Die Worte hinter den Dingen: »Heaven’s Vault«, verlorene Sprachen und Kolonialerbe
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Mit »Heaven’s Vault«, ihrem neuesten Spiel, haben inkle, die Schöpfer des hervorragenden, kolonialkritischen Steampunk-Spiels »80 Days«, Großes vor. Es ist eine Abkehr von den rein zweidimensionalen, textboxgesteuerten Dialogsystemen der vorherigen Spiele, hin zu dreidimensionalen, frei erkundbaren Welten von atemberaubender Schönheit. Und doch zeigt es alle Stärken früherer inkle-Spiele: Das tiefgreifende Dialogsystem mit hervorragend geschriebenen Zeilen, die vielschichtige Story, die sich, je nach meinen Entscheidungen, ganz anders entfalten kann, die epochale, nur in geheimnisvollen Bruchstücken angedeutete Hintergrundgeschichte der Welt. Und mittendrin zwei ProtagonistInnen, Aliya und ihr Roboter Six, die nicht auf den ersten Blick sympathisch erscheinen, weil sie, besonders Aliya, über Fehler, Abgründe und eine eigene Agenda verfügen, ganz wie echte Personen. Die Welt von »Heaven’s Vault« besteht aus Monden, verstreuten Siedlungen in einem weitläufigen Sternennebel, die von Flüssen aus Eis, Wasser und Sauerstoff verbunden sind. Mithilfe von Schiffen und Hopper genannten Teleportationsgeräten stehen diese Monde miteinander in Kontakt – auf eine desaströse Art, die nicht nur die Gesellschaftsordnung von »Heaven’s Vault« maßgeblich beeinflusst, sondern am Ende auch für das große Ganze, den finalen Plotstrang verantwortlich ist.
Eine Geschichte ohne Geschichte
Als Archäologin, als Historikerin ist Aliya ein bunter Hund im Sternennebel von »Heaven’s Vault«. Der festgeschriebene Grundsatz der auf allen bewohnten Monden verbreiteten Religion des Great Loop: Alles, was einmal passiert ist, wird wieder passieren. Jeder Tote reinkarniert früher oder später, jedes untergegangene Reich wird wieder groß. Diese Religion des Protektorats von Iox ist keine Philosophie, sondern wird wörtlich genommen: Iox glaubt, dass die Vergangenheit die Zukunft ist und umgekehrt, dass ab einem gewissen, nicht bestimmbaren Zeitpunkt also die Welt ›neu startet‹ und von vorne beginnt. Entsprechend erachten es die Gelehrten von Iox als vollkommen nutzlos, die Vergangenheit zu erforschen. Schließlich wird man oder die eigenen Nachfahren sie früher oder später selbst erleben, wenn man nur lange genug abwartet. Eine Weltanschauung, die auch politisch äußerst praktisch für Iox ist: Das Protektorat ging aus einem zerfallenen Kaiserreich hervor, an das sich die Menschheit noch erinnern kann, da es erst einige wenige hundert Jahre zurückliegt. Die Vermutung der meisten von Iox ausgenutzten Völker ist also, dass es keinen Zweck hat, sich zu wehren, da das Heilige Imperium irgendwann wieder aus dem Iox-Protektorat auferstehen und die Monde erobern wird. Iox kommt diese Art des Denkens sehr gelegen, denn insgeheim sieht sich das Protektorat längst als Reinkarnation des Kaiserreiches und fürchtet sich damit schon vor dem »zweiten Fall«, der Wiederholung des Sturzes dieses Reiches. Mit der Ideologie des Great Loop wird also vor allem der Kolonialismus des Protektorats stabil gehalten, sodass dieses nach außen weit mächtiger wirkt, als es tatsächlich ist. Gleichzeitig wird damit in Verhandlung gestellt, ob es so etwas wie ‘Geschichte’ überhaupt geben kann: Wenn die Vergangenheit nicht vergangen ist, dann kann sie auch nicht verloren gehen. Und was nicht verloren gehen kann, das hat keine Berechtigung, aufgeschrieben zu werden.
Eine Rebellin im Geiste
Aliya widerspricht dieser Weltordnung schon in ihrem bloßen Wesen: Obwohl sie nominell zu Iox gehört, da sie als Gelehrte an dessen Universität angestellt ist, glaubt sie nicht an den Loop. Sie glaubt an Geschichte, ein Konzept, dass der Religion von Iox komplett widerspricht. Ihr Motto: Was vergangen ist, das ist Geschichte, und das muss entdeckt und bewahrt werden, damit es nicht verloren geht. Mit dieser Überzeugung steht sie alleine da; so ist sie die einzige Forscherin im gesamten Sternennebel, die sich mit der antiken Schrift beschäftigt, die auf jedem Mond und dem Boden manch einer antiken Schüssel zu finden ist. Alle anderen Menschen warten schließlich einfach darauf, dass jemand die antike Schrift neu erfindet und verbreitet. Und als Historikerin ist Aliya sich der Auf und Abs von Geschichte sehr bewusst: Auf Kaiserreiche folgt der Zerfall, auf den Zerfall neue Hochkulturen, und jedes neue Zeitalter bedient sich in stärkerem oder schwächerem Maße an den Errungenschaften der vorherigen Reiche und behandelt das Erbe früherer Kulturen mit mehr oder weniger Respekt. Während der Loop den Einwohnern des Protektorats von Iox einbläut, sie steckten in einem Zustand ewiger Glorie fest, weiß Aliya, dass irgendwann auf die ohnehin schon am Ende ihrer Zeit stehende Ioxsche Herrschaft eine neue Gesellschaftsordnung folgen wird. Und obwohl sie nominell zu Iox gehört, hat sie gegen einen solchen Umschwung nicht viel einzuwenden. Aliya ist ein Kind des Unterschichtenmondes Elboreth: Eine trockene Slum-Welt, die von Iox an der kurzen Leine gehalten wird. Sie ist dort als Straßenkind aufgewachsen, bevor eine Professorin sie an die Universität von Iox geholt hat. Als ehemalige Taschendiebin hat sich Aliya ihre Straßenschläue und ihren Opportunismus erhalten: Obwohl sie im Namen von Iox handelt und die ihr dadurch gewährten Vorteile ausgiebig genießt, fühlt sie sich als Elborethierin und ist weit mehr um den Zustand ihrer Heimat besorgt als um die gefüllten Archive der Universität. Diese Verbundenheit verstärkt sich nur, nachdem sie herausfindet, dass Elboreth einst die Hauptstadt des Kaiserreichs war, die später nach Iox verlegt wurde. Dieser Zwist ist es, der auch jetzt noch Iox’ Feindseligkeit gegenüber Elboreth begründet, obwohl die eigentlichen Umstände längst niemand mehr kennt. Wenn Aliya also Artefakte findet – und das tut sie durch ihre ständigen Reisen über die reisenden Flüsse des Sternennebels häufig – dann verkauft sie diese gelegentlich lieber auf Elboreth an einen befreundeten Hehler, als sie in die Universität zu bringen.
»It’s not about the things, it’s about the history behind the things.«
Es läge hier nahe, das zu kritisieren, über Kunsthandel und Enteignung nativer Kulturen zu reden. Die Frage ist jedoch, ob »Heaven’s Vault« eine wirklich »gute« Behandlung von antiken Artefakten überhaupt anbietet oder uns SpielerInnen lediglich die Wahl zwischen Pest und Cholera bietet. Sicher können wir die antiken Bücher in die Bibliothek bringen (und dabei auch noch die Hilfe eines Bibliothekars bei der Übersetzung in Anspruch nehmen) und alte Öllampen im Archiv verstauen, aber sind wir dann besser als Indiana Jones’ notorisch problematischer gewordener Ausruf »Das gehört in ein Museum!«? Wir können die Artefakte genauso gut gegen andere Gegenstände eintauschen (auf denen wiederum neue antike Phrasen stehen, mit denen wir unsere Kenntnisse der Sprache verbessern können), aber wo landen sie dann? Einige der Entscheidungen, die mir am wenigsten Kopfzerbrechen bereiten, sind ironischerweise die am stärksten von Aliyas niederen Instinkten getriebenen: Einmal tausche ich etwa eine alte Taschenuhr gegen etwas zu essen ein. Ein anderes Mal besteche ich eine Sklavenhändlerin mit einem teuren Kupferdolch, weil ich ohne deren Informationen einfach nicht in meiner Forschung weiterkomme. Ich weiß genau, was diese Frau mit dem Dolch anstellen wird. Sie versteckt es nicht, wenn sie ankündigt, für ihre Dienste nehme sie nur »Juwelen, Schmuck oder funktionstüchtige Waffen«. Aber aus Aliyas Überzeugung heraus helfe ich der Menschheit, indem ich die Vergangenheit der Welt von »Heaven’s Vault« aufdecke. Und wer sind wir als SpielerInnen, uns über kleine moralische Verwerflichkeiten aufzuregen, wenn die Protagonistin das große Ganze im Blick hat?
Natürlich hört »Heaven’s Vault« an dieser Stelle nicht auf, Überlegungen aufzuwerfen und den postkolonialistischen Umgang mit Kulturgütern zu kritisieren. Mehrmals verändert es im Verlauf seiner Haupthandlung die Perspektive auf das Verhalten bestimmter Institutionen und Personen, darunter auch Aliya selbst, und fügt Ebene um Ebene zu unserem Verständnis der Welt an, die den ›richtigen‹ Postkolonialismus im Sternennebel komplexer und komplexer und schlussendlich unmöglich machen. Inkles »Heaven’s Vault« ist ein durch und durch antikolonialistisches Spiel, indem es sich dem Kolonialismus vollends hingibt und sich selbst anschließend kompromisslos problematisiert und kritisiert.
Wie echte historische LinguistInnen
Wir als SpielerInnen unternehmen dieses Wiederentdecken der antiken Schrift nun gemeinsam mit Aliya. »Heaven’s Vault« geht einige sehr clevere Kompromisse ein, um SpielerInnen die Erfahrung nahezubringen, eine verlorene Sprache Stück für Stück wiederzuentdecken. Zum einen ist die antike Sprache komplett ausgestorben – bis auf wenige, in Sprichwörtern konservierte Begriffe wird sie nicht mehr gesprochen, und da die entsprechende Schrift keine Hinweise auf die Laute gibt, kann die Aussprache auch nicht mehr reproduziert werden. »Heaven’s Vault« nimmt also eine Ebene der Rekonstruktion aus dem komplizierten Geflecht der historischen Sprachwissenschaft heraus und konzentriert sich vollends auf das Geschriebene. Die Schrift selbst besteht aus Symbolen, und Aliya beginnt das Spiel mit einer Art kleinem Rosettastein: Sie kennt das antike Wort für »Gott«, und kann somit die Symbole innerhalb dieses Wortes auch in anderen Worten erkennen. Da sie aus ihrer archäologischen Forschung weiß, dass sich die Kaiser des Heiligen Imperiums für Götter hielten, kann sie die Bedeutung eines weiteren Zeichens ausmachen, dass dem für »Gott« sehr ähnlich sieht. Schnell ist also das Zeichen für »Kaiser« ausgemacht. Wenn nun zwischen »Gott«und »Kaiser« ein seltsames Schlangensymbol steht, das in keinem anderen Wort vorzukommen, sondern immer allein zu stehen scheint, so lässt sich richtig vermuten, dass es wohl »und« bedeuten muss. Und mit dem Wissen um grammatikalische Marker wie diesem »und« oder »von« oder auch Personalpronomen wie »ich« kann Aliya in längeren Sätzen die einzelnen Worte trennen, wenn keine Leerzeichen gesetzt wurden. So deduziert sie Stück für Stück kleinere Phrasen, bis sie schließlich in der Lage ist, ganze Sätze zu rekonstruieren.
In der Natur verwurzelt
Dabei hilft, dass viele der Symbole, die in den Worten der antiken Sprache genutzt werden, in ihrem Aussehen an natürliche Prozesse erinnern. Die Zeichen für »Wasser« und »Fluss« beinhalten doppelte, geschlängelte Linien, »Pflanze« sieht aus wie ein Büschel Gras, »oben« ist ein Punkt auf einer hohen Linie, »unten« das gleiche Zeichen, aber mit einem negierenden kleinen Kreuz davor. Das hilft Aliya wie auch den Spielenden, Vermutungen anzustellen, die sich später als richtig herausstellen. Sprachwissenschaftler nennen eine solche wortwörtliche Abbildung eines Gegenstandes oder Konzeptes ikonisch, also bildlich. Bildet ein Zeichen nicht direkt einen Gegenstand ab, sondern bezieht sich über eine gemeinsame Eigenschaft auf ihn, dann nennt man dies indexikalisch, also zeigend. Auch damit arbeitet »Heaven’s Vault«. Das Symbol für »Gott« ist auch Teil des Wortes »heilig«, womit dieses auf eine Eigenschaft der Götter verweist – oder eben zeigt – und die Bedeutung »heilig« ableitbar macht.
Das sind clevere Mechanismen, um es Spielenden zu ermöglichen, ohne tatsächliches Fachwissen und nur mit ihrer Kenntnis über die Natur korrekte und befriedigende Schlüsse zu ziehen. Umso cleverer, da sie nicht selbstverständlich sind: Keine Sprache und nur die allerwenigsten, meist ausgestorbenen Schriftsysteme unserer Welt funktionieren so. Das Deutsche, das Englische, das Lateinische, das Japanische benutzen keine natürlich vorgegebenen Worte für bestimmte Dinge, sondern solche, die sich über eine lange Zeit im Kontext ihrer Kultur entwickelt haben. Sprachwissenschaftler nennen das arbiträr: zufällig. Jedes andere Wort könnte die gleiche Funktion erfüllen, wenn sich ein Sozialgefüge in seiner Entwicklung darauf geeinigt hätte, es zu nutzen. So erklärt sich, dass die gleichen Konzepte in den verschiedenen Sprachen der Welt unterschiedlich genannt werden, aber dennoch alle den Verweis auf dasselbe Objekt verstehen: Ob wir Baum, Tree, Arbor oder 木 (beziehungsweise Ki) schreiben oder sagen, wir beziehen uns alle auf dasselbe Konzept einer verholzten Pflanze mit Blätterkrone, Wurzeln und Rinde. Die Schrift von »Heaven’s Vault« ist nicht arbiträr. Das darf sie auch nicht sein, wenn sie Teil einer befriedigenden Spielmechanik sein soll. Schließlich möchten die Spielenden eine realistische Chance haben, selbst die richtigen Schlüsse zu ziehen und die Wörter zu entdecken, und das wäre mit einer arbiträren Sprache nur durch unfassbar viel Vergleichsmaterial mithilfe großer Teams in zahlreichen durchgearbeiteten Nächten möglich.
Eine makellose Erfahrung
Inkle trifft mit »Heaven’s Vault« einen gelungenen Kompromiss, der die Arbeit von HistorikerInnen und LinguistInnen erfahrbar abbildet und gleichzeitig auch noch eine Menge Spaß macht. Gerade durch die Kombination aus historischer »Detektivarbeit« mit genug aufdeckbaren Geheimnissen, zahlreichen Entscheidungsmöglichkeiten und wunderbar herzlich geschriebenen Dialogen baut »Heaven’s Vault« eine Welt auf, in die ich mich auch mit dem Vorwissen eines ersten Durchgangs gerne noch ein zweites Mal begebe. Denn schließlich habe ich noch nicht alle Seiten eines mysteriösen Buches übersetzt, oder einen bestimmten Mond vielleicht noch gar nicht gefunden. »Heaven’s Vault« ist inkles Meisterwerk, ein über alle handwerklichen Zweifel erhabenes Stück spielbare Literatur – und ganz abgesehen davon wohl mit die beste Repräsentation geisteswissenschaftlichen Arbeitens, die es in Spielform jemals gab.
Eine Antwort
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