Cultural Landscaping? Warum wir durch digitale Landschaften spazieren
Viele würden es Videospiel-Tourismus nennen. Einige Kulturkorrespondent:innen nennen es digitales Flaneurentum oder Mäandern. Ich nenne es “Cultural Landscaping”. Weder das Wort “digital” noch das Wort “Videospiel” kennzeichnen es, oder werten es in den Ohren bestimmter Leser:innen ab. Grund dafür ist, dass das Konzept des Cultural Landscaping in den Geisteswissenschaften seit langem etabliert ist und von vielen Autor:innen von Forschungsarbeiten und Reiseliteratur gleichermaßen praktiziert wird. Und zufälligerweise funktioniert es auch in digitalen Umgebungen perfekt.
Cultural Landscaping ist aus einem soziolinguistischen Feldforschungsansatz hervorgegangen, der als Linguistic Landscaping bekannt ist, und ist seitdem teilweise mit diesem verschmolzen. Im Grunde geht es darum, Sprachmuster, die in verschiedenen Gebieten einer Stadt oder eines ganzen Landkreises verbreitet sind, grafisch auf einer topografischen Karte abzubilden. Auf diese Weise lassen sich Beziehungen zwischen Dialekten oder Spannungen zwischen offiziellen und untergeordneten Sprachvariationen visualisieren und komplexe soziale Konstrukte in bunte, verständliche Bilder fassen. Ähnlich relevant und für das Landscaping in Videospielen wohl noch wichtiger ist die Kartierung von Schriften auf Werbetafeln und Verkehrsschildern. Ein Landscaping schriftlicher Merkmale kann einen Einblick in den Zweck eines Ortes geben und macht den Raum zum eigentlichen Protagonisten in einer ansonsten vollständig auf die Person fokussierten Forschungsumgebung.
Cultural Landscaping funktioniert ähnlich, berücksichtigt aber neben Sprache und Schrift auch ethnische Zugehörigkeit und soziale Dynamiken wie Emigration und Immigration. Nehmen wir zum Beispiel meine Heimatstadt München. Falls ihr euch zufällig mit den regionalen und sozialen Strukturen Bayerns auskennt, wird es euch nicht überraschen, dass die Landeshauptstadt den geringsten Anteil an bayerischen Dialektsprechern im ganzen Bundesland aufweist. Sie ist eine der größten Städte Deutschlands, eine Metropole mit einer absurd reichen Industrie und einer wohlhabenden Oberschicht, die oft noch immer an ihren familiären Beziehungen zu den europäischen Adligen von damals festhält – ihr kennt sie als ‘Schickeria’. Aber hättet ihr von München erwartet, dass 40 Prozent der Münchner:innen mindestens eine asiatische Sprache fließend sprechen?
Wenn das der Fall ist, würde man erwarten, dass der “Markt” das ziemlich schnell aufgreift. Vernünftige Fragen, die man sich dann stellen könnte, wären: Können wir auf Plakatwänden Indisch in Schriftform finden? Lächelnde Menschen japanischer Herkunft auf rollenden Werbetafeln? In der Tat, das können wir. Das ist eine Sache, die ein Cultural Landscaping feststellen oder zumindest annähern und sauber in Grafiken umsetzen kann. Dazu braucht es Daten, also Bilder und Notizen, die die Landscaper bei ihren Spaziergängen machen.
Aber warum sollte man in einem Artikel über die Topologie von Videospielen über die deutsche Provinz berichten? Die Antwort ist: München oder Novigrad, New York oder Anor Londo, der Unterschied in der tatsächlichen materiellen Existenz spielt für den landschaftsplanerischen Ansatz keine Rolle. Die Kartierung des Hierarch Square in The Witcher 3 kann mir genauso viel Spaß machen und genauso viel Sinn ergeben wie das Fotografieren von Graffiti-versehenen H&M-Schildern in der Kaufingerstraße, dem örtlichen Einkaufsviertel.
Vielleicht würdet ihr hier gern widersprechen. Ein grund wäre, dass Städte in Videospielen fiktive Konstrukte sind, die einzig und allein zum Vergnügen der Spieler:innen geschaffen wurden, und dass es daher überflüssig ist, nach dem “Warum” der Dinge zu suchen, die in ihnen existieren. Allerdings: Was ist Werbung anderes als ein visuelles Konstrukt zu unserem Vergnügen, dass uns dazu bringen soll, uns mit einer Kaufentscheidung wohl zu fühlen oder, besser noch,uns zu einem weiteren Kauf zu verleiten? Ist ein Straßenschild nicht speziell dafür gemacht und angebracht, um uns dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun oder einen bestimmten Punkt zu erreichen – ähnlich wie ein Questmarker oder die günstig platzierte Fackel neben der Tür, durch die Geralt als Nächstes gehen muss? FromSoftware möchte, dass wir die verdächtig beleuchtete Abkürzungstür öffnen, und Primark möchte, dass wir eine neue Hose kaufen. Sie alle konstruieren ihre eigene Realität, und was konstruiert ist, kann durch Cultural-Landscaping-Ansätze seinen Zweck rekonstruiert bekommen.
Darüber hinaus gibt es einen weiteren sehr einfachen Grund für die kulturelle Gestaltung von Videospielumgebungen: VieleLeute wollen es tun. Zumindest das meiste davon. Fotomodi sind ein fester Bestandteil aktueller AAA-Veröffentlichungen, und Walking Simulatoren sind wohl die Stars der mittleren Indie-Produktionen des letzten Jahrzehnts. Death Stranding, Hideo Kojimas aktuellstes Spiel, ist sogar prädestiniert dafür, landschaftlich gestaltet zu werden, und zwar nicht nur durch die bloße Mechanik, viel zu laufen und möglicherweise Screenshots von unglaublich schönen Bergen zu machen. Wenn die Spieler:innen in der Landschaft von Death Stranding Schilder aufstellen und Brücken über Flüsse bauen, die oft überquert werden, verrät uns das, welche Orte von welcher Art von Spieler:innen frequentiert werden. Die ausgetretenen Pfade, die sich unter den Schuhen von Millionen von Sam Bridges bilden, verwandeln Weiden in fruchtbares Land und die Übersichtskarte in eine tatsächliche Kartierung der genutzten Infrastruktur. Wandersimulationen und Fotomodi sind eine erholsame Manifestation des Cultural Landscaping. Wir sind heute begieriger, etwas über die Räume in unseren Spielen zu lernen, als wir es noch vor ein paar Jahren waren. Ähnlich wie die Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert hat auch das Gaming seine räumliche Wende irgendwann in den 2010er Jahren vollzogen. Projekte wie der Virtual Cities-Atlas von Videospielräumen sind der Beweis dafür. Und ich glaube, dass diese Orientierung von Spieler:innen und Forscher:innen gleichermaßen nicht mehr verschwinden wird.