Immortality als Digitale Literatur
Dieser Beitrag ist im Rahmen eines Seminars entstanden und wurde zuerst auf dem Blog des Projekts Born-digitals veröffentlicht.
Die Geschichte des Spiels Immortality vom Entwickler Sam Barlow dreht sich um Marissa Marcel, eine Schauspielerin, die über die Jahre drei Filme gedreht hat, die aus unterschiedlichen Gründen nie erschienen sind. Je nachdem, wen man fragt, wird es als ‘Interactive Fiction’ oder auch ‘Interaktiver Film’ bezeichnet. Letzteres soll die Abgrenzung zum ‘wirklichen’ Spiel unterstreichen, das prototypisch mehr Spielmechaniken aufweist. Bei Immortality beschränken sich die Interaktionsmöglichkeiten auf das Anklicken von Gegenständen oder Personen innerhalb der Filmsequenzen und die Möglichkeit, vor- bzw. zurückzuspulen und zu pausieren, wie bei einer Videokassette.
So startet man in einer ersten Szene, die Marissa kurz vor ihrem Karrieredurchbruch in einer Late-Night-Talk Show zeigt und entscheidet mit einem Klick, aus welcher Kategorie das nächste Video ausgewählt werden soll. Wählt man beispielsweise eine Tasse aus, bekommt man eine zufällig aus der Datenbank ausgewählte Szene mit einer ebensolchen abgespielt, bis man genügend Videoclips gesammelt hat, um die Geschichte von Marissas Unglück Stück für Stück zusammensetzen zu können.
Statt als Interaktiven Film kann man Immortality auch als digitale Literatur untersuchen, die nach Simanowski (2001) mindestens eines der folgenden Merkmale vorweisen kann, nämlich Interaktivität, Intermedialität und Inszenierung. Interaktivität ist eine Grundfunktion von Spielen und natürlich auch von interaktiven Filmen, genau so wie die Verbindung verschiedener Medienformen zur Schaffung eines Gesamtkunstwerkes. Als Inszenierung beschreibt Simanowski dem Werk digital eingeschriebene Textebenen, die erst nach einer Aufforderung oder einer bestimmten Eingabe sichtbar werden.
In Immortality gilt dies einerseits für die Videos, die erst per Klick freigeschaltet – und somit sichtbar – werden, aber vor allem auch für eine weitere versteckte Ebene der Videos und der Story. Beim Ansehen der Videoclips werden Spielende durch einen bedrohlich klingenden Ton und die Vibration des Controllers auf Besonderheiten aufmerksam gemacht. Durch Zurückspulen finden sie hier neue Ansichten der Geschehnisse, in denen andere, götterähnliche Figuren die Hauptrolle spielen. Diese Szenen sind für das Verständnis der Gesamtgeschichte essenziell.
Die Frage, ob Immortality oder auch Spiele allgemein als Literatur gesehen werden können, kann man auf die vier Modi von Engelmeier (2017) beziehen, nach denen man untersucht, was Literatur sein kann und darf, was sie tatsächlich ist und welche Funktion sie erfüllen soll. Sicherlich ist der Begriff Literatur noch stark mit der Veröffentlichung auf Papier verbunden, jedoch beschreibt Engelmeier, dass für innovative Literatur wichtig ist, ihr Thema “angemessen und am besten auch originell” darzustellen und alle verfügbaren (Medien-)Techniken dafür einzusetzen. Ein Videospiel über den Dreh von Filmen mit Mechaniken auszustatten, die bei ebendiesen zum Einsatz kommen, entspricht exakt diesen Anforderungen und gibt Anlass, sich aus Sicht der modernen Literaturwissenschaft vermehrt damit zu befassen.
Quellen:
Immortality. 2022. Entwicklung: Sam Barlow. Publisher: Half Mermaid Production. Getestete Plattform: Xbox Series S.
Engelmeier, Hanna (2017): Was ist die Literatur in »Digitale Literatur«? In: De Gruyter: Merkur 823.
Simanowski, Roberto (2001): Autorschaften in digitalen Medien. Eine Einleitung. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Digitale Literatur (Text + Kritik 152). München: Ed. Text + Kritik.