Die vielschichtigen Welten von Pentiment
Von Andreas Inderwildi, übersetzt aus dem Englischen von Tobias Eberhard.
Dieser Artikel ist der vierte Beitrag zur „Video Game Cosmology“-Reihe von Andreas Inderwildi. Der Intro-Artikel dazu ist hier (auf Englisch) nachzulesen.
Spoiler-Warnung für Pentiment!
Die von Pentiment gehegten Ambitionen reichen weit über seinen scheinbar bescheiden gesetzten Rahmen hinaus. Die Geschichte, die das Spiel erzählt, ereignet sich zur langsam heraufziehenden Frühen Neuzeit in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in dem fiktionalen bayerischen Städtchen Tassing und der benachbarten Abtei Kiersau. Den Großteil der ersten Stunden im Spiel verbringt man inmitten des Alltags der Bauersleute und Stadtbewohner*innen, Nonnen und Mönche, Äbte und Barone. Das Spiel präsentiert sich dabei als so etwas wie ein historischer „Bohrkern“, ein Enzyklopädie-artiger Mikrokosmos der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Welt, der sich uns durch vereinzelte Blicke auf die auf kleiner Bühne stattfindenden Geschichte offenbart.
Doch im Gegensatz zu so vielen anderen Spielen, die sich eines ähnlichen historischen Settings bedienen, kommt Pentiment ohne das Klischee einer barbarischen Vergangenheit aus, die sich fast ausschließlich durch Chaos und willkürliche Grausamkeit auszeichnet. Die Welt des Spiels ist zwar eine von Anstrengungen geprägte, aber dennoch strukturierte Welt, die von Zeit zu Zeit von Umbrüchen und Ungewissheiten heimgesucht wird. Das Spiel ist dabei weniger an diesen Momenten des Umbruchs interessiert, sondern viel mehr an den Verhältnissen, die zu derartigen Verwerfungen führen, und daran, was darauf folgt. Denn bestimmte Strukturen haben es nun mal so an sich, sich immer wieder neu zu etablieren und an neue Umstände und Aspekte des Lebens anzupassen.
Die Struktur der Welt
Was an Pentiment direkt auffällt, ist seine Hingabe zur Darstellung der (spät)mittelalterlichen Ordnung der Welt. Das zeigt sich ganz grundsätzlich schon darin, wie der dargestellte Alltag strukturiert wird: Da ist einerseits die Art und Weise, wie die Zeitmessung erfolgt und genutzt wird, um dem alltäglichen Leben einen Rhythmus zu verleihen, und andererseits, wie die Stellung, die die Menschen in der gesellschaftlichen Ordnung einnehmen, ihre Tätigkeiten und ihr Verhalten bestimmt.
Die Tage in Pentiment werden nicht nach unseren modernen Methoden eingeteilt, sondern sind an den sogenannten Horen ausgerichtet. Andreas Maler, unser Protagonist, steht zur Laudes auf, beginnt seine Arbeit zur Prim, nimmt seine Mahlzeit zur Sext ein und so weiter. Im Mittelalter wiesen die Horen zudem feste Zeiten aus, zu denen im Verlauf eines Tages das Gebet verrichtet wurde. Der Verlauf der Zeit und seine Messung, in Form von Stunden und Jahreszeiten, Jahren und Weltzeitaltern, nahmen eine zentrale Rolle innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft und ihrer Anschauung der nach göttlicher Ordnung strukturierten Welt ein.
Apropos Stunden: Am ersten Tag innerhalb der Geschichte begleiten wir unseren Protagonisten Andreas Maler zu den Mönchen im Skriptorium der Abtei Kiersau, wo er gerade dabei ist, ein prachtvolles Manuskript, das von Baron Lorenz Rothvogel in Auftrag gegeben wurde, zu illuminieren (d. h. Texte mit Verzierungen und Illustrationen zu versehen). Bei diesem Manuskript handelt es sich um ein Stundenbuch, eine Sammlung von Andachten, Gebeten und Psalmen, die im Mittelalter zu den beliebtesten Arten von Manuskripten zählten. Einige tatsächlich existierenden Stundenbücher wurden als Luxusobjekte angefertigt, andere wiederum waren für den täglichen Gebrauch gedacht, wobei sie ihre Besitzer*innen sowohl während der täglichen Gebetszeiten als auch durch die Jahreszeiten begleiteten.
Zu Beginn des Spiels sehen wir Andreas, wie er eine der Kalenderseiten des Stundenbuchs illuminiert. Der obere Teil der Illumination ist umkränzt von den Sternzeichen des Skorpions und des Schützen, die wiederum von einem kuppelartigen Kalender überragt werden. Darunter ist eine Szene abgebildet, die darstellt, wie Bauersleute ihre Schweine zur Eichelmast in den Wald treiben. Bruder Piero merkt an, dass Andreas‘ Miniaturzeichnung ordentlich, aber zu unoriginell ist. Das scheinbar authentisch zu Bild gebrachte Alltagsleben ist letztendlich nicht mehr als ein allzu konstruiertes Motiv, das sich sehr stark an den althergebrachten Konventionen gewöhnlicher Stundenbücher orientiert: Jeder Monat des Jahres hat seine eigene Kalenderseite, auf der das jeweilige Sternzeichen und eine mit dem Monat assoziierte Aktivität oder Szene abgebildet ist. Die Schweinemast ist dabei das generische Motiv für den November. Ein berühmtes Beispiel dafür ist The Très Riches Heures du Duc de Berry, das bereits ein Jahrhundert vor der Zeit, zu der Pentiment spielt, entstand.
Diese Miniaturabbildungen erzählen etwas darüber, wie manche Menschen des Mittelalters die Welt, in der sie lebten, wahrnahmen – oder zumindest erzählen sie etwas über eine idealisierte Version dieser Welt. Auch wenn die im Kalender abgebildeten Miniaturszenen nicht eindeutig religiöser oder frommer Natur sind, zeigen sie doch einen klar strukturierten Kosmos, in dem alles Geschaffene – sei es der Bauer auf dem Feld oder die Sterne am Himmelszelt – im Einklang mit einem universellen, allem zugrunde liegenden Rhythmus steht. Es gibt eine Zeit und einen Ort für alles und jede*n, ein vorgegebenes Fleckchen in der Hierarchie der Welt. Dabei handelt es sich um eine idealisierte Vorstellung des Kosmos, die ebenso harmonisch wie homogen ist und wenig Spielraum lässt, weder für historische Veränderungen noch für irgendeine Art von Revolution, mit Ausnahme der Revolution der Planeten um die Sonne.
Das Wort und die Welt: Manuskripte und ihre Bedeutung im Mittelalter
Das Stundenbuch ist bei weitem nicht das einzige Manuskript, dem wir in Pentiment begegnen. Uns wird eine äthiopische Bibel, ein Exemplar von Vergils Aeneis, Ritterromane wie Wolfram von Eschenbachs Parzival, Bücher über Medizinpflanzen und vieles mehr präsentiert. Diese tatsächlich existierenden Manuskripte kommen neben einem wahren Füllhorn an Anspielungen auf die Kultur, Literatur und Kunst des Mittelalters vor, vom Priesterkönig Johannes über das Narrenschiff hin zum Totentanz, dem Danse Macabre – Pentiments enzyklopädisches Geschichtsverständnis fängt viele Aspekte der mittelalterlichen Kultur ein.
Den Manuskripten in Pentiment kommt dabei ein besonderer Stellenwert innerhalb dieser Kulturlandschaft zu. Sie spielen nicht nur eine zentrale Rolle innerhalb der Handlung und den Intrigen des Spiels, so wie in Umberto Ecos Der Name der Rose, sondern, wie das Beispiel des Stundenbuchs schon gezeigt hat, sie werden auch dazu genutzt, den Spieler*innen Wissen über die mittelalterliche Welt zu vermitteln und ihnen darzulegen, wie die Menschen des Mittelalters die sie umgebende Welt für sich erschlossen haben.
Mittelalterliche Manuskripte und Texte sind zwar die Hauptquelle unseres Wissens über dieses Zeitalter, aber dabei müssen wir uns einige Einschränkungen bewusst machen. Zum Ersten sind in den erhaltenen Texten nicht alle Perspektiven gleichermaßen repräsentiert. In erster Linie findet man darin die Meinungen, Ansichten und Interessen einer kleinen Gruppe von Privilegierten wieder. Zu dieser Zeit konnten nur wenige Menschen lesen, noch weniger konnten schreiben, und noch viel weniger konnten es sich leisten, ein Manuskript in Auftrag zu geben oder zu kaufen. Bücher waren ein rares und teures Gut, und viele Jahrhunderte lang verfügten quasi nur die Skriptorien der Klöster über die Mittel, Manuskripte zu produzieren. Das bedeutet, dass die vorhandenen Bücher während eines Großteils des Mittelalters eher die Weltsicht von gebildeten Geistlichen oder von Rittern und Adligen reproduzierten und verstärkten, die es sich entweder leisten konnten, Literatur in Auftrag zu geben, oder über die nötige Bildung verfügten, um die Texte selbst zu verfassen.
Diese Exklusivität hatte zur Konsequenz, dass mittelalterliche Manuskripte oftmals als Prestigeobjekte angefertigt wurden, als einzigartige Kunstwerke, die verschiedene Bildsprachen gegenüberstellten und miteinander verschmolzen. Die kunstvollsten ihrer Art enthielten nicht nur Texte in äußerst edlen Schriften, sondern auch Szenen, die als Illustrationen des Textes dienten, verspielte Initiale und fein gearbeitete Verzierungen. Sogenannte Marginalien kamen häufig zum Einsatz, um den Rändern eine gewisse Lebhaftigkeit einzuhauchen. Eine bestimmte Art dieser Marginalien sind die Drolerien, fantasievolle, Cartoon-artige und oft vulgäre Abbildungen von kämpfenden Tieren und entblößten Menschen, die wenig bis nichts mit dem tatsächlichen (oftmals religiösen) Inhalt der Texte zu tun hatten. Diese Manuskripte spielten mit der Grenze zwischen Wort und Bild, dem Abstrakten und dem Symbolischen, dem Materiellen und dem Ideellen. Heutzutage sind Bücher für uns Massenware, kommerzielle Objekte, die nicht einmal mehr einer physischen Form bedürfen. Im Gegenzug dazu laden mittelalterliche Manuskripte dazu ein, unser Verständnis von dem, was ein Buch ist oder eben nicht, in einem gänzlich anderen Licht zu betrachten.
Mit ihren Rändern und Initialen voller seltsamer Kreaturen stellten mittelalterliche Bücher an sich schon kleine Mikrokosmen dar. Pentiment trägt dieser Tatsache in der Art und Weise Rechnung, wie es Manuskripte und das geschriebene Wort behandelt. Es gibt kein besseres Beispiel dafür als den „Manuskriptbildschirm“ des Spiels, eine Art Pausenbildschirm, der zu jeder Zeit aufgerufen werden kann und in dem das pausierte Spiel als Miniatur auf einer Manuskriptseite dargestellt ist. Direkt neben dieser Miniaturabbildung wird zudem ständig eine Zusammenfassung der Spielereignisse in gotischer Schrift fortgeschrieben – auf Latein. Auf der restlichen Seite sind verschiedene seltsame Kreaturen abgebildet, die echten mittelalterlichen Drolerien nachempfunden sind. Rubrizierte Wörter (vom Lateinischen „rubus“ für die Farbe Rot, also in roter Tinte geschriebene Wörter) innerhalb einer Sprechblase sind im Manuskriptbildschirm annotiert, wobei kleine Hände auf die jeweiligen Annotationen an den Rändern zeigen. Diese kleinen Deutehände kommen tatsächlich auch in mittelalterlichen Manuskripten vor.
Es besteht eine gewisse Kohärenz und Harmonie darin, wie der Manuskriptbildschirm und der Spielbildschirm zueinander in Verbindung stehen: Das Buch enthält die Spielwelt, aber die Spielwelt enthält ebenso auch das Buch. Trotz dieser augenscheinlichen Harmonie herrscht hier auch eine implizierte und eindeutige Hierarchie vor. Das Manuskript, das den Ereignissen des Spiels einen Rahmen verleiht, wird in einem sehr detailreichen und realistisch strukturierten dreidimensionalen Raum präsentiert, während die „tatsächlichen“ Ereignisse innerhalb des Spiels in einem Stil dargestellt werden, wie er für spätmittelalterliche oder frühneuzeitliche Holzschnittdrucke üblich war. Innerhalb der Logik, wie der Handlung hier ein Rahmen verliehen wird, werden die Ereignisse im Spiel nicht unmittelbar erlebt, sondern einzig durch das Manuskript vermittelt. Ohne dieses Buch – und ohne die Tatsache, dass jemand diese Geschichte niedergeschrieben hat – wären die Ereignisse des Spiels im Nebel der Vergangenheit verloren. Das geschriebene Wort bzw. die repräsentative Kunst werden uns als eines der wenigen wirksamen Werkzeuge gegen das Vergessen der Menschen dargestellt. Und das Buch, egal, ob aus Pergament oder aus Papier, war jahrhundertelang eines der widerstandsfähigsten und zuverlässigsten Aufbewahrungsmittel von Erinnerungen.
Wer bestimmt (über) die Vergangenheit?
Und doch sind Bücher bei weitem kein perfektes Mittel, um ein objektives und vollständiges Bild der Welt zu präsentieren. Selbst wenn wir allen Autor*innen blind vertrauen würden, dass sie die Wahrheiten der Welt so wiedergeben, wie sie sie wahrnehmen, führt doch kein Weg an einer gewissen Einseitigkeit und Voreingenommenheit vorbei. Die Entscheidung, was in eine „Überlieferung in die Zukunft“ einzuschließen und was wegzulassen ist, ist zwangsweise von den Werten des jeweiligen Individuums und der Kultur, an der dieses Individuum teil hat, beeinflusst.
Auf gesellschaftlicher Ebene besteht noch eine weitere Form der Einseitigkeit, denn: Die Perspektiven derjenigen an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie werden eher berücksichtigt als alle anderen Perspektiven. Wer kann und darf überhaupt etwas niederschreiben? Wer entscheidet, welche Texte es wert sind, aufbewahrt, vervielfältigt oder verteilt zu werden? Wessen Geschmack und Interessen beeinflussen den Kanon der Literatur, der von den nachfolgenden Generationen gelesen wird? Die Leben von unzähligen Menschen wurden weitgehend unsichtbar gemacht, einfach nur durch die Tatsache, dass die Leute, die über sie hätten schreiben können, sie nicht wahrgenommen haben. Egal, ob sie als selbstverständlich angenommen oder als der Aufmerksamkeit nicht würdig befunden wurden: Es stellt sich in jedem Fall als sehr schwierige Aufgabe dar, jegliche Informationen über diese marginalisierten Gruppen von Menschen herauszufinden, wenn man Texte konsultiert, deren Autor*innen entweder wenig Interesse an oder nur Feindseligkeit oder Verachtung für diese Menschen übrig hatten.
Doch trotz dieser Voreingenommenheit und Einseitigkeit, den steilen Hierarchien und der Dominanz der katholischen Kirche machen die erhalten gebliebenen Manuskripte eines deutlich, nämlich dass die mittelalterliche Welt nicht dieser gesellschaftliche Monolith war, als der sie oft dargestellt wird. Sie war weder ein homogenes Traumbild gesellschaftlicher Einheit noch eine totalitäre Dystopie, in der jedwede Andersartigkeit sofort von der Kirche ausgemerzt wurde. Die Realität gestaltete sich viel komplexer und vielfältiger.
Im Gegensatz zu vielen anderen Spielen und Filmen vermeidet es Pentiment ganz bewusst, die angehäuften Vorurteile zu reproduzieren, die von mittelalterlichen Eliten und mehreren hundert Jahren an weit verbreiteten Fantasievorstellungen und überholter Wissenschaft an uns weitergegeben wurden. Tassing mag zwar ein kleines und unbedeutendes Städtchen sein, aber homogen ist es allemal nicht. Pentiment liefert uns einen dynamischen Querschnitt der Gesellschaft, darunter Bauersleute, Zimmerleute, Müllersleute, Mönche, Nonnen, Richter, Äbte, Söldner, Künstler, Händler*innen, adlige Herren und noch viele mehr. Das Dialogsystem des Spiels nutzt verschiedene Schriften oder Schriftarten, um die gesellschaftliche Stellung und die Hintergründe und Stimmungen der Charaktere darzustellen. Es wird unterschieden zwischen der derben Bäuerlichen Schrift, der künstlerischen kursiven Gelehrtenschrift, der klaren Humanistischen Schrift, der gotischen Klösterlichen Schrift und dem „modernen“ Druckertyp. Unter den Mönchen und Nonnen von Tassing findet man beispielsweise sämtliche dieser Schriften vor, wodurch ihre unterschiedlichen Hintergründe ausgedrückt werden. Manchmal verfügt ein Charakter über mehrere dieser Schriften: Die Schrift von Florian von Poznán, zum Beispiel, verändert sich zum Druckertyp sobald er davon berichtet, dass er sich umfassend mit medizinischer Literatur und gedruckten Texten befasst hat.
Pentiment bemüht sich auch stets, die Stimmen und Perspektiven derer zu repräsentieren, die oftmals an den Rand der Gesellschaft und der Wahrnehmung gedrängt wurden, etwa in Bezug auf Menschen marginalisierter Geschlechts- oder sexueller Orientierung, Anhänger*innen sogenannter häretischer bzw. nichtchristlicher Glaubensrichtungen, Menschen mit anderen kulturellen oder ethnischen Hintergründen, wie etwa die Sinti und Roma, oder einfach in Bezug auf die Armen. Dazu gehören die beiden Mönche Mathieu und Rüdeger, ein schwules Pärchen, das gezwungen ist, seine Beziehung geheim zu halten; die eigensinnige Tochter des Druckers und zweite Protagonistin Magdalene Drucker; die Sommerfelds, eine jüdische Familie, die aus Prag zu Besuch ist; Skeptiker*innen oder Nichtgläubige wie Doktor Werner Stolz oder die alte Witwe Ottila Kemperyn; der alte Bauer Peter Gertner, auch kranker Peter genannt, der am alten Volksglauben festhalten möchte; der Roma Vácslav, der im Wald lebt und gnostische Ansichten hegt; der äthiopische Priester Bruder Sebhat von Sadai; der Dieb und Vagabund Martin Bauer; und subversive Querulanten wie Otto Zimmermann.
Pentiment nutzt deren Stimmen, um den Spieler*innen eine riesige Vielfalt an Einstellungen, Überzeugungen, Werten und Bräuchen innerhalb eines verdichteten und in sich geschlossenen Raumes zu präsentieren. Die verschiedenen Ansichten und Interpretationen der Welt, die diese Charaktere gemeinsam bewohnen, greifen manchmal ineinander, aber oftmals führen sie auch zu Konflikten. Trotz der räumlichen Nähe liegen oft Welten zwischen diesen Perspektiven: Die beengte und wahnhafte Existenz der Inkluse Amalie, das Volkstum der Bauersleute und ihr Fest zum Perchtenlauf, die kosmopolitische Welt des studierten Künstlers – das alles sind Welten, die für ein eher unbehagliches Zusammenleben sorgen.
Welten im Konflikt
Die verschiedenen Perspektiven sind selten auf Augenhöhe, da sie untrennbar mit der gesellschaftlichen Stellung der jeweiligen Menschen verflochten sind. Die Konsequenzen, die aus dem Hegen einer marginalisierten oder eher abseitigen Weltsicht resultierten, hingen von verschiedenen Faktoren ab, nicht zuletzt davon, wer denn eigentlich diese Weltsichten hegte. Während des Großteils des Mittelalters wurden Volksglaube und Bauerntraditionen von den Gelehrten mit Spott und von der Kirche mit Skepsis betrachtet, aber im Großen und Ganzen wurden sie toleriert, solange die Autorität der herrschenden Mächte davon nicht gefährdet oder untergraben wurde.
Ganz anders verhielt es sich natürlich mit dem Verbreiten „gefährlicher“ Ideen, wie etwa dem Versprechen, die Bauersleute von ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Herren zu befreien. Trotz der zentralen Mordgeschichte liegt der wahre Fokus von Pentiment auf dem Ausbruch einer Bauernrevolte zum Ende des zweiten Kapitels. Das erste Kapitel behandelt den langsamen Aufbau von gesellschaftlichen Spannungen, die schließlich in Gewalt umschlagen; das letzte Kapitel dreht sich dann um die Nachwirkungen dieser Gewalteruption. Wir beginnen in einer Welt, in der die dominierende Mitte – also sämtliche Ansichten, die den Status Quo aufrecht erhalten – es schafft, die Ideen, die ihr gefährlich werden oder sie unterlaufen könnten, erfolgreich zu integrieren, zu beschwichtigen oder zu unterdrücken. Wir enden mit einer gesellschaftlichen Ordnung, die für kurze Zeit bis auf ihre Grundfesten erschüttert wurde – Bauersleute, die die Abtei Kiersau und damit den Sitz des Abtes, ihres kirchlichen Herren, besetzen, bevor sie gewaltsam von der Armee des Herzogs niedergeschlagen werden.
Doch selbst bei ihren Grenzüberschreitungen, bei ihrer Transgression lösen sich die Bauersleute nicht von den grundlegenden Ansichten und Überzeugungen, auf denen die gesellschaftliche Ordnung errichtet wurde. Bei den revoltierenden Bauersleuten handelt es sich immer noch um Christ*innen, die akzeptieren, dass ihr Gott die Welt nach einer bestimmten Vorstellung des menschlichen Zusammenlebens erschaffen hat. Genau wie die Kirche glauben sie, dass diese Vorstellung erfassbar ist und dass eine Gesellschaft, die davon abweicht, per Definition als unmoralisch zu betrachten ist. Tatsächlich stützen sie ihre Revolte auf diese gemeinsame Überzeugung und rechtfertigen sie damit. Das Entscheidende ist hier natürlich, dass die Bauersleute den Willen Gottes auf ihre eigene Weise interpretieren. Aus ihrer Sicht hat sich die Abtei von der Vorstellung, die Gott für die Gesellschaft vorgesehen hat, abgewandt, indem sie ihre spirituellen Pflichten vernachlässigt und ihre Stellung missbraucht hat, um ihre eigenen weltlichen Interessen voranzutreiben.
Aus dieser Perspektive ist das Ziel der Revolte nicht Revolution, sondern eine Wiederherstellung – die Welt mit einem gottgewollten Idealbild ihrer selbst in Einklang zu bringen, so wie sie zu einem früheren Zeitpunkt in einer weit zurückliegenden Vergangenheit mutmaßlich schon einmal existiert hat. Diese Dynamik ist typisch für tatsächlich stattgefundene Bauernrevolten des Mittelalters. Selbst die radikalsten Bewegungen hatten die Tendenz, ihre Ziele anhand derselben Logik und derselben Autoritätsvorstellungen wie ihre Gegner zu rechtfertigen.
Auch wenn Tassings Bauernrevolte im Zentrum des Spiels steht, ist Pentiment nicht hauptsächlich an dem Ereignis selbst interessiert, sondern eher an der Art und Weise, wie dieses Ereignis erinnert wird, wie diese Erinnerungen interpretiert, dargestellt und in die Zukunft überliefert werden. Darin offenbart sich ein weiterer Konflikt der Weltanschauungen, ein Konflikt, der weniger augenfällig und dramatisch ist als eine Revolte, aber von vergleichbarer Wichtigkeit. Handelte es sich bei der Revolte um einen unrechtmäßigen Aufstand, dem zu Recht mit einem gewalttätigen Gegenschlag begegnet wurde? War es ein törichter und verantwortungsloser Versuch, bestehende Missstände zu beseitigen? Oder vielleicht ein heroisches, wenn letztendlich auch tragisches Opfer? Wurde damit irgendetwas erreicht? Falls ja, war es das alles wert? Wem steht Anerkennung zu, wem die Schuld, und wer verdient es, erinnert oder vergessen zu werden?
Der finale Teil des Spiels dreht sich um Magdalene Drucker und ihren verzweifelten Versuch, sich an die Ereignisse zu erinnern und einen Weg zu finden, wie die Erinnerungen an das Geschehene für zukünftige Generationen bewahrt werden können. Sie findet eine Lösung: die Schaffung eines Wandgemäldes im Rathaus, das Tassings Geschichte von der vorchristlichen Zeit bis zur Revolte wiedergibt. In Gesprächen mit den Bewohner*innen bemerkt Magdalene, dass viele derer, die an der Revolte teilgenommen hatten, sich nur widerwillig daran erinnern. Und selbst diejenigen, die Magdalene und ihrem Vorhaben gegenüber wohlgesonnen sind, wollen sie dazu bringen, die Revolte so darzustellen, dass keine alten Wunden aufgerissen oder neue politische Unruhen entfacht werden.
Die Schichten der Welt
Nicht nur die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte droht für Ärger zu sorgen. Im Laufe ihrer Untersuchungen erforscht Magdalene Tassings alte römische Ruinen und stößt dabei auf geheim gehaltenes Wissen über Tassings vorchristliche und sogar vorrömische Vergangenheit, die mit der offiziellen Geschichte und den Machtverhältnissen in Widerspruch steht. Sollte dieses Wissen an die Öffentlichkeit gelangen, könnte das den Glauben der Bewohner*innen von Tassing erschüttern. Es stellt sich nämlich heraus, dass die Schreine von Tassings Schutzheiligen Satia und Moritz ursprünglich den römischen Göttern Diana und Mars gewidmet waren.
Wieder und wieder führt uns Pentiment die beständige, mit dem Laufe der Zeit stattfindende Transformation der Welt vor Augen, erinnert uns daran, dass und wie die Vergangenheit von jeder Generation überschrieben, vergessen und neu interpretiert wird. Die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Welt bietet einen besonders fruchtbaren Boden, um diese Prozesse zu ergründen, da diese Zeit Transformationen und großes Leid erlebte, die tiefgreifende Auswirkungen auf Europa und einen großen Teil der Welt hatten. Das anbrechende Zeitalter des Kolonialismus, die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, der kopernikanische Heliozentrismus und der Aufstieg des Protestantismus sind nur ein paar Ereignisse, die das Ende des Mittelalters und den Beginn der Moderne markieren.
Eines der auswirkungsreichsten Ereignisse war die Erfindung der Druckerpresse, die die Stellung des Buches komplett auf den Kopf stellte. Mit der nun möglichen Massenproduktion verloren das Buch und das geschriebene Wort ihre exklusive, fast schon magische Aura. Mit nun billigen Flugblättern konnten Nachrichten, aber, in einem Krieg der Ideologien, auch Propaganda verteilt werden. Zur Zeit der Ereignisse von Pentiment, also zum Beginn des 16. Jahrhunderts, waren die im Spiel gefeierten, reich verzierten und illuminierten Manuskripte schon so etwas wie ein Relikt, wie die Mönche des Kiersauer Skriptoriums selbst auch.
Das für Pentiment gewählte Setting erlaubt es dem Spiel, die Grenzräume der Geschichte, diese auf chaotische und komplizierte Art und Weise ineinander übergehenden Epochen, zu ergründen. Seine Charaktere scheinen sich zumindest teilweise darüber im Klaren zu sein, dass sie die Grenze von einem Zeitalter ins nächste überschritten haben. Andreas Maler steht mit einem Fuß immer noch im Mittelalter, während er langsam realisiert, dass die Kunst der Manuskriptillumination einen langsamen, aber sicheren Tod stirbt. Es ist kein Zufall, dass er eine Art Grenzfigur ist, weder der Stadt noch der Abtei zugehörig, ebenso wenig der Vergangenheit oder der Moderne. Er existiert sowohl außerhalb als auch zwischen den Räumen. Magdalene ist hingegen eines der ersten Kinder des modernen Zeitalters. Die neue, mechanische Rathausuhr, die zum Ende des Spiels gebaut wird, dient als wirkmächtiges Symbol für einen tiefgreifenden Wandel. An dieser Stelle im Spiel ändert sich auch die Zeitdarstellung im Pausenmenü, weg von den altmodischen Horen hin zu einer moderneren Anzeige, die an eine mechanische Uhr erinnert, womit elegant illustriert wird, das selbst die Art und Weise, wie wir Zeit messen und verstehen, dem Lauf der Zeit unterliegt.
Zu Beginn dieses Artikels habe ich Pentiment als Mikrokosmos der spätmittelalterlichen und der frühneuzeitlichen Welt bezeichnet, doch allein schon der Name des Spiels weist auf tiefgründigere Absichten hin. Das italienische Wort „pentimento“ leitet sich vom selben Stamm ab wie das englische Wort „repent“ und bezeichnet Änderungen, die an einem Gemälde vorgenommen werden, indem darauf neue Farbschichten aufgetragen werden. Im Bereich der Manuskripte existiert etwas Vergleichbares: das Palimpsest (griechisch für „wieder abgekratzt“), wobei ein Text von einer Pergamentseite abgekratzt und mit neuem Text überschrieben wird. Es ist kein Zufall, dass wir als Spieler*innen zu Beginn von Pentiment genau das machen müssen, nämlich einen alten Text mithilfe eines Steins entfernen, um Platz zu machen für die Ereignisse des Spiels. Nur sind sowohl bei Pentimenti als auch bei Palimpsesten die ursprünglichen Schichten nicht einfach weg; man kann sie auf verschiedene Art und Weise wiederherstellen.
Wenn man ein Pentimento also als einen Prozess beschreiben kann, bei dem sich im Laufe der Zeit verschiedene Schichten ansammeln und jede neue Schicht von der vorherigen beeinflusst wird, sie diese aber auch verdeckt, wird deutlich, warum dies als eine passende Metapher für historischen Wandel genutzt werden kann. Und genau das tut Pentiment. Das Spiel dient als Veranschaulichung dieser historischen Prozesse, als Erinnerung einerseits an die unzähligen, unter unseren Füßen halb vergrabenen Welten, und andererseits an die zukünftigen Welten, die einmal auf der unseren ruhen werden.