Warum *Mute kein echter Mensch, aber ein guter Name ist
Christine Loves wunderbare Visual Novel Analogue: A Hate Story und der ebenso großartige Nachfolger Hate Plus finden hauptsächlich im Gespräch mit den beiden koreanischen künstlichen Intelligenzen *Hyun-ae und *Mute statt, deren tragische Vergangenheiten es im Verlauf der beiden Titel Stück für Stück zu ergründen gibt.
Während alle anderen im Verlauf der Spiele erwähnten Charaktere über ganz normale koreanische Namen verfügen, zeichnen sich *Mute und *Hyun-ae durch ihre Benennung bereits als konstruierte Persönlichkeiten aus. Genauer gesagt durch das Sternchen vor ihrem Namen, das fester Bestandteil jeder KI-Benennung in Analogue und Hate Plus ist.
Die Geschichte unserer Sprachen
Ob Christine Love dieses Konzept aus der historischen Sprachwissenschaft entlehnt hat, kann ich zwar nicht mit Sicherheit sagen, aber ich kann euch versichern, dass ein ganz ähnliches Prinzip darin genau so vorkommt. Linguisten, die sich mit der Sprachgeschichte des Deutschen, Englischen und vieler anderer europäischer und einiger asiatischer Sprachen befassen, führen diese auf einen gemeinsamen Urahnen, die sogenannten proto-indoeuropäische Sprache zurück. Aus dieser haben sich über die Jahrtausende diverse Sprachbäume entwickelt, die wir noch heute kennen: Die romanischen, die germanischen, die slavischen, ja, sogar die indischen Sprachen und viele weitere. Das klingt zunächst hahnebüchen, wird aber klarer, wenn man sich die die Ausbreitung des vermuteten indoeuropäischen Volkes vom schwarzen Meer aus nach Europa im Westen und Südasien im Osten ansieht. Um diese Völkerwanderung soll es hier jedoch nicht gehen, sondern vielmehr um die heute sichtbaren Beweise für die Verwandschaft dieser Sprachen. Lange vor der Etablierung echter historischer Linguistik fiel klugen Menschen bereits auf, dass das lateinische Wort pater, das deutsche Vater, das griechische patḗr und sogar das altindische pitár einander viel zu ähnlich sind, um auf einem Zufall zu basieren. Und als die Erkenntnis einer gemeinsamen ‘Ursprache’ Einzug in die Forschung hielt, war es natürlich ein besonders wichtiges Anliegen, diesen möglichen Ursprung zu rekonstruieren. Unter diesen Forschern waren sicher nicht nur neutrale Interessenten, sondern diverse Ausrichtungen von Fundamentalisten zu finden. Denn die Aussicht, den ‘wahren’ Namen eines Gegenstands, das Wort der ‘Urväter’ herauszufinden, war für religiöse und nationalistische Fanatiker genauso ansprechend wie für ordentliche Wissenschaftler.
Die Rekonstruktion sehr alter Worte
So begannen Sprachwissenschaftler, Gemeinsamkeiten der untersuchten Sprachen zu systematisieren und daraus Regeln aufzustellen, mit denen sich die Vorsprachen unserer heutigen Zungen immer weiter in die Vergangenheit zurück konstruieren ließen. Diese sogenannten Lautgesetze umfassten Prozesse, die offensichtlich immer zu passieren schienen, wenn ein bestimmter Laut lange genug auf eine bestimmte Art eingesetzt worden war. Das uns geläufigste dieser Gesetze ist das sogenannte Grimm’sche Gesetz, das unter anderem erläutert, wie aus einem /p/ zu Beginn einer Silbe irgendwann ein /f/ wird. Für uns ist das völlig logisch: aus dem lateinischen pater wurde im Deutschen irgendwann Vater, im Englischen father. Andere Sprachen, wie eben das altindische Sanskrit und das Griechische, haben diesen Prozess ausgelassen; auch viele romanische Sprachen wie das Spanische haben das /p/ behalten. In diesen Sprachen gelten wiederum andere Lautgesetze, die oft auch mit der Änderung von Vokalen (wie im Sanskrit pitár “erst /i/, dann /a/” statt wie in vielen anderen Sprachen “erst /a/, dann /e/ oder /i/”) zusammenhängen.
Verfolgt man nun alle festgestellten Lautgesetze in diesen Sprachen bis zu ihrem Beginn zurück und kombiniert die einzelnen Gesetzmäßigkeiten der verwandten Sprachen miteinander, so erhält man eine einzige Urform, an die man sich annähern kann. Diese rekonstruierte Form muss stets als theoretische Vermutung gekennzeichnet werden, denn wir können uns niemals sicher sein, dass Indoeuropäer tatsächlich so gesprochen haben und uns nicht noch eine Sprachentwicklung fehlt. Linguisten markieren diese konstruierten Worte also mit einem Sternchen vor dem Begriff. Das aus den obigen Beispielen rekonstruierte proto-indoeuropäische Wort für ‘Vater’ beispielsweise ist *pH₂tér: ein aspiriertes, also mit Luftausstoss versehenes /p/, ein hartes /t/, ein betontes /e/ und ein gerolltes /r/.
Kommt euch diese Schreibweise bekannt vor? Nun sind wir wieder zurück bei Analogue: A Hate Story und Hate Plus. Künstliche Intelligenzen werden mit Sternchen markiert, um sie von Menschen zu unterscheiden. Künstliche Wörter werden mit Sternchen markiert, um zu zeigen, dass wir ihre Echtheit nicht mit Sicherheit kennen. Ein großer Teil der Geschichte der beiden Spiele hat damit zu tun, dass *Mute und *Hyun-ae sehr viel mehr Mensch sind, als ihnen von ihrer Umgebung zugestanden wird. Für das Proto-Indoeuropäische fehlt uns leider ein solch sicherer Story Arc.