Ich rette euch, Leute! – Die Ästhetik und Emotivität um ‚Frustpunk‘ (Frostpunk & Frostpunk 2)
Die Kälte rückt näher! Baut Häuser und Heizkörper, sonst werdet ihr allesamt erfrieren! Du da, los, pack mit an! … Oder willst du, dass wir alle krepieren?!
Radikal, kompromisslos, knallhart – mit dem 2018 erschienenen ersten Society-Survival-Hit Frostpunk (FP) von 11 bit studios wird die Frustgrenze der Spielendenschaft so richtig ausgereizt. Ständig mangelt es an irgendwas. Andauernd verletzen sich Leute, werden krank, sterben. Stets ist das Überleben (in) der Stadt von dir und deinen Entscheidungen abhängig. Du als Captain hast das Sagen: Wen begünstigst du? Wen reißt du ins Verderben? Welche Gesellschaftsform willst du etablieren? Wie gehst du mit Fremden um? Und soll verdammt nochmal jede*r, wirklich JEDE*R einen Beitrag leisten? Auch die Kinder? Ökonomisch betrachtet eignen sich die Bälger ja schon, um mal engere Minen nach Ressourcen auszukundschaften. Aber Kinderarbeit, really? Vielleicht nur ganz kurz, bis ich endlich Maschinen habe, die all die Arbeit erledigen.
Konfliktherde wie diese sind der moralische Knackpunkt des Spiels, das 2024 mit Frostpunk 2 (FP2) seinen Nachfolger fand. Doch nicht nur inhaltlich wird hier mit den Emotionen und dem moralischen Kompass gespielt. Erst in Synergie mit der Ästhetik erreicht das Spiel seine tragische Inszenierung, sein hohes Maß an emotiver Wirkkraft und seine fesselnde Atmosphäre.
In diesem Beitrag wird das Zusammenspiel aus Form und Inhalt beider Reihentitel näher beleuchtet und untersucht, wie dadurch die spielende Person so sehr in die dystopische, hoffnungslos erscheinende Welt gezogen wird, in der Problem- und Konfliktlösungen, verhängnisvolle Entscheidungen und reißerische Mikronarrative stetige Begleiterinnen des Spielerlebnisses sind. Von der Symbolik und Farbgestaltung über Sound- und Bildeffekte bis hin zur narrativen und persuasiven Aushandlung der Ereignisse und Krisenherde soll gezeigt werden, wieso mich (und sicherlich auch viele andere Spielende) diese Reihe so sehr in ihren Bann gezogen hat. Angerissen werden am Ende der Analyse auch Eigenheiten der jeweiligen Titel, da sie trotz ihrer thematischen und ludischen Überschneidungspunkte doch jeweils eigenständige Settings und Spielerlebnisse schaffen.
In diesem Sinne: Let’s get in, let’s get cold.
Auf Messers Schneide

Bild 1: Hmm, soll ich das altruistische Angebot wirklich hinnehmen und freiwillige Suizide zugunsten des geringeren Nahrungskonsums befürworten? (Durch Umstände ausgelöstes Ereignis in FP2)

Bild 2: Löse ich den Konflikt mit der Fraktion diplomatisch oder gewaltvoll, oder ignoriere ich ihn gänzlich? (Entscheidungssituation in FP2)
Vor- und Nachteile abwägen, sich unbeliebt machen, Risiken eingehen – bei so ziemlich jeder Entscheidung gilt es, Kompromisse einzugehen, mit sich selbst, mit dem Volk und innerhalb der ludischen Zielstellungen. Konsequenzen aus diesen Entscheidungen spiegeln sich mal unmittelbar, mal erst viel später auch optisch wider.
So etwa, wenn es darum geht, wie die spielende Person mit der Balance zwischen Arbeitskraft und Ressourcenmanagement umzugehen vermag. Weist eine Aufgabe an, drei Tage lang auf verlängerte Schichten zu verzichten, bedeutet das konsequenterweise ein Defizit für ökonomische Belange… allerdings auch die Reduktion von Unzufriedenheit und Gesundheitsrisiken (Bild 3) – Szenario 1. Gebe ich Vollgas und stocke noch so viel an Kohle (FP & FP2), Öl (FP2), Holz, Nahrung und anderen Güter auf, um der immer näher rückenden Kälte zu trotzen? Aber warte, Mist, plötzlich schnellen meine Krankheits- und Todesfälle nach oben, Hoffnung sinkt rapide ab, während der Unmut unaufhaltsam ansteigt (Bild 4) – Szenario 2. Exemplarisch schauen wir uns dieses Dilemma anhand der nicht zusammenhängenden Bilder einmal etwas genauer an und kommen auf die multimodalen Elemente (Text, Bild, Sound) zu sprechen, mit denen uns FP kontinuierlich aufzeigt, in welcher teils kritischen Situation wir uns jeweils befinden.

Bild 3: Beispielbild einer Situation mit wenig Krisenherden in FP
Szenario 1 (Bild 3): Die Ruhe vor dem Sturm
Der blaue Balken für Hoffnung weit vorne, der rote für Unzufriedenheit zu meiner Zufriedenheit nur minimal sichtbar. Die Zahl der Amputierten und der in Behandlung Befindlichen hält sich in Grenzen (s. unter den Balken). Unten links das befriedigende Häkchen als Indikator dafür, eine Aufgabe (bald) gemeistert zu haben; ein gesundes Gleichgewicht in der Ressourcenleiste ganz oben… na gut, mit der Nahrung sieht es jetzt nicht ganz so rosig aus, aber dafür kann ich heizen wie bekloppt. Aktuell nur ein einziger Krisenherd mit den undankbaren Londoner*innen, der aber auch bald geregelt sein sollte. Die Erforschung einer neuen Technologie hat gerade erst begonnen, die Erlassung eines neuen Gesetzes wird auch noch dauern (s. Zahnrad & Waagschale unten). Ein Expeditionsteam ist bald zurück und bringt Güter (s. oben rechts). Der Tag neigt sich dem Ende zu. Ganz gelassen beenden die Bewohner*innen ihre Arbeit und kehren allmählich in ihre Häuser zurück, nachdem die im Vergleich zum Morgen etwas dumpfer erklingende Glocke das Ende der Schicht ankündigt. Doch halt, warte mal. In zwei Tagen ist schon wieder eine Kältezeit? Oh Mist! Mit nun doch deutlich mehr Sorge blicke ich nochmal auf die Nahrung. Ob das ausreicht? Immerhin ist es nur eine Frostsaison. Allerdings weiß man nie, was sonst noch so passiert. Aber die eine Frostsaison wird schon passen. Es ist ja schließlich kein Sturm.

Bild 4: Krise mit andauerndem Sturm in FP
Szenario 2 (Bild 4): Die Krise des Wohlstands
Ein Drahtseilakt, der all meine Gehirnzellen erfordert. Minus 110 °C zeigt das kreisförmige Thermometer, allzeit gut sichtbar mittig am oberen Rand. Links davon sieht es hervorragend aus – mit vollen Lagern kann ich den Fokus auf etwas anderes richten. Und das ist wohl auch bitter nötig, denn ein Schweif nach rechts zeigt: der Sturm – eine Extremphase des Frosts – ist noch längst nicht vorüber… und unten ticken immer größer werdende Zahlen über den rot hinterlegten Symbolen für Nahrungsknappheit und Erkrankte. Die Elemente darunter verheißen auch nichts Gutes. Hoffnung? Fehlanzeige. Unzufriedenheit der frierenden Bevölkerung zieht übers Land, und das, obwohl ich so viel Kohle habe. Das graue Plus über der Zahl 62 ist im Vergleich zu Bild 3 erheblich größer und indiziert die zunehmende Relevanz für die Anzahl an Menschen, die sich in Behandlung befinden. Menschen, deren Arbeitskraft fehlt und die gleichzeitig weiterhin ihre Bedürfnisse haben, die erfüllt werden sollten, damit kein Chaos ausbricht. Wenn das so weiter geht, sinkt die Zahl an verfügbaren Arbeitskräften (s. unten rechts) und verschlechtert damit das Verhältnis zwischen Leistung und Bedürfnissen mehr und mehr. Wann habe ich Fehler gemacht? Habe ich falsch geforscht? Waren die erlassenen Gesetze unsinnig? Oder habe ich in der Architektur der Stadt etwas total verrissen? Die aktuellen Agenden sind jetzt auch nicht gerade hilfreich. Ja, danke, ich weiß, dass die Hoffnung zu niedrig ist und ich den Sturm überleben muss. Lange halten die Leute das nicht mehr durch. Zu viele Erkrankte, zu viele Tote, zu lange Frost… Mein Ende ist nahe… Wie konnte es zu dieser aussichtslosen Misere gekommen sein?
Von nichts kommt nichts
Glocken erklingen. Eine Stimme verkündet, dass der neue Tag beginnt. Ein neuer Tag zum Arbeiten, für Fortschritt, für Erkundungen. Meine fleißigen Arbeiterleins sind bereits durch den Schnee stapfend auf dem Weg zu ihren Arbeitsstätten und ich habe einen groben Plan vor Augen.
Doch es dauert nicht lange, da ertönt auch schon der unheilsame Sound, der eine wichtige anstehende Entscheidung verkündet – ein dumpfes Geräusch, als würde eine Trommel einen einzigen Herzschlag nachahmen. Parallel dazu erscheint über dem Generator der runde Balken, der das Symbol für Menschengruppen auf einem schwarzen, klecksartigen Hintergrund umrahmt. Ein Klick darauf und der Herzschlag ertönt erneut. „Facing Starvation“ (dt.: „vor dem Hungertod stehen“, frei übersetzt) tituliert die anstehende Entscheidung (Bild 5). Meine Leute sollten natürlich nicht verhungern. Damit wäre der Untergang der Stadt gewiss. Doch welches Versprechen gebe ich der wütenden Meute? Versuche ich, allen zu helfen, oder reicht erstmal ein Teilabkommen? Alle Entscheidungen sind von einem blau umkreisten ‚Quest‘ begleitet, doch das Hinauszögern erscheint am wenigsten sinnvoll. Also werde ich wohl handeln, doch welches Risiko soll ich eingehen?

Bild 5: Beispiel einer Entscheidungssituation in FP
Die Stimmungsmache für solche tragreichen Dilemmata, die in ihrer Intensität durchaus noch brisanter an einigen Stellen sind, speist sich aus dem Zusammenspiel multimodaler und narrativer Mittel und ist meines Erachtens essenziell für den Sog in die dystopische Welt von FP und FP2. Erst die Kombination aus Farbgebung, Mise en Scène, Symbolik, Text, Ton und Geschichten über existenzielle Krisen – sowie der inhärenten Spieler*innenposition als autoritäre*r Herrscher*in – evoziert das mitreißende Survival-Feeling dieses genreeröffnenden Vorreiters. Um hier etwas konkreter zu werden, schauen wir uns Bild 5 einmal exemplarisch im Detail an.
Zu erkennen sind verschiedene Textfelder, die sich in Wortanzahl, Schriftgröße, -form (Typometrie) und -farbe sowie Zierobjekten unterscheiden. Während das gräuliche ‚Protest‘ ganz oben der kategorischen Beschreibung des Ereignisses dient, ist der Ereignistitel grazil umrahmt und sticht mit einer wesentlich größeren Schrift als die anderen Textelemente besonders hervor. Darunter befindet sich der kurzgehaltene Bericht zum Event (1), gefolgt von einem Appell (2). Zwischen Appell und den weiter darunter liegenden Aufgabenstellungen erscheinen je nach anvisierter Quest genauere Aufgaben (3), die mit der ausgewählten Quest einhergehen. Die beschreibenden Textfelder (1–3) beinhalten wiederum blau hervorgehobene Lexeme oder ganze Sätze. Wieso diese Aspekte, insbesondere die der Beschreibungstexte, für die ästhetische Wirkkraft von Relevanz sind, wird deutlicher, wenn man sie in Kombination mit ihren jeweiligen Inhalten betrachtet.
Denn auch die sprachlichen Ausgestaltungen der Textblöcke, genauer gesagt die deiktischen Bezugspunkte der Eigen- und Fremdpositionierungen, der Zeit sowie des narrativen Modus, unterscheiden sich voneinander. Im Bericht (1) wird mit der initialen rollenbasierten Anrede ‚Captain‘ eine direkte Ansprache an die spielende Person seitens einer nicht-sichtbaren Entität vollzogen, d. h., ein unmittelbarer Dialog zwischen Spieler*in und Bewohner*in wird suggeriert. Die für die Kontextualisierung besonders relevanten Informationen sind mittels weniger farblich hervorgehobener Lexeme sofort erkennbar. Dabei handelt es sich um die gruppendeiktische Bezugnahme ‚a crowd‘ sowie die kausale Folge ‚angrily‘ einer kausalen Ursache ‚hunger‘. Verkürzt könnte der Bericht demnach lauten: ‚A crowd is angry about the hunger.‘ Oder: ‚A crowd is angry and hungry.‘ Alle anderen Beschreibungsmerkmale dieses Textblocks dienen primär der narrativen Aufarbeitung des Geschehens. Hervorzuheben ist hierbei, dass das unsichtbare, berichtende Sprecher-Ich nicht aus einer Sprechergruppe (‚wir‘) heraus spricht, sondern mittels objektdeiktischen Bezugsworten (‚a crowd‘, ‚they‘) auf eine Die-Gruppe zeigt, derer es nicht teil ist. Daher ergibt sich aus diesem dialoghaften Bericht die Frage, ob es sich um eine*n Bürger*in oder eine heterodiegetische Erzählinstanz handelt.
Nun, der darauffolgende Satz gibt hier ganz klar eine Tendenz vor: „WE HAVE TO DO SOMETHING ABOUT IT.“ steht in blauen Großbuchstaben als direkter Appell (2) darunter. Ein Wandel von der Objekt- zur Sprechergruppendeixis (‚we‘) zeigt, dass das Sprecher-Ich teil der ausstehenden, problemlösenden Maßnahme, also ein exekutiver Teil des Auftrags zu sein scheint. Dies führt zu einer erheblichen Verringerung einerseits der Distanz zwischen Spielenden-Ichs und Sprechenden-Ichs und andererseits des eigentlichen Solo-Erlebnisses der spielenden Person, d. h., der Distanz der spielenden Person zu Welt und Narrativ. Nicht ich allein bin für alles verantwortlich und entscheide just, wie es mir gefällt. Ich diktiere nicht über das Schicksal aller, ohne auch nur einmal mit ihnen ins Gespräch zu kommen und mir ihre Sorgen und Wünsche anzuhören (bzw. durchzulesen), um sie mit den Konsequenzen meines Handelns allein zu lassen. Nein, ich blicke in ihre aufgebrachten und doch hoffnungssuchenden Gesichter, sehe einen Vater mit seinem Sohn, begleitet von weiteren Personen, deren Gesichter deutlich erkennbar geprägt sind von der bitteren, kalten Welt da draußen. Mit ihrer Wut zeigen sie, wie sehr sie mich brauchen, wie sehr sie Änderungen benötigen, wie sehr sie leiden. WE HAVE TO DO SOMETHING ABOUT IT – und doch bin ich es schließlich, der sich entscheiden und dafür sorgen muss, dass das Ziel auch erreicht wird, was bereits durch das Indefinitpronomen ‚something‘ suggeriert wird.
„I’ll have to feed everyone in 3 days and stockpile a decent amount of food.” Im letzten beschreibenden Textblock (3) wird klar, dass die Verantwortung mir allein obliegt. Appell (2) und Aufgabe (3) sind hierbei eng miteinander verknüpft. (3) nimmt anaphorisch Bezug auf das Indefinitpronomen ‚something‘ (2), definiert es also näher und füllt damit dessen Leerstellen. Damit findet zeitgleich eine Verschmelzung von Wir-Gruppe (2) und Spielenden-Ichs (3) statt, was die Distanz verringert und meine moralische und emotionale Bindung an die ausstehende Entscheidung verstärkt. Darüber hinaus gibt die Anweisung einen zeitlich festen Rahmen zur Erledigung der zweiteiligen Aufgabe vor, bleibt jedoch mit der adjektivischen Attribuierung ‚a decent amount of X‘ unberuhigend schwammig. (Auf eine genauere linguistische Betrachtung der Quest-Optionen verzichte ich aus Platzgründen.)
Und was lässt sich linguistisch und narrativ feststellen, wenn wir uns die drei soeben betrachteten Textblöcke übergreifend anschauen?
Mittendrin statt nur dabei
Der Bericht (1) zeigt objekt- und temporaldeiktisch auf ein Ereignis, das in der Vergangenheit startete, in der Gegenwart relevant ist und die Folge eines Zustands ist, der von der Vorvergangenheit bis zur Gegenwart reicht. Der Appell (2) richtet den Fokus auf das Hier und Jetzt (‚have to X‘), wobei neben dem expliziten Bezug zur Gegenwart auch implizit auf Handlungen und Konsequenzen in der Zukunft gezeigt wird, die teils bekannt (‚starvation‘) und teils unbekannt sind. Die Aufgabe (3) verortet die notwendigen Handlungen in den Zeitraum von der Gegenwart bis in eine zeitlich definierte Zukunft.
Zunächst wird aus den drei Abschnitten ersichtlich, in welchen zeitlichen Räumen jeweils konkrete Handlungen erfolgt sind oder erfolgen müssen, wobei Appell (2) und Aufgabe (3) temporal verschmelzen, wenn man die Zeit der Sprechsituation (genau jetzt) ausklammert. Die drei Kernsätze, die mittels blauer Schrift hervorstechen, folgen einer chronologischen Darstellung von Ereignis und Zustand (1), Appell (2) und Aufgabe (3). Dies wird durch das Tempus der jeweiligen Verben offenkundig.
„Many haven’t eaten in a long time.“ (1) ist als narrativer Einschub für die Aufarbeitung der Situation und für die emotionale Bindung an diese Situation zu begreifen. Dies macht den in Großbuchstaben stehenden Appell (2) im Hier und Jetzt umso wirkkräftiger. Somit sind die zeitlichen Bezüge der drei Abschnitte eng miteinander verknüpft und definieren eine konkrete Herausforderung – eine existenzielle Krise – im Hier und Jetzt. Die Mischung aus narrativer und appellativer Emotivität wird ferner intensiviert durch die sukzessiv abnehmende Distanz des Spielenden-Ichs zur Situation, zur ludischen Bevölkerung (von ‚die‘ über ‚wir‘ zu ‚ich‘) und zur ausstehenden Entscheidung.
Konnte mich das Sprecher-Ich, das mit seinem Appell ein Zwischenglied zwischen Die-Gruppe (Objektdeixis) und Spielenden-Ich (Origo) verbalisiert, durch seine deiktischen Positionierungsmechaniken, durch seine Krise betonenden Begrifflichkeiten und durch seine expressive und explizite Wortwahl von der Dringlichkeit der Lage überzeugen?
Mein Blick wird wie fremdgesteuert in die Mitte des Bildes gesogen. Der Frost an den Bildecken grenzt den Ausschnitt radikal ein, die Dunkelheit zwischen den Ecken lenkt abermals den Fokus von außen nach innen, die Textblöcke sind ähnlich vordergründig wie der Vater, der eine Lampe in der Hand hält… dazwischen, mittig im Bild, ein kleiner Junge, der mich, angestrahlt von der Lampe, mit seinen Kinderaugen direkt anblickt. Drum herum Schnee, Dunkelheit und Verzweiflung. Das sollte doch machbar sein! Natürlich soll dieser kleine Junge nicht verhungern, und alle anderen auch nicht! ‚We can do even better!‘ denke ich mir und kümmere mich, kompromisslos, um das bestehende Problem, woran sich im Spiel noch viele weitere Probleme anreihen werden.
Nächstes Mal schaffe ich es, Leute!
Momente, in denen klar wird, dass das Ruder nicht mehr rumzureißen ist, hat vermutlich jede spielende Person in FP/FP2 erlebt. Das Laden von Speicherpunkten oder der komplette Neustart einer Mission sind daher wohl keine Seltenheit, um eigene Fehler auszubügeln und womöglich auftretenden Problemen vorzubeugen. Das Frust evozierende Videospiel lebt also auch von einem stetigen Lernprozess. Dieser kennzeichnete sich bei mir aus einem Mix von Recherchen im Internet, durch den Spielfortschritt neu erlangtem Wissen und, insbesondere, der Begutachtung der eigenen Stadt und des UI (User Interface). Ist ein Versuch gescheitert, weil ein zu großer Teil der Bevölkerung erkrankte, erfror oder verhungerte, so sind dahingehende Optimierungen vorzunehmen, damit die jeweiligen Symbole möglichst unauffällig bleiben oder im Optimalfall gar nicht erst erscheinen. Sind die Hoffnung zu niedrig und die Unzufriedenheit zu hoch, müssen Präventivmaßnahmen vollzogen werden, um die Leute bei Laune zu halten und die Stadt nicht ins Chaos versinken zu lassen.
Natürlich sind sorgfältige Planung und ein kontinuierliches Monitoring des Geschehens und der Ressourcen unerlässlich, um nicht in zuvor beschriebene Miseren abzurutschen. Nichtsdestotrotz fühlen sich, zumindest für mich, die ludischen Krisen erst durch das Zusammenspiel aus Farbgebung, wiedererkennbaren visuellen und Soundeffekten – sowie die Musik, die hier nicht näher analysiert werden kann –, sorgfältig ausgewählter, dynamischer Symbolik gepaart mit der umfangreichen und doch verständlichen und klar strukturierten UI sowie den narrativen und emotionalisierenden Textpassagen so mitreißend und nahbar an. Das Suggerieren, Teil einer Gemeinschaft zu sein, für deren Existenz und Miteinander man die Verantwortung trägt, potenziert die Involvierung des Spielenden-Ichs ins Geschehen und in die Welt von Frostpunk. Das Gefühl, die Balance zu halten und alles im Griff zu haben, was durch die verschiedenen visuellen Elemente evoziert wird, schafft Erfolgserlebnisse und erfüllt gleichermaßen den spielerischen Anspruch an mich selbst, wie die zahlreichen Misserfolge und scheinbar unüberwindbaren Krisen für Frust und Verzweiflung sorgen. Die Entwickler*innen spielen also nicht nur mit der notwendigen Ausbalancierung bedürfnisorientierter ludischer Elemente (Nahrung, Kohle, Hoffnung usw.), sondern schaffen einen Wettkampf der beiden Pole ‚Frust‘ und ‚Freude‘ spielerischen Erlebens. Die spielende Person muss stetig Vergangenheit, Gegenwart und bekannte sowie unbekannte Zukunft im Blick behalten, um das Auftreten nicht erwünschter Symbole, Ereignisse usw. zu verhindern oder zumindest zu minimieren. Um die Vielfalt an demografischen, ökonomischen, thermodynamischen, technischen und weiteren Aspekten abbilden und damit begreifbar machen zu können, ist die Farbgebung ein wesentlicher Aspekt im Game-Design von Frostpunk.
Alles im rot-blauen Bereich
Die Schlüsselfarben (bzw. -farbtöne von) Blau und Rot sind sowohl in FP als auch FP2 äußerst ambivalent und stehen jeweils sowohl für nicht erwünschte als auch für erwünschte Zustände, Informationen oder Aktionen. Für Erstere ist der für den blauen Farbton wohl prägnanteste Aspekt der Kälte zu benennen, die in der Zeitleiste mit einem entsprechend farbigen Thermometer sowie grundlegend für Schnee/Frost in verschiedensten Phasen und Momenten abgebildet wird und für dahingehende ludische Umstände negativ konnotiert ist. Demgegenüber fungiert rot als Marker für Wärme sowie eine bewohnbare und ‚lebendige‘ Stadt. Diese beiden Kontraste werden insbesondere in den Wärmeansichten der Stadt (Bild 6) erkennbar, partiell sogar mit Abstufungen in der Intensität der Farbtöne. Doch auch in der normalen Draufschau ist eine möglichst ‚rot‘ durchzogene Stadt wünschenswert, da sie Wärmezentren, Licht und eine ‚blühende‘ Gesellschaft repräsentiert (Bild 6).

Bild 6: Die Wärmeansichten in FP
Gleichsam sind die Rollen der beiden Schlüsselfarben vor allem in ökonomischen und sozialen Belangen weitestgehend vertauscht. Wie bereits angerissen steht Rot hierbei für teils akuten Handlungsbedarf aufgrund dramatischer Zustände (Bild 7), so auch in der Ressourcenleiste, in der Mangel mit rot gefärbten Balken dargestellt wird, oder beim Erscheinen von negativen Mikroereignissen (s. Lupe oben links).

Bild 7: Zweites Beispiel einer Krise mit Fokus auf die rot gefärbten Elemente in FP
Blau steht neben den in diesem Beitrag bereits erwähnten Aspekten auch für Fortschritt, erreichte Meilensteine und positive Effekte (Bild 8).

Bild 8: Fortschritte im Technologiebaum und in der Gesetzgebung in FP
Auch bildet Blau Konsens der Bevölkerung ab, was in FP2 mit Einführung des Rates zur Beschließung neuer Gesetze noch eindringlicher visualisiert wird (Bild 9). Dort wird Blau für die Anzahl an Menschen, die dem eigenen Gesetzesvorschlag zustimmen, verwendet. Eine höhere blaue Zahl und eine damit verbundene vollere blaue Leiste sind demnach wünschenswert – zumindest in den meisten Fällen.

Bild 9: Eine Verhandlungssituation im Rat in FP2
Damit sind die Schlüsselfarben also höchst ambivalent und beeinflussen das Spielgeschehen und spielerische Handeln mal mehr, mal weniger bewusst in erheblichem Maße. Gleichsam sind sie entscheidend, um nicht gänzlich die Übersicht zu verlieren. Ihr starker Kontrast und ihre überwiegend klaren semantischen Verhältnisse je nach Anwendungsbereich machen allzeit kenntlich, welche jeweilige Situation vorherrscht, welche Situation erwartbar ist und wo Handlungsbedarf besteht. Selbstredend gibt es noch weitere Bereiche, wo Blau und Rot eine Rolle spielen, sowie andere relevante Farben wie Gelb. Doch der obige Überriss sollte genügen, um einerseits die ästhetischen und persuasiven Schlüsselfunktionen von Farben in Frostpunk hervorzuheben und andererseits zu verdeutlichen, dass das Spiel von mehrdeutigen semantischen Zuweisungen gezeichnet ist, die trotzdem differenzierbar und damit verständlich bleiben.
Anreißen möchte ich in diesem Zusammenhang noch, dass sich für mich das in dieser Analyse behandelte Spielerlebnis der mitreißenden dystopischen Welt von Frostpunk nicht unwesentlich zwischen FP und FP2 unterschieden hat.
Vom Subjekt zur Masse
Vorab sei gesagt, dass ich beide Titel sehr gern gespielt habe, vermutlich nicht obwohl, sondern gerade weil beide Titel starke Unterschiede aufweisen, auf die ich fragmentarisch eingehen möchte.
Während in FP die Spielwelt eher klein gehalten ist und der eigene Verantwortungsbereich auch für eine eher kleine Gruppe von Menschen gilt, ist FP2 deutlich expansiver in seinen Dimensionen. Die Bevölkerungsgröße hat drastisch zugenommen, ebenso sind architektonische Steigerungen zu erkennen, etwa in der Größe der Gebäude sowie in der Ausbreitung der Stadt. Die zu erkundende Spielwelt ist ebenfalls eine weitläufigere als zuvor. Hinzu kommen Änderungen in den Objekten und Darstellungsformen, die in diesem Beitrag näher untersucht wurden. So lassen sich insgesamt mehr sowie teils abgeänderte Symboliken, Fortschritts- und Einflussleisten erkennen – z. B. mit Symbolen für Wachen und verfügbare Erkundungstrupps, Einflussleisten der verschiedenen Fraktionen oder den neuartig dargestellten Symbolen für Missstände (Frost, Kriminalität usw.) im oberen statt im unteren Teil des Bildes (Bild 10).

Bild 10: Ansicht der Stadt und des UI in der Normalansicht in FP2
Auch wird die dialogische Abhandlung von Ereignissen maßgeblich anders visualisiert (Bild 11), sodass die Spielästhetik sowie die emotionale Rezeption zwangsläufig andersartig sind. Einige Elemente wurden dabei zwar in FP2 mitgetragen, erfahren jedoch eine Rekonzeptualisierung. Exemplarisch sei hier zu benennen, wie der ins Zentrum zeigende Frost in den Ecken bei Ereignisfenstern in FP sich gewandelt hat zu einer horizontalen Darstellung am oberen und unteren Bildrand in FP2; oder die klare Abtrennung von Bild und Text, während in FP das motivische Bild Teil des textlichen Hintergrundes ist.

Bild 11: Gegenüberstellung zweier Entscheidungssituationen in FP und FP2
Zusammenfassend sei festzuhalten, dass die Entwickler*innen sowohl mit FP als auch mit FP2 mittels einer Vielzahl multimodaler und narrativer Elemente stets versuchen, mit den Emotionen der spielenden Person zu spielen, (mal verzögert) ihr die Tragweite eigener Handlungen sichtbar zu machen und sie in die Welt des Frostes hineinzuziehen. Aus meiner Sicht ist Letzteres im ersten Teil der Serie besser gelungen, da Nahbarkeit und Empathie wesentlich besser evoziert wurden, indem der Fokus auf dem einzelnen Subjekt mit kleineren Maßstäben liegt. Während ich in FP noch jeden einzelnen Tod bedauere, sterben in FP2 zwangsläufig zum Teil Hunderte von Menschen, ohne, dass es mich emotional derartig trifft. Und das ist auch völlig okay. Denn an die Stelle des zutiefst mitreißenden Charakters von FP treten andere, teils neuartige Aspekte, die auch für FP2 ein einzigartiges Spielerlebnis schaffen und hoffen lassen, dass neue Add-Ons mit neuen Geschichten und Szenarien erscheinen, die mich wieder an meine Frustgrenze bringen und spielerische Höhepunkte erleben lassen.