Was sind eigentlich Game Studies? Von denen, die auszogen, das Spiel zu erforschen
Es gibt Menschen, gebildete, studierte, promovierte, die widmen ihr Leben der Frage, was Videospiele so besonders macht.
Findet ihr das komisch, nerdig? Würdet ihr das auch bei Leuten sagen, die das Gleiche mit Büchern oder Filmen tun? Denn während Shakespeare rezitierende Literaturwissenschaftler und Kubricks Kameraarbeit analysierende Filmwissenschaftler längst zum Standard an deutschen Universitäten gehören, sind Spieleforscher gerade erst dabei, sich zu etablieren. Dabei gehen die Grundzüge der Spieleforschung – oder Game Studies, wie sie international heißen – bis in die 1930er zurück!
Dieser Artikel erschien zuerst im unabhängigen Printmagazin GAIN, Ausgabe #8. Wenn er euch gefällt, könnt die aktuelle Ausgabe #9 hier bestellen oder die GAIN abonnieren. Wenn ihr euer Abo über Steady abschließt, helft ihr uns ganz besonders! Disclaimer: Pascal Wagner ist Redakteur und Autor bei der GAIN.
»Mein Name ist Lohse, ich forsche an Spielen.«
Doch was genau decken die Game Studies ab? Was heißt es, Spiele zu erforschen oder an ihnen zu forschen? Die erwarteten Antworten sind genauso schwammig wie die Frage selbst. Videospiele sind komplexe Konstrukte, mit mehreren ineinander greifenden technischen, erzählerischen und thematischen Ebenen. Wie man überhaupt ein einziges Spiel wissenschaftlich auseinandernimmt, können sich die meisten Menschen daher schon nur schwer vorstellen. Und genau da liegt der Knackpunkt, denn die Art, wie man auf Spiele blickt, lässt sich überhaupt nicht sinnvoll einschränken. Es gibt Menschen, die sich eine beträchtliche Zeitspanne lang nur mit einem einzigen Spiel oder einer Reihe beschäftigen und versuchen, so viel wie möglich davon wissenschaftlich zu erklären. Wie etwa stellt »Silent Hill 2« die Bewältigung von posttraumatischen Belastungsstörungen dar, und welchem Zweck dient der Nebel in der gruseligen Kleinstadt aus einer psychologisch-pathologischen Sicht? Solche Detailbetrachtungen einzelner Titel werden oft von ganzen Personengruppen gemeinsam durchgeführt und dann in einem Sammelband veröffentlicht. Gleichzeitig gibt es Forscher*innen, die unterschiedliche Titel innerhalb eines größeren Forschungsfelds untersuchen, indem sie beispielsweise aktuelle AAA-Spiele in das jeweilige politische Klima ihrer Zeit einordnen. Oder, um euch mein eigenes Steckenpferd näher zu bringen: Indem sie sprachliche Besonderheiten in ausgewählten Spielen miteinander in Verbindung bringen. Wie ist die fiktive Elfensprache in den The Witcher-Spielen aufgebaut, wie die Drachensprache in »The Elder Scrolls V: Skyrim«, und welche der beiden frei erfundenen Sprachen ist die ›Bessere‹? Es versteht sich fast von selbst, dass solche Untersuchung aus einem einzelnen Feld heraus meist von Experten eben dieser Art der Forschung kommen, die wiederum die Methoden ihrer eigenen Disziplin mitbringen. Nichts hält Historiker*innen, Linguist*innen oder Physiker*innen davon ab, ein Videospiel mit den ihnen beigebrachten Mitteln zu untersuchen, ohne die Arbeitsweise der anderen Spieleforscher zu kennen. Das macht die Game Studies zu einem durch und durch interdisziplinären Forschungsgebiet. Und die dabei entstehenden Artikel und Bücher so divers wie die kaum einer anderen Geisteswissenschaft.
Natürlich kann das ganz schön chaotisch werden, besteht doch die Gefahr, dass sich diese Forscher*innen in ihrer Fachsprache verlieren. Dann hätten andere Menschen keine Chance, ihre Gedankengänge und Ergebnisse nachzuvollziehen. Glücklicherweise haben die Game Studies auch ein eigenes Inventar an Forschung und Begriffen, das von den meisten interdisziplinären Betrachtungsarten aufgegriffen wird. Viele davon stammen aus dem Game Design und beziehen sich auf technische Begebenheiten und Konventionen, die Spieler*innen ganz intuitiv vertraut sind. Ich werde keiner Leser*in dieses Magazins erklären müssen, was ein NPC ist, was eine Open World ausmacht und dass Spiele je nach System und Bildschirm in bestimmten Auflösungen dargestellt werden. Für Spieleforscher*innen ist es aber wichtig, diese Begriffe genau definieren zu können.
Von Mau-Mau zu Triple Triad
Doch nicht nur bei den spielmechanischen Begriffen treffen sich die einzelnen Disziplinen. Und hier nähern wir uns dem historischen Kern der Game Studies, denn die Untersuchung von digitalen Spielen leitet sich zu einem großen Teil von Forscher*innen ab, die weit vor dem digitalen Zeitaltern damit begonnen haben, Gesellschaftsspiele und sportliche Auseinandersetzungen zu untersuchen. Als Grundwerk der Spielforschung, wie wir sie heute wahrnehmen, gilt gemeinhin ein Buch, das 1938 veröffentlicht wurde, also weit vor jeder Vorahnung auf ein digitales Zeitalter: »Homo Ludens« vom niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga. Seine Definition des ›Spiels‹ gilt, wenn auch mit der Zeit verfeinert und an unterschiedliche Spielarten angepasst, auch heute noch sehr treffend:
Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des »Andersseins« als das »gewöhnliche Leben«.
Dennoch hat sich seit den 30ern Einiges an der Rezeption des Spielens an sich und seit der Erfindung des Computerspiels auch an der Definition davon im Speziellen geändert. Trotzdem lassen sich immer noch viele Konzepte, die dem Spielen auf dem Fußballplatz oder von Brettspielen eigen sind, in den Game Studies finden. Forscher*innen sprechen daher nicht von Video- oder Computerspielen, sondern von »digitalen Spielen«, um auf die Verwandtschaft mit analogen Spielen hinzuweisen. Ein Multiplayer-Match in »Call of Duty«, bei dem zwei Teams gegeneinander um die höchste Punktzahl kämpfen, kann durchaus als dieselbe Art des Spiels bezeichnet werden wie ein Fussballspiel, bei dem es ja letztendlich um das Gleiche geht. Roger Callois, ein weiterer wichtiger Vorreiter der Spieleforschung, nennt diese Art des Gegeneinanders zum Beispiel Agon (aus dem Griechischen für ›Wettstreit‹). Heutzutage benutzen wir diesen und ähnliche Begriffe wohl häufiger, um die digitalen Auseinandersetzungen von »Counter-Strike« oder »FIFA« zu bezeichnen, als die kompetitiven Matches von Brettspielen oder Sportveranstaltungen. Auch die immer stärkere Verknüpfung von e-Sports mit klassischen Sportveranstaltungen bis hin zu der Frage, ob e-Sports-Turniere vielleicht irgendwann einmal Teil der Olympischen Spiele sein könnten, basiert auf dieser Ähnlichkeit. Das zeigt, wie wichtig die Ergebnisse für die Game Studies sind, die die analoge Spieleforschung schon jahrzehntelang vorgelegt hat.
Medizin und Medienwirkung
Ein weiterer spannender Bereich der Game Studies, der oft in Verruf kommt, ist das, was man übergreifend als Medienwirkungsforschung bezeichnen kann: Was machen digitale Spiele mit uns? Welche Reaktionen lösen sie in einzelnen Personen aus, und wie beeinflussen sie vielleicht sogar ganze Gesellschaften, in denen sie gespielt werden? Können sie eventuell sogar psychisch krank machen? Insbesondere letzteres ist eine Frage, die immer wieder auch in klassischen Reportagemedien aufgegriffen und leider nur allzu oft unzureichend und mit unwissenschaftlichen Methoden behandelt wird. Erst vor wenigen Monaten hat die World Health Organisation Videospielsucht in ihren Katalog der anerkannten Krankheiten aufgenommen. Obwohl das auf viel Kritik von Journalisten stieß, weil eine solche potenzielle Krankheit bisher nur schwer von anderen Süchten wie der Glücksspielsucht abgrenzbar ist, fiel der Protest von Spieleforschern deutlich geringer aus. Der Grund dafür ist ein ganz praktischer: Finanzierung für die Erforschung einer Krankheit zu bekommen, die es möglicherweise gar nicht gibt, ist an Universitäten und in der privaten Wirtschaft gleichermaßen schwer. Jetzt, wo die WHO die Existenz einer solchen Krankheit geradezu festgelegt hat, können Mediziner und Psychologen, hoffentlich unterstützt von Mitgliedern zahlreicher anderer Sparten der Game Studies, mit Hilfe von Forschungsgeldern relevante Experimente durchführen. Es war in diesem Fall also überhaupt nicht verkehrt, das Pferd von hinten aufzuzäumen.
Auch weit weniger kontroverse Themen können Teil der Wirkungsforschung sein, etwa Studien über Spieler*innenverhalten. Warum neigen sich manche Menschen mit zur Seite, wenn sie ein Gamepad oder einen Analogstick bewegen, und andere nicht? Wie wirken sich wechselnde Hintergrundmusikstücke in stressigen oder unheimlichen Spielsituationen auf den Puls aus? Gerade in der Medizin und der Psychologie sind der Neugier von Wissenschaftler*innen kaum Grenzen gesetzt.
Wir können also viel von digitalen Spielen lernen. Nicht nur durch die von ihnen behandelten Themen und besuchten Welten, sondern eben auch vom Medium selbst. Rund um den Globus arbeiten zahlreiche Spieleforscher*innen an Artikeln, Vorträgen und Konferenzen, um unserem liebsten Medium die akademische und öffentliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die wir Filmen, Büchern und Comics schon ganz selbstverständlich schenken. Ernstzunehmende Forschung bildet die Grundlage für eine Medienkritik, die über Meinungen und Ängste hinaus geht. Das heißt auch, dass wir, wie vielleicht im Falle der Videospielsucht, nicht nur auf Erkenntnisse stoßen werden, die uns gefallen, und dass wir uns mit diesen auch journalistisch auseinandersetzen müssen, um sie an Spieler*innen zu vermitteln. Das nennt man dann Wissenschaftskommunikation, und wenn ihr diesen Artikel bis zum Ende gelesen habt, hat sie ihren Dienst schon ein kleines Stück weit getan.
Wenn ihr nun noch Lust auf mehr Game Studies habt, dann lest weiter! In den folgenden Absätzen findet ihr Zitate von Forschern, die kurz und knapp erklären, warum sie an Spielen forschen, und tolle Literatur zur Einführung ins Thema!
Warum forschen wir an Spielen?
»Digitale Spiele sind Popkultur-Massenmedium, in welchem wir als Gesellschaft unsere gemeinsamen Werte und Tabus immer aufs Neue ausverhandeln. Hier bilden sich wie auch in Filmen, Romanen, usf. unsere Weltbilder.« Eugen Pfister, Historiker
»Das digitale Spiel ist ein Medium von enormer Vielfalt, das sich immer noch rasant weiterentwickelt – und zwar nicht nur technisch, sondern auch indem es neue Spiel- und Erzählkonventionen ausbildet.« Franziska Ascher, Germanistische Mediävistin
»Ich forsche an digitalen Spielen, da ich an ihnen gleichzeitig technologischen Wandel wie auch gesellschaftlichen Zeitgeist erkennen zu glaube – diese Mischung ist es, die mich fasziniert und herausfordert.« Rudolf Inderst, Kulturhistoriker
»Neben der Aufarbeitung von Geschichte, Theorie und Praxis der Computerspielmusik, ihren Auswirkungen auf andere Medienformen und Musikgenres sowie der Erforschung fankultureller Praktiken reizt mich die Suche nach gegenstandsspezifischen Analyseansätzen, da diese wiederum zu einem erweiterten Nachdenken über Musik auch als eine spielerische Praxis anregen.« Melanie Fritsch, Ludomusikologin
»Damit Spiele breitenwirksam als ernstzunehmendes Kulturmedium wahrgenommen werden, braucht es nicht nur einen kritischen Journalismus, sondern auch Forschung, die zeigt, wie sie auf uns wirken und wie wir mit ihnen interagieren.« Pascal Wagner, Linguist
Top 5 Bücher zur Einführung
Fernández-Vara, Clara. Introduction to Game Analysis. Routledge-Verlag (engl.).
Mäyrä, Frans. An Introduction to Game Studies. SAGE Publications-Verlag. (engl.)
GamesCoop (Hrsg.). Theorien des Computerspiels (zur Einführung). Junius-Verlag.
Für Fortgeschrittene:
Neitzel, Britta; Bopp, Matthias; Nohr, Rolf (Hrsg.).›See? I’m real…‹. Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von ›Silent Hill‹. LIT-Verlag.
Chess, Shira. Ready Player Two: Women Gamers and Designed Identity. University of Minnesota-Verlag.
Top 5 Klassiker für’s Regal
Huizinga, Johan. Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlt-Verlag.
Callois, Roger. Die Spiele und die Menschen. Matthes & Seitz-Verlag.
Murray, Janet. Hamlet on the Holodeck. MIT Press-Verlag.
McGonigal, Jane. Reality Is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World. Penguin-Verlag.
Juul, Jesper. Half-Real: Video Games between Real Rules and Fictional Worlds. MIT Press-Verlag.
Top 6 Online-Ressourcen
gamestudies.org (engl.): Regelmäßige Sammelbände und Artikel. Der Leviathan der online verfügbaren Game Studies!
paidia.de: Die wohl beste deutsche Ressource im Netz. Absolute Pflichtlektüre.
scholarsatplay.net (engl.): Ein Podcast von Geisteswissenschaftlern über Games, strukturiert wie kleine Seminare. Toll verfolgbar, leicht verständlich!
Game Studies Study Buddies (engl.): Noch ein Podcast! Cameron Kunzelman und Michael Lutz besprechen jeden Monat ein Game Studies-Buch im Detail. Fast besser, als selbst zu lesen!
youtube.de/gamesasliterature (engl.): Aufwendige Videoessays über Spiele aus der Perspektive eines Literaturwissenschaftlers.
gespielt.hypotheses.org: Die Webseite des Arbeitskreises ›Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele‹. Hält, was der Name verspricht!
Dieser Artikel erschien zuerst im unabhängigen Printmagazin GAIN, Ausgabe #8. Wenn er euch gefällt, könnt die aktuelle Ausgabe #9 hier bestellen oder die GAIN abonnieren. Wenn ihr euer Abo über Steady abschließt, helft ihr uns ganz besonders! Disclaimer: Pascal Wagner ist Redakteur und Autor bei der GAIN.
Eine Antwort
[…] Wagner widmet der wissenschaftlichen Disziplin Game Studies einen Blogbeitrag bei Language at Play und erläutert deren […]