Interface Literacy – In Other Waters und lesbare Schnittstellen
In Other Waters ist ein auf Erkundung basierendes Spiel, das vollständig über ein Computer-Interface funktioniert. Es liegen nicht nur alle Bedienelemente auf den Flächen des User Interface (UI), auch alle Spielaktionen und alle vom Spiel ausgegebenen Reaktionen finden dort statt. Jedoch nicht extradiegetisch, in beschreibender Form eines Geschehens, das man sich als Spieler*in ob der eingeschränkten technischen Möglichkeiten doch bitte vorstellen soll, wie in Textadventures a la Zork. Sondern intradiegetisch, denn die Rolle, die man spielt, ist die einer Künstlichen Intelligenz, die den Taucheranzug einer Forscherin bedient und mit dieser in Symbiose eine Unterwasserwelt erkundet.
Kartographie als Annäherung an Räumlichkeit
Die Interface-Elemente symbolisieren also nicht nur den Handlungsspielraum der K.I., sie stellen deren Sichtweise repräsentativ dar. Die K.I. nimmt ihre Umgebung nicht als dreidimensionale Umwelt dar, sondern liest sie als eine Aufstellung von Daten aus unterschiedlichen Analysetools aus. Das für uns als Menschen lebensnahste davon ist die kartografische Darstellung der Umwelt als Draufsicht, die sich im Zentrum des Spiels befindet. Darauf sind Lebewesen und Bewegungsrichtungen als Datenpunkte verzeichnet, Hindernisse und Höhenverhältnisse als Isohypsen, also Höhenlinien wie in einem Atlas. Diese Darstellung ist ebenfalls stark von der Realität abstrahiert, doch da sie als zweidimensionale Ebenendarstellung immerhin eine Ebene mehr zur Verfügung stellt als ein Zahlenstrom und da die meisten Menschen in der Schule gelernt haben, Karten zumindest rudimentär zu verstehen, können wir diese Schnittstelle lesen.
Lesbarkeit kommt mit Gewohnheit
Auch die anderen Interface-Elemente müssen gelesen werden können. Und je nach Vorerfahrung der Spieler*in fällt das leichter oder schwerer. Viele Menschen, die schon lange spielen, können die meisten Bedienelemente intuitiv nutzen, wie etwa das kleine Raster mit Buttons, die jeweils ein Inventar, ein Werkzeug zum Sammeln von Gegenständen und eine Art Schnellreisefunktion öffnen. Andere Menschen, die vielleicht über eine gewisse nautische Vorerfahrung verfügen, finden sich mit dem Kompass, der die Kartendarstellung in der Mitte des Bildschirms umrahmt, gut zurecht, weil sie intuitiv an dessen Stellrad drehen wollen – eine Handlung, die ich erst nach zwei Stunden im Spiel durch eine versehentliche Mausbewegung zufällig entdeckt habe. Welche Elemente des User Interfaces von In Other Waters uns intuitiv erscheinen und welche Einarbeitungszeit brauchen, wird von unser Literacy in verschiedenen Lebensbereichen bestimmt – unserer Lesefähigkeit von Systemen, die sich eher in bestimmten Kontexten wiederfinden als in anderen. Wer schon öfter mit nautischen Gerätschaften hantiert hat, der oder die weiß, wie sie funktionieren, wer noch nie einen Sextanten in der Hand hatte, nicht.
Bezogen auf Videospiele heißt die Fähigkeiten, typische Games-Eigenheiten zu erkennen, zu verstehen und bedienen zu können Gaming Literacy oder Ludoliteracy. Der Begriff Gaming Literacy stammt von Literaturprofessor James Paul Gee, der in seinem Buch What Video Games Have To Teach Us About Learning And Literacy seine didaktischen Erkenntnisse in die Game Studies einbringt. Er beschränkt sich dabei nicht auf digitale Spiele, sondern beginnt seine Beobachtungen als passionierter Pen and Paper-Spieler bei P&P- und Tabletop-Rollenspielen. Aus deren würfel- und nummernbasierter Wachstumslogik leitet er frühe Arten von Game Design ab, die sich bis heute im Design von Spielen wiederfinden lassen. Diese prägen nicht nur, wie wir jedes Mal aufs Neue Spiele lesen, sondern auch, in welche Form Spiele gebracht werden, damit wir sie lesen können. Systematischer formuliert:
Entwickler*innen produzieren etwas, das von Spieler*innen gelesen, also verstanden und genutzt werden muss.
Was Entwickler*innen produzieren können, hängt von ihrer Vorerfahrung ab.
Was Spieler*innen lesen können, hängt von ihrer Vorerfahrung ab.
Entwickler*innen müssen also den Verständnishorizont von Spieler*innen antizipieren und gleichen diesen mit ihrem eigenen ab. Nur was von beiden umfasst wird, kann so produziert werden, dass es auch gelesen werden kann.
Wie sehr man In Other Waters genießen kann, hängt zu großen Teilen von der eigenen Gaming Literacy ab. Typische Interface-Elemente wie das Inventar und die Landkarte beziehungsweise Minimap brauchen bei entsprechender Gaming Literacy keiner bewussten Beachtung mehr, um verstanden zu werden. Sie werden unterbewusst in die richtige Schublade sortiert und die entsprechenden üblichen Handlungen werden semantisch aktiviert. So erscheint es uns intuitiv logisch, dass man in einem kachelbasierten Inventarbildschirm Gegenstände per Drag and Drop bewegen kann. Wenn das dann auch funktioniert, schenken wir dem keine Beachtung, da unsere Erwartung erfüllt wurde. Nur wenn das nicht funktioniert (noch schlimmer: wenn es eigentlich funktionieren sollte, aber einen Fehler hat) fällt uns das auf.
Im Falle von In Other Waters geschieht diese Irritation in Kleinigkeiten, die die Intuition von Gaming Literates gerade soweit stört, dass die Fremdartigkeit des außerirdischen Planeten und die futuristische Art der Technologie im Taucheranzug ins Blickfeld gerückt werden. Orte auf der Karte können ncht per Klick besucht werden, stattdessen muss mit dem Stellrad des Kompasses oder einer Reihe umständlicher Klicks ein Bewegungsvektor zum entsprechenden Ort eingestellt werden. Erst dann kann das Triebwerk des Anzugs durch einen weiteren Klick aktiviert werden, sodass die Forscherin ihren Ort wechselt. Jede Einzelaktion ist dabei verständlich – Klicken, Drehen, Bestätigen – die Kombination hingegen umständlich genug, um glaubhaft den Eindruck von Lowtech aus der Zukunft zu vermitteln: Nicht benutzerfreundlich, aber doch effektiv. Dieses duale Verhältnis von Intuition und Irritation macht die Spielmechanik von In Other Waters aus. Und all das funktioniert nur, weil In Other Waters weiß, was wir wissen – oder zumindest, weil aus der Erfahrung seiner Entwickler*innen heraus sehr gut einschätzen kann, was wir Spieler*innen lesen können und was nicht.
Ludographie
In Other Waters. 2020. Entwickler/Publisher: Jump Over The Age (Gareth Damian Martin). Plattform: PC, Nintendo Switch.
Bibliographie
Digitale Wissenschaft, Podcast. Ein Besuch bei Jochen Koubek, Computerspielwissenschaften. Universität Bayreuth. #5. (https://digitale-wissenschaft.de/podcasts/folge-5-jochen-koubek-computerspielwissenschaften-uni-bayreuth/)
Gee, James Paul. 2007. What Video Games Have To Teach Us about Learning and Literacy. Palgrave Macmillan: New York, London.
Ludoliteracy: Defining, Understanding and Supporting Games Education. (http://gamestudies.org/1301/articles/zagal_book_review)