Buchrezension: “Du nicht nehmen Kerze!” Übersetzungsprobleme und Übersetzungsstrategien in Videospielen
In der 2021 erschienen PAIDIA-Sonderausgabe Deutschsprachige Game Studies 2011-2021: Eine Bilanz habe ich eine Prognose gewagt, wie es um den Forschungsbereich der Linguistik in den Game Studies im deutschsprachigen Raum momentan steht. Als Vermutung habe ich darin geäußert, dass gerade die Übersetzungswissenschaften als Kreuzung aus Praxis und Theorie hier eine Vorreiterrolle einnehmen. Das kann freilich eine Wahrnehmungsverzerrung gewesen sein, bin ich in diesem Bereich doch selbst tätig, besuche entsprechende Tagungen und habe daher einen etwas genaueren Blick auf den Bereich als auf viele andere Ecken der Linguistik.
Schmidt, Mari. Juli 2021. „Du nicht nehmen Kerze!“ Übersetzungsprobleme und Übersetzungsstrategien in Videospielen am Fallbeispiel World of Warcraft. Verlag Werner Hülsbusch (vwh): Glückstadt. ISBN 978-3-86488-133-6.
Disclaimer: Ich habe das Buch vom Verlag Werner Hülsbusch als Rezensionsexemplar erhalten. Dem vwh stehe ich freundschaftlich gegenüber, zum Zeitpunkt dieser Rezension erscheint mein drittes Buch dort. Diese Verbindung hat keinerlei Einfluss auf mein Urteil zum hier rezensierten Titel.
Spiele-Lokalisation im Fokus
Mari Schmidts Monographie “Du nicht nehmen Kerze!” Übersetzungsprobleme und Übersetzungsstrategien in Videospielen am Fallbeispiel World of Warcraft, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Sonderausgabe bereits veröffentlicht, mir aber noch nicht bekannt war, könnte meine aufgestellten Vermutungen nicht schöner bestätigen. Das im Juni 2021 im Verlag Werner Hülsbusch veröffentlichte Buch basiert auf Schmidts 2016 in Wien eingereichter Masterarbeit, die zum kommerziellen Release um einige aktuelle Faktoren ergänzt wurde. Da sich Schmidt als Fallbeispiel auf World of Warcraft bezieht und dem Spiel damit gut die Hälfte der 267 Seiten widmet, lohnt sich an dieser Stelle der Hinweis, dass die seit einigen Jahren bekannt gewordenen Fälle von (sexuellem) Missbrauch, Arbeitnehmer*innen-Unterdrückung und vielen weiteren Verfehlungen Activision Blizzard Kings in diesem Buch keine Rolle spielen. Das ist sicherlich auf das Alter des Forschungsvorgangs zurückzuführen und nicht weiter kritisierenswert, auf die Vorfälle sei aber deswegen in dieser Rezension hingewiesen.
Schmidt beginnt mit einer gelungenen Gegenüberstellung der Begriffe Übersetzung und Lokalisation (S. 21), die wichtige Grundlagen ihrer Überlegungen darstellt. Da dieses Feld für ihren Forschungsblick sehr viel wichtiger ist als die Inneneinsicht der Game Studies, lassen sich daher Schnitzer bei der Definition der letzteren, etwa das Tappen in die tradierte Falle eines harten Narratologie vs. Ludologie-Kriegs (vgl. S. 58), gut verschmerzen. Lokalisations-Praktiker*innen, die „Du nicht nehmen Kerze!“ lesen, werden sich auf die übersetzerischen Erkenntnisse des Buches konzentrieren und der eher am Rande vorkommenden spieletheoretischen Einordnung eher sekundär Wissen entnehmen; Forscher*innen aus den Game Studies hingegen können in fast jeder Arbeit zum Thema Spiel wiederholten historischen Einordnungen ohnehin guten Gewissens übergehen und zum spannenden Part der Lokalisationswissenschaft kommen. Viele andere der grundlegenden Diskussionen im Buch sind gleichermaßen nützlich für beide Seiten, selbst wenn sie sich eher an Praktiker*innen richten: Für angehende Übersetzer*innen von Spielen stellt Schmidt beispiele eine Übersicht über fast alle in Videospielen vorkommenden Textarten (Dialogebäume, Menüs etc) bereit, die auch Spiele-Theoretiker*innen eine nützliche Basis für Untersuchungen sein können.
Insbesondere Schmidts kulturelle und soziale Ausführungen können einer Vernetzung auf Augenhöhe zwischen Forscher*innen und Praktiker*innen, Game Devs, Game Scholars und Lokalisator*innen nur entgegen kommen. Es lohnt sich immer wieder, auf das vergleichsweise geringe soziale Prestige von Übersetzungen und dessen sozial verankerte Faktoren (etwa wie ab S. 45) hinzuweisen.
Transcreation als Grundphilosophie der Übersetzungstheorie
Spätestens, seit ich selbst in der Videospiellokalisation tätig war, ist mein Respekt vor Lokalisator*innen gewaltig. Die sind nicht einfach nur Übersetzer*innen, sie analysieren auch Zielgruppen und -märkte, sind Comedians, technische Sachbearbeiter*innen und Autor*innen ganz neuer, passender Themen, wenn die Arbeit es verlangt. Sie sind nicht nur translator, sie sind auch creator, und auf dem von Mangiron und O’Hagan 2006 geprägten Kofferwort transcreation, das diese Arbeit sichtbar zu machen versucht, basieren auch viele der Punkte, die Mari Schmidt in „Du nicht nehmen Kerze!“ Übersetzungsprobleme und Übersetzungsstrategien in Videospielen am Fallbeispiel World of Warcraft bespricht. Besonderen Fokus legt sie beispielsweise auf die “Neuerschaffung von Humor bei der Übersetzung” (S. 65) als kreativen Spielraum, aber eben auch als besondere Herausforderung von Lokalisator*innen. Beispiele für gelungene und misslungene, transkreative und andere, etwa nullübersetzte Lokalisationen führt Schmidt in ihrer Fallbeobachtung ab S. 123 zuhauf auf, etwa wenn aus der Band Tenacious D in der englischsprachigen Version im Deutschen Die Toten Hosen werden (vgl. S. 195) oder lediglich die Schreibweise bestimmter Schuhe im Spiel von Kurkenstoks der deutschen Schreibweise von (Birken)stocks angeglichen wird (vgl. S. 203). Schmidt gibt einen gelungenen Überblick über verschiedene Herausforderungen beim Übersetzen von Englisch nach Deutsch, indem Sie sich auf kulturelle Referenzen als Beobachtungsgegenstand beschränkt. Das hat für Leser*innen mehrere Vorteile. Zum einen ist gerade der Prozess der Übersetzung von Referenzen besonders schwer. Nach außen gerichtete Kulturreferenzen, etwa auf Bands, Filme, andere Videospiele oder Sprichwörter, sind von Kulturraum zu Kulturraum unterschiedlich gut verständlich, ja teilweise politisch oder kulturell unmöglich. Sich auf dieses besonders herausfordernde Feld zu beschränken zeigt also auf kompaktem Raum viele der Probleme auf, die sich Lokalisator*innen stellen können, und bietet daher eine gute Übersicht für Praktiker*innen. Zum anderen sorgen die zahlreichen, in Tabellen sortierten Beispiele für Referenzen aus dem deutschsprachigen Raum für Identifikationspotenzial bei deutschsprachigen Leser*innen. Ganz einfach gesagt: Es macht Spaß, sich Schmidts ausgewählte Beispiele aus World of Warcraft durchzulesen.
Gelungene Zielgruppendiskussion mit bibliografischen Schwächen
In keiner Arbeit zu Lokalisationsprozessen darf ein Kapitel zum Zielpublikum fehlen: Diese Spieler*innen sind es schließlich, die das übersetzte Produkt kaufen sollen, für die ein Unternehmen überhaupt die Mühe eingeht, eine Lokalisation anzubieten. Schmidt fächert hier anhand einer nützlichen Spieler*innen-Typisierung (vgl. ab S. 223) auf, welche verschiedenen Gruppen an Käufer*innen eine Lokalisation abholen und auf unterschiedliche Arten befriedigen muss. Gerade am gewählten Beispiel eines MMORPGs wie World of Warcraft ist dieser Punkt essentiell, treffen doch darin ständig Menschen mit unterschiedlichen Spielstilen und -zielen aufeinander, verfolgen sogar dieselben Quests als Gruppe und wollen alle gemeinsam ins Spiel immersiert werden. Diese besonderen Herausforderungen für Übersetzer*innen stellen den Hauptteil der im Titel angelegten Übersetzungsprobleme und Übersetzungsstrategien dar, von der Übernahme oder Übertragung bestimmter Gags bis hin zur in World of Warcraft nachträglich geschehenen Lokalisation englischer Orts- und Personennamen ins Deutsche. leider tappt Schmidt dabei in die ein oder andere Falle, die in den Game Studies längst ausgeräumt scheinen: Eine strenge Trennung in Casual-, Serious- und Core-Games etwa, die umso fragwürdiger scheint, weil letztere normativ als “Klassische Videospiele” (S. 211) aufgefasst und an späterer Stelle sogar noch schwammiger als “Spiele für PC oder Konsole” (S. 233) bezeichnet werden. Die Plattform, auf der ein Spiel gespielt wird, sagt naturgemäß nichts darüber aus, ob es sich um ein “Gelegenheitsspiel” oder ein “Lernspiel” handelt (auch diese Begriffe wären an anderer Stelle sicherlich diskutierenswert). Dazu kommt, dass einige der von Schmidt gewählten Randbeispiele dieser Klassifizierung bereits widersprechen, etwa Blizzards eigenes Hearthstone oder auch Magic: The Gathering in seiner analog-digitalen Hybridform als Kartenspiel. Die Lektüre etwa von Claus Pias’ Computer Spiel Welten, Mary Flanagans Critical Play oder einem anderen grundlegenden Werk aus den Game Studies hätte die hauptsächlich aus Übersetzungswissenschaftler*innen bestehende Bibliografie gut ergänzt. Auf dieses Manko ist sicherlich auch die Tradierung hartnäckiger Fehlerzählungen wie die Mär von den Shooter-, Renn- und Kampfspiel-Genres, die “zu Beginn der Geschichte der Videospiele” “für Mädchen und Frauen damals nur wenig anziehend waren” (S. 212) zurückzuführen.
Fazit
Mari Schmidt gelingt es in „Du nicht nehmen Kerze!“ Übersetzungsprobleme und Übersetzungsstrategien in Videospielen am Fallbeispiel World of Warcraft, Lokalisationsexpertise und Videospielstudien am gewählten Beispiel der WoW-Übersetzung vom Englischen ins Deutsche zusammenzubringen. Anscheinend als Ratgeber für Praktiker*innen gedacht, lohnt sich die Monographie als ein- oder weiterführende Lektüre für angehende Übersetzer*innen sicherlich. Einen Wermutstropfen bilden die fehlerhaften Definitionen von in den Game Studies längst ausgearbeiteten Werten, die für (Noch-)Laien nicht erkennbar sein werden und zu falschen Annahmen bei der Umsetzung führen könnten. Auf der anderen Seite können Forschende der Game Studies vielleicht sogar noch mehr aus dem Buch ziehen, da ihnen die Schnitzer in den Theorien und Definitionen der Game Studies auffallen dürften, sodass sie aus dem tadellosen Praxis-Teil viel Wissen zur Lokalisation ziehen werden.
Es lohnt sich abschließend, hier noch einmal auf den Vernetzungsgedanken von „Du nicht nehmen Kerze!“ hinzuweisen. Insbesondere Schmidts kulturelle und soziale Ausführungen können einer Vernetzung auf Augenhöhe zwischen Forscher*innen und Praktiker*innen, Game Devs, Game Scholars und Lokalisator*innen nur entgegen kommen. Es lohnt sich immer wieder, auf das vergleichsweise geringe soziale Prestige von Übersetzungen und dessen sozial verankerte Faktoren (etwa wie ab S. 45) hinzuweisen.
Zusätzliche Informationen zum Buch
Schmidt, Mari. Juli 2021. „Du nicht nehmen Kerze!“ Übersetzungsprobleme und Übersetzungsstrategien in Videospielen am Fallbeispiel World of Warcraft. Verlag Werner Hülsbusch (vwh): Glückstadt. ISBN 978-3-86488-133-6.
Erhältlich u.a. direkt beim Verlag oder über die ISBN in Buchhandlungen.
Gendergerechte Sprache: Das Buch ist im generischen Maskulinum veröffentlicht.
Inhaltsverzeichnis: Beim Verlag online abrufbar.