Die Idee hinter Lifeline – und was ein 40 Jahre altes Spiel besser macht
Ein Beitrag zu den Interactive Fiction Days von Sophia Henning.
Ich weiß noch genau, wie ich Andy Weirs Der Marsianer verschlungen habe, als das Buch 2014 erschienen ist. Die Weiten unseres Universums begeistern mich von Kindheit an. Ich mag Science Fiction, besonders, wenn sie in diesem Rahmen dennoch versucht, möglichst realistisch zu bleiben, wie es beim Marsianer eben der Fall ist. Andy Weir erzählt die Geschichte von Mark Watney, der bei einem Mars-Sturm vom Rest seiner sechsköpfigen Crew getrennt wird, welche diesen aufgrund dessen für tot erklärt. Nachdem seine Crew den Mars verlassen hat kommt Watney zu sich, flickt schnell die gröbsten Defekte an seinem Raumanzug und stellt fest: er ist ganz allein. Mit viel technischen Details und so realistisch wie möglich beschreibt Autor Andy Weir das Überleben Mark Watneys auf dem Mars. So oder so ähnlich könnte es sich vielleicht tatsächlich zutragen. Wer es bis jetzt noch nicht gemerkt hat: Der Marsianer hat mich im Sturm erobert. Aber was hat das nun alles mit Videospielen zu tun?
Lifeline: Ein Text Messenger-Adventure
Etwa zu dieser Zeit, ich weiß nicht mehr, ob es vor oder nach der Veröffentlichung der Verfilmung war, habe ich das Mobile Game Lifeline für mich entdeckt. Lifeline erschien 2015, wie der Film zu Der Marsianer, den ich übrigens ebenfalls sehr gelungen fand. Ich wage zu behaupten, dass Andy Weirs Werk die Autoren von Lifeline sicherlich inspiriert hat. In dem textbasiertem Adventure von Three Minute Games geht es um den oder die Astronaut*in Taylor. Taylor findet sich nach einem Raumschiffabsturz auf einem fremden Mond wieder. Aus der Not heraus wird ein Hilferuf ins Weltall gesendet. Ein Signal, dass ausgerechnet unser Handy erreicht. Von nun an tauschen sich der Spieler und Taylor abwechselnd über Textnachrichten aus. Das Interface des Mobile Games sieht dabei aus wie ein generischer Handy-Messenger. Mit diesen Nachrichten navigiert man Taylor indirekt durch den Überlebenskampf, man berät, gibt Anweisungen, Hilfestellungen und emotionalen Support. Dabei muss man, ganz realistisch, auch mal ein paar Stunden warten, bis man wieder eine Antwort bekommt, wenn Taylor gerade einen Mondspaziergang macht. Dadurch, dass ich nicht einfach irgendein Spiel auf meinem Smartphone spiele, sondern mein Handy tatsächlich zum Gerät im Spiel wird, mit dem ich Nachrichten austausche, steigt für mich die Immersion, das Gefühl, tatsächlich Teil der Story zu sein.
Übrigens war ich ganz überrascht, als ich das Erscheinungsjahr von Lifeline rausgesucht habe. Mittlerweile gibt es tatsächlich sieben (!) weitere Sequels. Diese schließen nicht alle an die Story von Taylor an und spielen auch nicht erneut draußen im All. Lifeline 2: Bloodline behandelt das Leben einer Teenie-Hexe. Lifeline: Crisis Line begleitet einen texanischen Detective in einem Mordfall. Lifeline: Flatline handelt von einer Patientin, die alleine im Krankenhaus eingesperrt ist – übrigens laut Beschreibung das einzige Lifeline-Spiel, das vermehrt Horror-Aspekte aufweist. Sollte ich nun euer Interesse an Lifeline geweckt haben, dann schaut doch mal im App- bzw. PlayStore vorbei, die Spiele sind jeweils für ein paar wenige Euro zu haben. Dieser Text soll jedoch kein Verkaufsgespräch werden und ich will euch nicht verzweifelt von Lifeline überzeugen. Im Gegenteil, ich möchte auf eine vertane Chance aufmerksam machen.
Eine vertane Chance
Die Idee, dass mein Smartphone tatsächlich als Smartphone und Gerät im Spiel funktioniert, finde ich wie erwähnt super. Ich mag den Gedanken daran, dass ich mich tatsächlich mit einem Menschen auf der anderen Seite der Welt, des Universums und wer weiß, wohin uns Lifeline noch führt, unterhalten könnte. Das realistische Warten auf Antwort. Gemeinsames Grübeln über eine Situation. Aber warum gibt mir das Spiel nur vorgefertigte Antworten, die ich per Berührung in mein Handy ›eintippe‹?
Das Computerspiel Zork erschien 1980 für damalige Heimcomputer. Das Textadventure kam ebenfalls nur mit Worten aus, mit denen es dem Spieler ganz kurz die Umgebung beschrieb, mehr aber nicht. Was der unsichtbare Protagonist im Spiel machen sollte, das wurde mit Befehlen in Textform eingegeben. »Open door«, »Use axe«, »Attack the Grue with a book« – Oh, das könnte vielleicht nicht so effektiv sein. Wenn ein Befehl in der Welt von Zork nicht ausführbar ist, bekommt der Spieler einen Hinweis und gibt sein nächstes Kommando ein. Trial and Error.
Ganze 40 Jahre liegen zwischen Zork und der Veröffentlichung von Lifeline. Sicherlich ist es schwerer, bei einer Story wie der von Lifeline die vorgefertigten Antwort-Optionen zu entfernen und rein auf tatsächlich eingetippte Befehle zu reagieren. Nahezu jede Antwort kann einen Scheideweg ausmachen.
if answer1:
x=respond1
elif answer2:
x=respond2
If x=respond1:
situation=a
else:
situation=b
If a:
if answer3:
y=respond3
elif answer4:
y=respond4
else:
if answer5:
y=respond5
elif answer6:
y=respond6
If y=respond5
…
Und so weiter. An dieser Stelle wollte ich nur meine alten Python-Skills rausholen, der oben beschrieben Code ist wahrscheinlich auch noch falsch. Einfach weiterlesen, bitte.
Die verschiedenen Szenarien fächern sich also immer weiter aus, die Geschichte kann viele Abzweigungen nehmen. Aber gerade eine solche Leitung (eben besagte Lifeline), deren Nachrichten offenbar nur mich als Spieler erreichen und niemanden sonst, kann doch auch mal Aussetzer haben? Würde mir Lifeline die Möglichkeit geben, meine Antworten möglichst einfach, nicht kompliziert, vielleicht auch in Kommando-Form abzuschicken, könnte mir das Spiel ja auch den dezenten Hinweis geben, dass dieser Befehl nicht auszuführen ist. Taylor könnte mir sagen, dass meine Nachricht nur in Bruchstücken ankam, dass ich es nochmal versuchen solle. Oder mir direkt das Feedback geben, dass mein Vorschlag nach keiner guten Idee klingt. Eben eine Antwort, die mir zeigt, dass mein Befehl ungültig ist und ich es nochmal versuchen soll.
Fairerweise habe ich natürlich keinerlei Einblick darin, wie aufwändig und komplex die Entwicklung eines solchen storylastigen Textadventures ist. Da es in Lifeline aber meist ohnehin nur die Wahl zwischen A und B gibt, die Taylor in generischen Antworten zuvor deutlich beschrieben hat, werden Spieler*innen ohnehin schon in eine bestimmte Richtung gelenkt. Durch Weltwissen und logisches Denken kann der oder die Spieler*in bereits einschätzen, auf was die Geschichte hinauslaufen wird. Es werden Option A oder B ohnehin in den Sinn kommen und er oder sie wird sie höchstwahrscheinlich ausprobieren, spätestens nach ein paar weiteren Nachrichten und eventuellen Hinweisen.
Ich bin mir sicher, dass bei einer solchen, meiner Meinung nach genialen Spielidee, das Smartphone mit ins Spiel zu integrieren, die Involvierung nochmal enorm gesteigert werden könnte. Gäbe es die gleichen Kommando-Optionen wie bereits 35 Jahre zuvor in Spielen wie Zork, wäre Lifeline nochmal ein ganz anderes Spielerlebnis. Die Bindung zu Taylor oder jedem anderen Protagonisten der Lifeline-Reihe wäre nochmals um einiges persönlicher. Es wären meine Antworten, die ich gebe. Und ich stelle mir vor, dass Taylor genau auf meine Nachricht antworten würde. Ich wäre tatsächlich Teil der Story.
Über die Autorin:
Sophia Henning schreibt für I Know Your Game und Red Riding Rogue, nebenher engagiert sie sich ehrenamtlich für das Charity-Projekt Aid Raid. Online findet ihr sie unter AlmightyPhi auf Twitter und auf Instagram.
Behandelte Spiele:
Lifeline. 2015. Entwickler/Publisher: Three Minute Games. Plattform: Android/iOS.
Zork: The Great Underground Empire. 1980. Entwickler/Publisher: Infocom. Plattform: PC/Mac/andere.
Eine Antwort
[…] den Interactive Fiction Days, auf Language at Play beteiligen. Dort schrieb sie über das Mobile Game Lifeline und der Idee dahinter – und was ein 40 Jahre altes Spiel besser macht. Was sie damit genau […]