13 Sentinels: Aegis Rim und seine Lippenbekenntnisse an queere Identitäten
Unter Fans von Visual Novels war 13 Sentinels: Aegis Rim im Jahr 2020 ein besonderer Geheimtipp. Durch eine Mischung zahlreicher Science-Fiction-Tropes – Zeitreisen, Klone, Nanomaschinen, Roboter – sowie durch seine nicht-lineare Narrative, die Spieler:innen den Plot aus Fragmenten der Erlebnisse der 13 Protagonist:innen erleben und zusammenfügen lässt, hat sich das Spiel schnell zu einem Kult-Hit entwickelt (vgl. Metacritic). Ein Aspekt der Narrative, der in queeren Communities besondere Aufmerksamkeit erhielt, war die Beziehung zwischen Tsukasa Okino und Takatoshi Hijiyama. Einerseits durch die Natur ihrer romantischen Gefühle füreinander, andererseits dadurch, dass die englische Übersetzung des Spiels nahelegt, dass Okino eine nicht-binäre Person ist.
[CN: Queerbaiting. Spoilerwarnung: Weitreichende Story-Spoiler für 13 Sentinels: Aegis Rim]
Wenn es um die Frage der Repräsentation queerer Identitäten in (Pop-)Kultur geht, ist es wichtig zu untersuchen, inwiefern diese Repräsentationen bestimmte Stereotype reproduzieren oder hinterfragen und inwiefern sich ein Werk tatsächlich zu den gelebten Realitäten queerer Personen positioniert. Im Folgenden soll die Repräsentation von Queerness[1] in 13 Sentinels anhand der Beziehung zwischen Okino und Hijiyama problematisiert werden. Unabhängig von der Intention des Entwicklungsteams werden hier homophobe und transphobe Stereotypen unkritisch reproduziert und – im Hinblick auf die Narrative des Spiels als Ganzes – ein cis-heteronormatives Weltbild als gesellschaftlicher Standard statuiert. Des Weiteren ist das Framing von Okino als nicht-binäre Person in der englischen Lokalisierung des Spiels einerseits ein im Medium selten vorzufindender Versuch der Repräsentation (vgl. Friedberg 4), verkommt im Kontext der Charakterisierung von Okino jedoch zu einem oberflächlichen Fall von Queerbaiting[2]. Zunächst kläre ich also einige Charakterdetails zu Okino und Hijiyama, die zum besseren Verständnis der Beziehungsdynamik notwendig sind. Im Anschluss werden die Beziehung zwischen beiden Charakteren vom Initialkonflikt zur finalen Auflösung beleuchtet sowie im Gesamtzusammenhang der Narrative von 13 Sentinels problematisiert.
Eine unnötig komplizierte Präambel zu Tsukasa Okino und Takatoshi Hijiyama
Bevor ich die Beziehung zwischen Okino und Hijiyama eingehend diskutieren kann, möchte ich ein paar Charakterdetails klären, die mit dem komplexen, verschachtelten Science-Fiction-Plot von 13 Sentinels zusammenhängen. Ohne zu sehr auszuschweifen: In der Spielwelt von 13 Sentinels gibt es jeweils zwei Personen, die die Namen Tsukasa Okino und Tataktoshi Hijiyama tragen. Die Protagonisten des Spieles, mit denen wir als Spielende hauptsächlich interagieren, sind genetische Klone ihrer selbst aus dem Jahre 2188. Zur besseren Unterscheidung werde ich von „Okino“ und „Hijiyama“ sprechen, wenn es um die de facto Protagonisten des Spiels geht, und von „Okino (2188)“ und „Hijiyama (2188)“, wenn es um die gleichnamigen Charaktere aus dem Jahr 2188 geht.
Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass sich der Plot von 13 Sentinels über fünf verschiedene Zeiten erstreckt – die 1940er, die 1980er, die 2020er, die 2060, und die 2100er – zwischen denen die Charaktere wiederholt hin und herreisen. Die genaue Natur dieser Zeitreisemechanik ist an dieser Stelle nicht weiter relevant (und würde tatsächlich eher für mehr Verwirrung als für mehr Klarheit sorgen) , und für dieses Essay sind hauptsächlich die Handlungsabschnitte interessant, die sich in den 1940ern und den 1980ern abspielen.
Der emotionale Konflikt zwischen Okino und Hijiyama
Zu Beginn des Spiels[3] lernen sich Hijiyama und Okino in den 1940ern kennen. Okino ist zunächst als Kiriko Douji – die Tochter eines angesehenen Wissenschaftlers – verkleidet und es wird schnell klar, dass Hijiyama – unter der Annahme, dass es sich hierbei nicht um eine Verkleidung handelt – romantische Gefühle für Okino/Douji entwickelt. Hajiyama soll als Pilot eines so genannten „Sentinels“ – die namensgebenden Riesenmechs der Spielwelt – in den Krieg ziehen. Doch bevor es dazu kommt, folgt er Okino/Douji durch ein Portal in die 1980er. Hier findet er heraus, dass die Identität von Kiriko Douji lediglich eine Verkleidung war und es sich bei Okino (zumindest dem japanischen Originaltext folgend) um einen Mann handelt. Hijiyama ist von dieser Enthüllung verwirrt und verunsichert im Hinblick auf seine eigene sexuelle und romantische Orientierung. Das Spiel macht klar, dass Hijiyama nach wie vor romantische Gefühle für Okino hegt und ihm nah sein möchte. Es ist dieser Moment, der den Auftakt des Subplots zwischen Okino und Hijiyama bildet. Dieser Auftakt – zumindest, soweit es die Entwicklung der romantischen Gefühle der beiden Protagonisten betrifft – birgt das Potenzial für emotionales, charakterliches Wachstum auf Seiten Hijiyamas. Er weist seine Gefühle für Okino nicht kategorisch ab, sondern nimmt sie scheinbar zum Anlass, sein Selbstbild kritisch zu hinterfragen. Es ist verständlich, dass eine Figur, die im Japan der 1940er aufgewachsen ist – eine Zeit, in der Homosexualität dort als Perversität angesehen wurde –, Schwierigkeiten damit haben würde, sich die eigene queere Identität einzugestehen und diese sofort anzunehmen.
At this time [1930s &1940s], Japan shared with European nations, particularly Nazi Germany, an interest in “race improvement” and both the state and the media were proactively engaged in promulgating eugenicist policies […] which took an extremely functional view of human sexuality. One result of this discourse was an increased polarity in gender roles resulting in women being cast as mothers whose purpose was to produce workers for the empire, and men being regarded as fighting machines, part of the “national body” (Ishida et al. 36)
Gleichsam macht es Sinn, dass Okino in dieser Situation eine emotional reifere, aufgeklärtere Position einnimmt: Er selbst ist in den 2060ern der Spielwelt – also einer vermeintlich progressiveren Zukunft – aufgewachsen, und es wird klar, dass er sich seiner Gefühle und seiner Identität – sei es nun als homosexueller Cross-Dresser oder als nicht-binäre Person – stets bewusst ist und mit sich selbst in keinerlei Konflikt steht.
Kritisch sei an diese Stelle zu erwähnen, dass das Framing von Okinos und Hijiyamas romantischen Gefühlen im Kontext japanischer Populärkultur Stereotype darstellt, die vor allen Dingen in Manga aus dem Boys-Love-Genre (BL) relativ bekannt sind und (zumindest implizit) oft homophobe Weltbilder bedienen. Solche Narrativen sind weniger an der tatsächlichen Repräsentation der Lebensrealität schwuler Männer interessiert, sondern mehr am Bedienen der Fantasien der Konsument:innen dieses Genres. Einerseits gibt es in dieser Beziehungsdynamik jeweils eine eher feminin (Okino) und eine eher maskulin (Hijiyama) gecodete Person, was dafür sorgt, dass selbst im Kontext schwuler Liebe das Binär zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit nicht gebrochen wird (vgl. Welker 46). Andererseits sieht Hijiyama sich selbst als heterosexuell an, der sich lediglich „aus Versehen“ in einen anderen Mann verliebt hat.
He [media critic Ishida Hitoshi] notes how gay characters are never depicted as protagonists since it is the self-identified heterosexual male characters (who accidentally fall in love with other men and have sexual intercourse with them) who always assume this narrative role. Ishida also points to numerous strongly homophobic statements appearing in BL narratives. (Nagaike & Aoyama 124)
Diese narrative Dynamik findet sich auch zwischen Okino und Hijiyama wieder. Zwar sind beide im Rahmen des Plots von 13 Sentinels als Hauptfiguren anzusehen, jedoch ist auf der Ebene des Gameplays nur Hijiyama aktiv als Protagonisten steuerbar, während Okino eine Nebenrolle einnimmt, die mit den kontrollierbaren Protagonist:innen an verschiedenen Intersektionen des Plots in Kontakt tritt. Trotz dieses potenziell problematischen Einsatzes von Genre-Stereotypen könnte man an dieser Stelle durchaus noch annehmen, dass die Narrative die Dynamik zwischen den beiden Figuren als Anlass genutzt wird, selbige Stereotypen zu hinterfragen.
Die Entwicklung dieser Liebesbeziehung erscheint zu diesem Zeitpunkt für Kenner:innen ähnlicher romantischer Narrativen vielleicht schon zu vorhersehbar: Eine valide Erwartungshaltung wäre, dass Hijiyama im Laufe des Plots lernt, seine Gefühle anzunehmen und eine romantische Beziehung mit Okino einzugehen. Diese Erwartungshaltung wird im weiteren Spielverlauf dadurch untermauert, dass Okino (2188) und Hijiyama (2188) ebenfalls ein Paar waren, sodass aus dem bloßen Ineinander-verlieben fast schon ein poetisches Wieder-zusammen-finden würde.
In der Auflösung des inneren Konflikts Hijiyamas, des emotionalen Konflikts zwischen Okino und Hijiyama, sowie des Gesamtkonflikts von 13 Sentinels‘ Narrative zeigt sich jedoch, dass sich das Entwicklungsteam des Spiels scheinbar wenige Gedanken über Repräsentation queerer Identität und die eigene soziopolitische Positionierung gemacht hat.
Plotkritische Cisheteronormativität und Queerbaiting
Zunächst also der Versuch einer kurzen Zusammenfassung des letzten Aktes von 13 Sentinels: Es stellt sich heraus, dass sich die Geschichte des Spiels viele, viele Millionen Jahre in der Zukunft abspielt. Die Menschheit auf der Erde ist durch einen Vorfall im Jahr 2188 komplett ausgelöscht worden. Um dem menschlichen Fortbestehen eine Hoffnung zu geben, hatten die letzten Überlebenden – gleichnamige, genetische Ahnen der Protagonist:innen des Spiels aus dem Jahre 2188 – einen Plan in die Wege geleitet, ihr Genmaterial sowie die Ressourcen zum Terraforming erdähnlicher Planeten im Weltraum zu verteilen. Alles, was Spieler:innen im Laufe der Narrative erlebt haben, stellt sich als virtuelle Simulation heraus, die dazu dienen sollte, die Hauptfiguren des Spiels auf das „echte“ Leben auf einer neuen Erde vorzubereiten. Im Finale von 13 Sentinels zeigt sich, dass es in der fiktiven Zukunft der Menschheit, die Vanillaware ersann, keinen Platz für offen gelebte Queerness gibt. Dies lässt sich im Hinblick auf (mindestens) drei Aspekte des Plots und seiner Umsetzung feststellen: (1) die Narrative als Ganzes, (2) die Auflösung der Beziehungsdynamik zwischen Okino und Hijiyama und (3) die scheinbare Repräsentation nicht-binärer Personen in der englischen Übersetzung des Spiels.
Der narrative Abschluss des Spiels hebt Cisheteronormativität – also die Annahme, dass die gelebten Realitäten heterosexueller cis Personen eine gesellschaftliche Norm vorgeben – auf eine für den Plot kritische Ebene. Nicht nur werden heterosexuelle Beziehungen implizit als normal dargestellt – tatsächlich finden sich im Laufe des Spiels 10 der 13 Protagonist*Innen in heterosexuellen Beziehungen zusammen – sondern werden als unabdinglich für das Überleben der Menschheit angesehen. Zwar wird im Epilog des Spiels angedeutet, dass es Bemühungen geben wird, die künstlichen Intelligenzen der virtuellen Welt in die Realität der neuen Menschheit zu befördern, doch die Neubevölkerung des Planeten qua sexueller Fortpflanzung erscheint essenziell. Dies wird durch das Framing der letzten Spielmomente untermauert: Als die Hauptfiguren des Spiels aus ihrem äonenlagen Schlaf aus der virtuellen Welt erwachen, sehen wir Juro Kurabe und Megumi Yakushiji – zwei der Protagonist:innen des Spiels, die sich ebenfalls ineinander verliebt haben – wie sie einander das erste Mal in ihren nicht-virtuellen Körpern begegnen. Beide sind nackt und kurz darauf blendet die Szene zu einem idyllischen Sonnenaufgang auf dem neuen Planeten. Die Analogien zum Schöpfungsmythos, Adam und Eva und dem Garten Eden sind alles andere als subtil.
Dieses Statut der Heteronormativität weitet sich sogar auf die Beziehung zwischen Okino und Hijiyama aus.
Der Epilog des Spiels besteht aus mehreren Montagen, in denen die Protagonist:innen fünf Jahre nach ihrem Erwachen in die virtuelle Welt zurückkehren – einerseits um mit den dort immer noch hausenden künstlichen Intelligenzen zu verkehren und andererseits, um an Plänen zu arbeiten, diese Intelligenzen nach und nach ebenfalls in die neue Welt zu transferieren. In einer Szene treffen wir Hijiyama und Okino wieder, letzterer hier wieder weiblich präsentiert als Kiriko Douji. Die im vorangegangenen Abschnitt angedeutete Erwartungshaltung wird nicht nur enttäuscht, sie wird in ein bizarres, homophobes Gegenteil verzerrt. Es wird zunächst klar – durch Signale wie deutliches Erröten und Stammeln – dass sich an Hijiyamas Gefühlen für Okino nichts geändert hat und er scheint nach wie vor nicht bereit, sich diese einzugestehen. Auf die Frage von Tamao Kurabe – eine weitere Überlebende auf dem neuen Planeten – ob er Okino mögen würde, antwortet Hijiyama: „I-I don’t know about that…“
Die schlussendliche Auflösung des emotionalen Konflikts ist unerwartet. Gegenüber Okinos Selbstpräsentation als Kiriko Douji sagt er „A dress isn’t enough to get a rise out of me anymore.“ Bei Hijiyama scheint sich die homophobe Einstellung verfestigt zu haben, dass er – als sich anscheinend selbst immer noch als heterosexuell sehender Mann – trotz seiner vorhandenen romantischen Gefühle für Okino nicht in der Lage ist, mit einer Person zusammen zu sein, die er als Mann wahrnimmt.
Infolgedessen überzeugt Okino Hijiyama davon, mit ihm Zeit zu zweit zu verbringen, weil dies ja eine virtuelle Welt sei und er „sein könnte, was er will.“ Die Implikation hier ist, dass Okino in der virtuellen Realität in der Lage ist, seinen Körper so anzupassen, dass er Hijiyamas cis-heteronormativem Bild dessen entspricht, wie eine Frau auszusehen haben sollte.
Hijiyama ist zunächst überrumpelt, lässt sich jedoch auf Okinos Angebot ein. Die beiden verlassen die Szene und so endet der gemeinsame Handlungsbogen des Paares. Hijiyama – und im Zuge dessen auch Spieler:innen – müssen nichts über internalisierte homophobe Einstellungen reflektieren. Er kann seine Fantasie von Heterosexualität mit Okino in der virtuellen Welt ausleben, ohne sein Selbst- und Weltbild in irgendeiner Weise zu hinterfragen. Diese Konfliktauflösung ist beinahe schon tragisch, denn diese neue Beziehung zwischen Okino und Hijiyama ist effektiv ein Rückschritt im Vergleich zur offen gelebten homosexuellen Liebe zwischen ihren genetischen Ahnen aus dem Jahre 2188. Zudem wird eine notwendige Beziehung zwischen Geschlechtsidentität und Genitalien hergestellt, die transphobe Weltansichten bedient und darüber hinaus die von der englischen Übersetzung nahegelegten nicht-binäre Identität von Okino zusätzlich problematisiert.
Was hat es also mit der potenziell nicht-binären Identität von Okino auf sich? Während Repräsentation queerer Identitäten ohnehin bereits Mangelware im Medium Computerspiel (bzw. in popkulturellen Medien insgesamt) ist, ist gerade die Repräsentation nicht-binärer Personen bedauerlicherweise so gut wie unauffindbar. Das Framing von Tsukasa Okino scheint hier jedoch einen besonders perfiden Fall von Queerbaiting darzustellen. Wie bereits angedeutet ist der Hinweis auf Okinos nicht-binäre Identität lediglich in der englischen Übersetzung des Spiels vorhanden, in der japanischen Originsalversion jedoch nicht:
Jenseits dieser Dialogzeilen wird Okinos Geschlechtsidentität (auch in der englischen Übersetzung) zu keinem Zeitpunkt weiter thematisiert. Im Gegenteil: Okino selbst macht klar, dass er sehr rigide, konservative Ansichten über Geschlechtsidentitäten vertritt. Kurz vor dem obigen Dialog unterstellt Hijiyama ihm, dass er ja eigentlich ein Mann sei, woraufhin Okino entgegnet, dass er dies herausfinden könnte.
Die offensichtliche Implikation ist, dass Okino einen notwendigen Zusammenhang zwischen Geschlechtsidentität und dem Vorhandensein bestimmter Genitalien sieht – wie er es auch in der bereits besprochenen Szene aus dem Epilog tut. Es wird klar, dass Okino keine Sensibilität für Genderfluidität und Identitäten außerhalb eines binären Systems aufweist, wodurch die – vermutlich von der Übersetzung wohlwollend implementierte – Nahelegung einer nicht-binären Geschlechtsidentität geradezu ins Lächerliche gezogen wird. Die „Repräsentation“ ist im allerbesten Fall performatives Queerbaiting, das vielleicht ein oberflächliches Bewusstsein für Queerness signalisiert, ohne sich jedoch in irgendeiner Weise tatsächlich zu positionieren.
13 Sentinels verdeutlicht durch seine Narrative sowie durch seine Darstellung queerer Personen, dass das Entwicklungsteam kein Interesse daran hatte, regressive Gesellschaftsbilder zu hinterfragen. Im Gegenteil: Es bestärkt und idealisiert ein cis-heteronormatives Weltbild, in dem Queerness allerhöchstens eine Randerscheinung sein kann. Dieses prekäre Paradigma wird nur ironischer, wenn man über 13 Sentinels als Science-Fiction-Narrative nachdenkt: In einem Genre, das sich durch das progressive Überdenken und Hinterfragen von Gesellschaftsstrukturen auszeichnet, und in einer Spielwelt, in der interstellare Raumfahrt, das Klonen von Menschen, Nanomaschinen, sowie das Digitalisieren und Transferieren von Bewusstsein in Roboterkörper lediglich unkontroverse Plotdetails darstellen, ist es dennoch die geschlechtliche Fortpflanzung von cis Männern und cis Frauen, die als essenziell für das Fortbestehen der Menschheit angesehen wird – und das, obwohl beispielsweise in-vitro-Fertilisation und das Wachstum von Menschen in künstlichen Gebärmüttern ebenfalls im Spiel thematisiert werden.
13 Sentinels: Ein Spiegel der Gesellschaft Japans?
Ich bin überzeugt, dass diese Probleme queerer Repräsentation und das Reproduzieren cis-heteronormativer Vorstellungen ihren Weg nicht mit vorsätzlich böser Absicht in die Narrative von 13 Sentinels gefunden haben. Und während es eine weitreichende Behauptung ist, die eine eigene, tiefergehende soziokulturelle Untersuchung notwendig machen würde, so liegt die Annahme doch nahe, dass 13 Sentinels zu einem gewissen Maß ein Spiegel der Gesellschaft ist, in der es entstanden ist. Die Geschichte queerer Identitäten in Japan ist komplex und facettenreich und während es einerseits bereits seit (mindestens) den 1950ern blühenden queeren Aktivismus gibt (vgl. McLelland 2005a, 94), so existiert dort gleichzeitig heute noch (vor allen Dingen im Zuge verstärkt konservativer Politik der vergangene Jahre) die Annahme, dass Queerness etwas ist, das nur abseits des Kerns der Gesellschaft gelebt werden kann und darf, und es Ziel einer jeder Person sein sollte, dem gesellschaftlichen Ideal einer heterosexuellen Ehe zu entsprechen: „It [heterosexual marriage] also signals conforming to the expectations of good citizenship – the hegemonic “ideal” of which is embodied in the salaryman/professional housewife pairing“ (Dasgupta 173). George Kamitani – Präsident des Entwicklungsstudios von 13 Sentinels, der bereits in der Vergangenheit bei der Entwicklung von Dragon’s Crown durch die kontroverse, misogyne Darstellung seiner weiblichen Charaktere aufgefallen ist (vgl. Kain 2013 & Schreier 2013) – hatte wahrscheinlich keine bösen Absichten, sondern ist ein weiterer Ausläufer eines Diskurses, in dem es an hinreichender Sensibilisierung für die Anliegen queerer Personen mangelt. Unabhängig der Intention ändert dies jedoch nichts daran, dass die Reproduktion cis-heteronormativer Weltbilder und die Darstellung von Heterosexualität als gesellschaftlicher Standard reale Effekte haben. Die Nahelegung Butlers, dass Konstruktionen wie Sexualität, Anziehung, und Geschlechtsidentität nichts notwendig „Natürliches“ an sich haben, sondern im Interesse Machthabender (bewusst und unbewusst) instrumentalisiert werden, hat nicht an Relevanz verloren:
As Foucault and others have pointed out, the association of a natural sex with a discrete gender and with an ostensibly natural ‘attraction’ to the opposing sex/gender is an unnatural conjunction of cultural constructs in the service of reproductive interests. (Butler 524)
Es ist wichtig, diese Probleme zu erkennen, zu benennen und zu diskutieren. Es ist wichtig, mehr von der Kunst zu verlangen, mit der wir uns auseinandersetzen. Mehr als oberflächliche Lippenbekenntnisse an queere Identitäten, die keinen Platz für deren gelebte Realitäten schaffen. Spieler:innen von 13 Sentinels werden nicht magisch zu hasserfüllteren, homo- und transphoberen Menschen (vgl. Deviault/Schott 447), aber ihnen wird eine Welt präsentiert, in der es unproblematisch ist, Queerness lediglich als gesellschaftliche Randerscheinung zu kategorisieren. Gerade das Medium Computerspiel hat hier das Potenzial, Verständnis, Aufklärung, Empathie zu schaffen für Weltbilder, die eben nicht den Fußspuren konservativen, cis-heteronormativen Attitüden folgen, sondern der queeren Realität gerecht werden, die uns alle umgibt.
Über den Autoren:
Dominik Hellfritzsch hat mit seinen zwei Masterabschlüssen (Englisch/Philosophie fürs Lehramt Lehramt und Comparative Literature) einiges an akademischem Diskurs mitbekommen und sucht nun nach spielerischen Ventilen für seine Gedanken. Seit 2021 arbeitet er als freischaffender Übersetzer, Lektor und Texter und hat zeitgleich seinen Youtube-Kanal “The Hellfridge” gestartet. Zur Webseite.
Behandelte Spiele:
13 Sentinels: Aegis Rim. (2020). Developer: Vanillaware. Publisher: Atlus. Playstation 4.
Dragon’s Crown (2013). Developer: Vanillaware. Publisher: Atlus. Playstation 3/Playstation Vita.
Bibliographie:
Baculi, S. (2020). 13 Sentinels: Aegis Rim Localization Allegedly Changes Character Dialogue to Make Character ‘Non-Binary’. Bounding Into Comics. https://boundingintocomics.com/2020/09/25/13-sentinels-aegis-rim-localization-allegedly-changes-character-dialogue-to-make-character-non-binary/
Butler, J. (1988). Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory. Theatre Journal, 40(4), 519. https://doi.org/10.2307/3207893
Carter, C., Steiner, L., & McLaughlin, L. (Hrsg.). (2014). The Routledge companion to media and gender. Routledge, Taylor & Francis Group.
Dasgupta, R. (2005) Salarymen doing straight: Heterosexual men and the dynamics of gender conformity. In: McLelland, M. J., & Dasgupta, R. (Hrsg.). Genders, transgenders and sexualities in Japan. Routledge.
Deviault, C. Schott, G. (2014) Looking beyond representation. Situation the significance of gender portrayal within game play. In: Carter, C., Steiner, L., & McLaughlin, L. (Hrsg.) The Routledge Companion to media and gender. Routledge, Taylor & Francis Group.
Friedberg, J. (2015). Gender Games: A Content Analysis Of Gender Portrayals In Modern, Narrative Video Games. Georgia State University. https://scholarworks.gsu.edu/sociology_theses/52
Geekgeflüster. (2018). Queerbaiting – Der trügerische Schein einer Repräsentation. Geekgefluester.de Abgerufen 23. Oktober 2020, von https://geekgefluester.de/queerbaiting-der-truegerische-schein-einer-repraesentation
Ishida, H. McLelland, M. Murakami, T. (2005) The origins of “queer studies” in postwar Japan. In: McLelland, M. J., & Dasgupta, R. (Hrsg.). Genders, transgenders and sexualities in Japan. Routledge.
Kain, E. (2013). „Dragon’s Crown“ Developer George Kamitani Talks Gameplay, Controversy. Forbes. Abgerufen 24. Oktober 2020, von https://www.forbes.com/sites/erikkain/2013/08/16/dragons-crown-developer-george-kamitani-talks-gameplay-controversy/
McLelland, M. J. (2005a). Queer Japan from the Pacific war to the internet age. Rowman & Littlefield.
McLelland, M. J., & Dasgupta, R. (Hrsg.). (2005b). Genders, transgenders and sexualities in Japan. Routledge.
McLelland, M. J., Nagaike, K., Suganuma, K., & Welker, J. (Hrsg.). (2015). Boys love manga and beyond: History, culture, and community in Japan. University Press of Mississippi.
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Nagaike, K. Aoyama, T. (2015) What is Japanese “BL Studies?” A Historical and Analytical Overview. In: McLelland, M. J., Nagaike, K., Suganuma, K., & Welker, J. (Hrsg.). Boys love manga and beyond: History, culture, and community in Japan. University Press of Mississippi.
Ruberg, B. (2019). Video games have always been queer. New York University Press.
Schreier, J. (2013) The Real Problem With That Controversial, Sexy Video Game Sorceress [UPDATE]. Kotaku. Abgerufen 24. Oktober 2020, von https://kotaku.com/the-real-problem-with-that-controversial-sexy-video-ga-478120280
Welker, J. (2015). A Brief History of Shōnen’ai, Yaoi and Boys Love. In: McLelland, M. J., Nagaike, K., Suganuma, K., & Welker, J. (Hrsg.). Boys love manga and beyond: History, culture, and community in Japan. University Press of Mississippi.
Fußnoten:
[1] Bei den Begriffen queer und Queerness folge ich den Definitionen, die Bonnie Ruberg in Video games have always been queer verwendet, die wiederum sowohl den alltagssprachlichen Gebrauch als auch die akademische und politische Dimension des Begriffs versucht abzudecken: „Today, ‘queer’ is used in two distinct yet interrelated senses. At its most basic, queer serves as an umbrella term for people and experiences that do not conform to mainstream norm of gender and sexuality. […] The second meaning of queerness is more conceptual. […] To be queer, by this definition, is to resist the hegemonic logics that dictate what it means to be an acceptable, valued, heteronormative (or homonormative) subject. Queerness challenges dominant beliefs about pleasure and power.” (Ruberg 7)
[2] „Das Kunstwort aus den Begriffen ‚queer‘, ein Sammelbegriff für das sexuelle Spektrum außerhalb der Heterosexualität, und ‚baiting‘, was nichts anderes als Köder bedeutet, beschreibt den Prozess wie heutige Medien auf eine geheime Darstellung von LGBTQ-Strukturen setzen, z. B. Lebensweisen von gleichgeschlechtlichen Paaren porträtieren, aber eine explizite Repräsentation vermeiden. Die angebliche Repräsentation lebt allein vom Subtext.“ (Geekgeflüster)
[3] D.i. zu chronologischem Beginn, da ein Großteil der narrativen Komplexität daher rührt, dass der Plot in zeitlich zerstreuten Fragmenten vermittelt wird.
Eine Antwort
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