Citizen Sleeper: Chronische Erkrankungen als Glücksspiel
Chronische Krankheiten im Spiel verständlich zu machen, ohne langweilig, lästig, oder im schlimmsten Fall beides zu sein, kann extrem schwierig sein. Fellow Traveller’s Citizen Sleeper und Citizen Sleeper 2: Starward Vector haben aber versucht, beide Probleme zu lösen. In beiden Teilen der Reihe spielt man jeweils einen Sleeper, das heißt die Kopie einer menschlichen Person, die sich einer großen Firma für etwas verpflichtet hat. Vielleicht liegt sie gerade im künstlichen Schlaf auf einem Schiff, das weit entfernt eine Kolonie aufbauen soll. Oder sie bezahlt mit ihren Fähigkeiten im neuen Körper, der dann billig schwierige Arbeiten erledigen soll. Mit geplanter Obsoleszenz soll dieser Sleeper unter Kontrolle gehalten werden – man will seine Arbeitskraft ja nicht verlieren.
Die Unmöglichkeit der Planungssicherheit
Das im ersten Citizen Sleeper gestellte Problem: Man spielt einen entflohenen Sleeper, der regelmäßig Medikamente benötigt, um seine Körperfunktionen zu erhalten. Mit jedem Tageszyklus, der verstreicht und auch bei anstrengenden Aktionen, die man unternimmt, verschlechtert sich die eigene Gesundheitszustand. Das wirkt sich auch auf die Möglichkeiten aus, die man jeden Tag bekommt. Diese eröffnen sich durch maximal fünf Würfel, die jeden Tag neu geworfen werden. Ein Würfelergebnis von 6 ergibt eine Wahrscheinlichkeit von 100%, eine Aktion zu bestehen, wenn man ihn dafür einsetzt. Diese Aktionen können Arbeiten sein, die den eigenen Lebensunterhalt sichern, oder auch Interaktionen mit Menschen. Ein Würfel mit einer 1 ergibt immer noch eine 50%-ige Chance auf ein neutrales Ergebnis, aber eine genauso große auf ein negatives. Den Einser-Würfel würde man also eher nicht für eine besonders schwierige Aufgabe einsetzen, z.B. eine riskante körperliche Arbeit, weil sich der Fehlschlag hier direkt auf die körperliche Verfassung auswirken kann.
Der Gesundheitsbalken über den Würfeln schrumpft in solch einem Fall und kann nur durch teure Maßnahmen wie Medikamente oder Reparaturen wiederhergestellt werden. Erreicht er den letzten Würfel nicht mehr, fällt dieser im nächsten Cycle aus, wodurch man nur noch vier mögliche Aktionen durchführen kann. Durch ansteigende Erschöpfung stehen dem Sleeper immer weniger Möglichkeiten zur Verfügung. Dieses System erinnert sehr an die Spoon Theory, mit der chronisch Kranke ihre Alltagsbewältigung beschreiben. Man wacht mit einer kleinen Anzahl Löffel auf, die verfügbare Energie repräsentieren. Jede Aktion benötigt mindestens einen, egal wie leicht sie erscheint. Die Löffel sind dann schnell aufgebraucht und es können keine weiteren Aktivitäten unternommen werden. Wie viele Löffel man zur Verfügung hat, kann von Tag zu Tag variieren und wird wie im Spiel durch zahlreiche Faktoren beeinflusst. Nicht immer können diese vorhergesehen werden. Es ist, ähnlich wie in Citizen Sleeper simuliert, immer auch ein gewisser Glücksspiel-Faktor dabei. Manchmal verschlechtert sich der Gesundheitszustand durch einfachste Aktionen, weil man nicht genug Löffel (oder Würfelaugen) hat – die Wahrscheinlichkeit auf ein negatives Ergebnis steigt also. Manchmal bewältigt man aber auch viele schwierige Aufgaben an einem Tag, weil man zufällig eine hohe Anzahl von Würfelaugen geworfen hat.
Ein weiterer Faktor, der im Spiel wie im Leben zur Gesundheit beiträgt, ist die Energieversorgung, also die Nahrungszufuhr. Diese wird bei Citizen Sleeper als Balken unter den Würfeln angezeigt, der durch Essen aufgefüllt werden kann. Dieses kann entweder durch Einsatz eines Würfels erarbeitet oder gekauft werden, wofür vorher die entsprechende Arbeit investiert werden muss. Sinkt dieser Wert zu weit und kann nicht ausgeglichen werden, zieht er den Zustand des Körpers dauerhaft mit hinunter. Wiederhergestellt werden kann sie nur durch ein sehr teures Medikament, das der Sleeper für eine Weile gelegentlich auf dem Schwarzmarkt erstehen kann, wodurch immer eine gewisse Unsicherheit herrscht. Bekommt man es noch? Kann man es sich überhaupt leisten? Und wenn ja, wann ist der richtige Zeitpunkt, um es zu verwenden? Ist der Verlust eines Würfels schon genug, um wieder zu investieren oder wartet man lieber, bis es ‘wirklich’ schlimm wird? Auch bei vielen chronischen Erkrankungen sieht die Versorgung ähnlich aus.
Belastungsresistenz
In Citizen Sleeper 2: Starward Vector fällt dieser Teil der Entscheidung weg. Der neue Sleeper hat eine Möglichkeit gefunden, die geplante Obsoleszenz durch einen Reboot zu umgehen. Der Balken für den Gesundheitszustand wird hier durch Belastungspunkte (‘stress’) ersetzt. Der Sleeper und auch die Begleiter*innen haben eine individuelle Anzahl von Punkten, die ihre Belastungsresistenz anzeigen. Bei jeder Aktion, die durch eine niedrige Augenzahl fehlschlägt, besteht die Chance, dass sie bei den Verursacher*innen Stress auslöst. Die Stresspunkte sammeln sich an und sorgen dafür, dass Würfel beschädigt und somit nicht mehr nutzbar werden, so wie beim Verfassungsbalken des ersten Spiels. Eine höhere Belastung wirkt sich auf die Würfel aus. Während am Anfang noch die eher vernachlässigbaren Einser-Würfel beschädigt werden können, stehen später die höheren Würfe auf dem Spiel, die man dringend für Aktionen benötigt. Ist man auf einer Station, kann man durch Einsatz eines Würfels dort auch Belastung abbauen, während einer Auswärtsmission ist dies aber nicht möglich. Man muss dann mit weniger Würfeln auskommen, wodurch gerade unter Zeitdruck die Notwendigkeit steigt, auch schlechtere Würfe einzusetzen, die wiederum bei einem Fehlschlag den Stress erhöhen. Wird die Leiste voll, fällt der entsprechende Charakter ganz aus und kann nicht weiterarbeiten.
Spielmechanik zur Erklärung chronischer Erkrankungen
Dies ist vergleichbar mit einer starken Post-Exertional Malaise – auch als Crash bezeichnet – die bei ME/CFS, das als Chronisches Fatigue Syndrom, einer extremen Folge von Covid oder anderen Viruserkrankungen, Bekanntheit gefunden hat. Belastung jeglicher Art kann bei dieser Erkrankung zu einer Symptomverschlechterung führen, die Betroffene entweder leicht einschränkt oder im Extremfall dauerhaft beeinträchtigt. Noch passender darstellbar wäre dies durch die Kombination der beiden Citizen Sleeper-Mechaniken: die nur wenig vorhersehbare Beschädigung der Würfel durch Belastung plus der Verfassungsbalken, der die dauerhafte Verschlechterung der täglichen Möglichkeiten anzeigt.
Um das Gameplay unterhaltsam zu gestalten, ist allerdings eine der Mechaniken ausreichend und kann möglicherweise das Verständnis zum Management chronischer Erkrankungen verbessern. Eine Zufallsmechanik mit Würfeln ist allgemein bekannt und somit leichter zu verstehen als eine sich täglich ändernde Löffel-Anzahl. Mit der Löffeltheorie wäre es möglich, an einem Tag sechs von zehn Löffeln für eine besonders anstrengende Aktivität einzusetzen, indem man die anderen vier beispielsweise fürs Kochen und Verspeisen von Essen verwendet und sonst nichts unternimmt. Manche dieser Anstrengungen sind für chronisch Kranke allerdings nur an sehr guten Tagen möglich, was das Würfelmodell sehr viel klarer darstellt, da eine geringe Anzahl an Würfelaugen an diesem Tag kein positives Ergebnis mehr zulässt. Die Faktoren des körperlichen Zustandes und der Belastung als Balken, die Würfel beschädigt, sind als Bild leicht vorstell- und abrufbar. Auch das Konzept der geplanten Obsoleszenz versinnbildlicht die Notwendigkeit eines ständigen Ringens um den Erhalt eines nicht zwingend guten, aber zumindest akzeptablen körperlichen und psychischen Zustandes.
Die Spoon Theory ist inzwischen ein verbreitetes Konzept, Betroffene nennen sich danach oft auch ‘Spoony’. In der Kommunikation solcher Erkrankungen ist es trotzdem sinnvoll, nach weiteren und breiter einsetzbaren Modellen zu suchen, die Betroffenen dabei helfen können, ihrem Umfeld ihren Zustand zu erklären und mit wenig Worten und Energie ihre Bedürfnisse ausdrücken zu können