Das Problem mit historischer Akkuratesse in Videospielen
Eine Sache, die mich persönlich stört, in der Art, wie über historische Korrektheit in Videospielen gesprochen wird, ist die Sprache.
Ein Gastbeitrag von Michelle Janßen.
Jedes Detail, das den a-typischen ‚Gamer‘ nicht in seiner Lebensrealität einschränkt, muss historisch akkurat sein oder zumindest das widerspiegeln, was diese Menschen als historische Realität betrachten. Also gut, sprechen wir über Spiele, die zu hundert Prozent historisch korrekt sind, aber lassen wir doch nicht den Teil aus, der das Ganze auch für ‚Gamer‘ etwas erschwert: die Sprache… ode solt ich sâgen: diu sprâch?
vürt dui langes zît, altec sprâch wirde niht alz nützelich vürd diu strit um diu histôrje in deme spil vil gesên. daʒ solte langes sîn geschehen. diu sprâch von dê liut solsîn ein teil von dê strit umbe spil und spil haben. iegelich lumpe dui wo niht sêhen wil kann dui strit niht teilhaft sîn.
Damit meine Punkte nicht ganz verloren gehen, übersetzte ich den Rest mal: Die Diskrepanz zwischen einer historisch-belegbaren Realität und der von den Spieler*innen als real empfundenen Wahrnehmung standardisierter Klischees zeigt sich überdeutlich in der Sprache der Spielfiguren und NPCs. So wird von Gruppierungen, die sich von Laien als vermeidlich ‚deutschsprachig‘ identifizieren lassen, erwartet, ein veraltetes Hochdeutsch zu sprechen, dass daraus besteht, dass sie sich nach heutigen Standards gehoben und/oder sehr derb ausdrücken. Süd-, ost-, und teilweise auch nordeuropäische Bevölkerungsgruppen sprechen eine selten besser recherchierte, in jedem Fall jedoch klar abgrenzbare Sprache, die sich in den meisten Fällen an Altfranzösisch, Altitalienisch und slavische Sprachen anlehnt. Damit wird die Abgrenzung des*der Spieler*in von den vermeidlich ‚fremden‘ Gruppierungen erleichtert; durch die Sprachen entsteht eine ‚Wir gegen Die‘-Haltung, die sich in aller Regel auch in der Zielsetzung des Gameplays wiederfindet.
Interessant an dieser Spielgestaltung ist jedoch, dass Sprachen ein häufiger Anlasspunkt für Debatten rund um die historische Korrektheit sind. Gerade bei dem Titel Kingdom Come: Deliverance nutzen Spieler*innen (wobei die meisten der Diskutierenden in diesem Fall cis männlich sein dürften) die im Spiel auftauchende(n) Sprache(n), um sich gegen jene zu ‚verteidigen‘, die argumentieren, dass KCD nicht so historisch korrekt ist, wie es den Anschein macht. „Wie kann dieses Spiel nicht die Realität abbilden, wo es doch sogar die Sprachen der umliegenden Bevölkerungsgruppen rekonstruiert?“, fragen sie.
Die Antwort auf dieses Argument liegt für Linguist*innen und Mediävist*innen auf der Hand: Wenn man in einem Spiel, in dem alle Völker, die sich grob in das Muster ‚im heutigen deutschen Sprachraum liegend‘ einordnen lassen, Hochdeutsch mit einigen Schnörkeln sprechen, kann man die Sprache in keinem Fall als ein hartes Argument für die historische Korrektheit benennen. De facto ist sie sogar ein ideales Beispiel dafür, warum Spiele über das Mittelalter sich an moderne Umstände anpassen und dafür die historische Korrektheit opfern.
dô vrâge diu waz daz niht verstân mog, den dui liut dô sô sprëchen alz wen ez diu jâre sîn. sprâch vürt diu jâre machete diust alze diusen.
Man stelle sich vor, die Charaktere in Spielen würden so sprechen, wie es damals tatsächlich war. Nicht nur die ‚Gegnerparteien‘, in ihrer vermeidlich so realistischen Sprache, sondern alle. Inklusive hunderter Dialekte, Spracheinflüssen aus dem Französischen, Niederdeutschen, Italienischen und Englischen, ausgeprägten Soziolekten und vielen weiteren Variationen und Feinheiten. Kein*e Spieler*in verstünde, was gerade geschieht. Vollständige historische Korrektheit (sofern sie denn überhaupt machbar ist) würde in Chaos und Unspielbarkeit resultieren.
Interessanterweise sind es oft die gleichen Sprachschützer*innen, die auf die Traditionen der guten alten deutschen Sprache verweisen und nicht verstehen wollen, dass es bis spät in die Neuzeit keine ‚deutsche Sprache‘ gab, die diese Diskussion mitbefeuern.
Natürlich kann es nicht das Ziel sein, ein unspielbares Spiel mit einer nachgebildeten, unverständlichen alten Sprache (beziehungsweise hunderten an Untergruppierungen und Variationen dieser Sprache) zu erstellen. Worum es geht ist, dass man keine historische Akkuratheit für etwas beanspruchen kann, das aus logischen Gründen nicht ‚historisch korrekt‘ sein kann. So wie Spieleentwickler*innen die Sprache anpassen, um es nicht nur Germanistikstudierenden zu ermöglichen, ihre Dialoge zu verstehen, sollte es ihnen möglich sein, auch andere Dinge anzupassen, um Spiele für alle spielbar zu machen. Dazu gehört beispielsweise die Sperre gegen sexualisierte Gewalt, die viele Spielemacher*innen einbauen und die bei dem Titel Red Dead Redemption 2 kritisiert wurde, da sie nicht historisch akkurat sei. Weitere Beispiele sind Frauen, queere Menschen aller Art und sichtbare Diversität, was Körperformen, Altersgruppen, (Be)hinderungen, Hautfarben und Herkünfte betrifft. Diese Menschen gab es natürlich zu der Zeit, in der historische Spiele spielen, sie werden jedoch sichtbarer gemacht und/oder in ihrer Anzahl ausgebaut, beziehungsweise von unterdrückenden Stereotypen und Darstellungsarten befreit. Wenn die Menschen, die diese Zusprüche an alle, die nicht cis weiß männlich und ablebodied sind, kritisieren, gerne die Dialoge in Videospielen verstehen möchten, müssen sie sich wohl oder übel eingestehen, dass historische Korrektheit um jeden Preis vielleicht doch nicht so gut und einfach funktioniert, wie man sich das gerne vorstellt.
ich lege mîn rât für diu den diu sprâch alz nützelich vürt diu strit gebrouche maht hin: laz ëz sîn! diu kunnen ein laster nemen unt niman wirde wieder mite spiln.
Sehr schöner Artikel, der mit der Sprache ein weiteres Klischeebaustück “historischer Korrektheit” enttarnt. Gerade die “raue” (und damit für viele “authentische”) Sprache ist hetuzutage so ein blödes Standardelement von Spielen mit Mittelaltersetting geworden, dass man hier gar nicht genug darauf hinweisen kann, dass sich Menschen im Mittelalter nicht ständig beleidigt haben. 😀