das entsprechende Farb-Sample aus”, würden im direkten Vergleich vermutlich die meisten die richtige Farbe finden.
Die tatsächlich aufgestellte Behauptung, in Sprachräumen mit drei Grundfarbwörtern würde man Regenbögen nur in drei Farben sehen, hat sicherlich auch ideologische Hintergründe und ist zum Glück überholt. Man kann beispielsweise hellrote, dunkelrote und blaurote Streifen des Regenbogens problemlos auch ohne die Worte Orange und Lila beschreiben. Auch wenn ein anderer Muttersprachler vielleicht eine bestimmte Benennung erwartet, sind Farbwörter doch auch nur Namen. Die Farbwahrnehmung ist demnach unabhängig vom Wortschatz, nur die Denotation ist eine andere.
Was sich jedoch zwischen den Sprachen tatsächlich unterscheidet, sind unsere Assoziationen mit Farben. Der Sturz in die schwarz-weiße Spielwelt von Gris wird vom Spielenden als Trauma oder Depression wahrgenommen, aus der sich die Protagonistin herauszuarbeiten versucht. Wir empfinden Schwarz und Weiß als leb- und trostlos, ja sogar farblos. Sprachgruppen mit nur diesen beiden Grundfarbwörtern sehen die Welt aber natürlich nicht so. Bei ihnen haben diese Farbgruppen eine viel weitere Denotation und stehen zum Beispiel für kühl und dunkel (schwarz) bzw. warm und hell (weiß). Unsere Fokalfarben sind dort zwar auch prototypisch für diese Gruppen, umfassen aber noch sehr viel größere Bereiche im Farbspektrum als im deutschen Sprachraum.
Oft sind Farbangaben im Alltag keine Notwendigkeit, sondern können auch anders beschrieben werden. Ob der Himmel nun dunkelblau, hellblau, grau oder sonstiges ist, kann man auch ausdrücken, indem man ihn als Abend-, Mittags- oder bedeckten Himmel bezeichnet. In Homers Odyssee ist der Ozean “weinfarben”, nicht, weil die alten Griechen zwischen weinrot/violett und blau nicht unterscheiden konnten, sondern weil das Wort für unser Blau eben das gleiche war wie für unser Violett. Die Einteilung von Farben in Stufen, die nach Auftrittsreihenfolge angeordnet sind, ist zwar für uns eine gute Übersicht und eine Hilfe zum Sprachvergleich, allerdings ist schon die Annahme, dass alle Kulturen ihre Farben genau nach unserem Muster beschreiben, eine sehr eurozentrische und nicht in jedem Kontext sinnvoll. Die Farbunterschiede der verschiedenen Level in Gris werden auf jeden Fall von allen ohne entsprechende Wahrnehmungsstörung erkannt. Und dabei ist es ganz egal, ob sie eine Umgebung nun als blau oder als wasserfarben bezeichnen.
Bibliographie
- Löbner, Sebastian (2002): Semantik – Eine Einführung. Walter de Gruyter GmbH: Berlin/Boston.
- Kay, Paul; Regier, Terry: Resolving the question of color naming universals.
- The World Atlas of Language Structures (WALS).
Nachdem ich diesen Artikel nun zweimal gelesen habe. Bleiben bei mir zwei Fragen hängen. Natürlich mit Möglichkeit verbunden, dass dies schon im Text steht oder es gar nicht die Idee des Textes ist diese Fragen zu beantworten.
Zum einen Frage ich mich, ob die Farbwahl einen unterstützenden Charakter hat was die eigentliche Geschichte angeht. Schließlich verbinden wir mit Farben und Farbvariationen auch gewisse Gefühle und Stimmungen. GRIS hätte vermutlich einen gänzlich anderen Effekt, ob besser oder schlechter, wenn sich die Farbrangfolge ändern würde. Zum Beispiel erst Blau, dann Grün, dannn Rot und am Ende Gelb. Abgesehen davon, dass die Reihenfolge der Farbe auch einen ganz simplen Grund hat. Der logische Aufbau der Geschichte. Wenn es in dieser Welt schon Wasser gäbe, würde die Farbe Rot (Wüste) wegfallen oder man müsste Rot mit einer anderen Art von Landschaft verbinden. Was mir jetzt besonders auffällt, vorher auch schon, aber durch das Wissen jetzt noch deutlicher, ist die Verbindung der Farben und ihr Aufbau. Zwar steht jedes Level für eine Farbe, aber jede Farbe wird auch im nächsten Level weitergeführt. Im Waldlevel finde ich rote Akzente wie die Äpfel zum Beispiel. Unter Wasser finde ich sowohl Grüntöne als auch Rottöne und am Ende erstrahlt die Blumenpracht in allen Farben die ich wiederbelebt habe.
Die andere Frage, und die ist etwas kürzer, ist, ob es Rezensionen zu GRIS gibt, die eine andere Verbindung zu Farben haben als sie hier in Europa verbreitet sind. Wenn dem so ist verbindet sich demnach auch die Frage 1 wieder damit, ob die Farben die Geschichten unterstützen, oder dann eine eigene Geschichte erzählen.