In Lingotopia erkundet ihr eine Stadt in fremden, echten Sprachen. Und könnt sie dabei lernen!
Dass man beim Spielen etwas lernen kann, ist nicht neu. Wer hat nicht in den Anfangszeiten seiner Videospielkarriere mindestens ein Lernspiel von den hoffnungsvollen Verwandten bekommen, auf dass der Zeitverschwenderkasten im Wohnzimmer hoffentlich doch noch einen Zweck erfüllt?
Dass Videospiele uns auch abseits vom expliziten Lernspiel viele Dinge beibringen können, wissen wir längst. Lernsoftware im Spielemantel ist dadurch aber nicht obsolet geworden, nein, sie hat im Gegenteil eher davon profitiert. Manch Spiel verkleidet seine Lernfunktion mit einer ansprechenden Mechanik, um Spieler am Ball zu halten und die Motivation auf das zu Lernende zu lenken. Und weil ihr gerade einen Artikel auf Language at Play lest, wisst ihr natürlich auch, wovon ich hauptsächlich spreche: Es geht ums Sprachen lernen.
Dieser Text wurde ursprünglich am 15. Januar 2018 zur Kickstarter-Kampagne von Lingotopia veröffentlicht. Als leicht überarbeitete Review und mit Hinweis auf das jetzt verfügbare vollständige Spiel haben wir uns entschlossen, ihn erneut zu veröffentlichen.
Mit Lingotopia (Shopseiten auf Steam und itch.io) hat es 2018 ein solchen Sprachen-Lernspiel auf Kickstarter geschafft, finanziert zu werden. Warum ich Lingotopia für so besonders halte, dass ich unbedingt darüber schreiben wollte, hat mehrere Gründe, die ich euch nun gerne nahebringen möchte.
‚Alle‘ Sprachen, Wort für Wort
In Lingotopia wandern wir als bunte Figur durch eine fremdartig anmutende Stadt, die von anthropomorphen Tieren bevölkert wird. Je nach Einstellung zu Beginn – natürlich solltet ihr eine Sprache wählen, die ihr nicht sprecht, um das volle Erlebnis zu bekommen – versteht ihr kein Wort der Dialoge! So habe ich zum Beispiel einfach einmal versucht, ein paar Worte Indonesisch zu lernen. Bevor ich mich an Dialoge wage, klicke ich zunächst ein wenig durch die Stadt. Damit bewege ich nicht nur meinen Avatar über die Straßen und kann die kleinen Monologe der Passanten beobachten, ich lerne auch ganz direkt neue Worte, indem ich auf herumliegende Gegenstände klicke! Krug, Vorhang, Brunnen, Treppe – klicke ich sie an, so öffnet sich eine Box mit dem entsprechenden Wort, und eine Sprachverarbeitungssoftware liest es mir sogar in der entsprechenden Sprache vor! Das funktioniert in der Demo, die ich gespielt habe, noch nicht mit allen auswählbaren Sprachen, unter denen sich nicht nur naheliegende wie Französisch, Russisch oder Niederländisch befinden, sondern eben auch kompliziertere Isländisch, Bengalisch, Chinesisch oder Türkisch. Alle bereits gelernten Vokabeln lassen sich auch über ein integriertes Wörterbuch erneut aufrufen, dass ebenfalls eine Vorlesefunktion besitzt. Damit deckt Lingotopia aber bereits eine wichtige Komponente des Sprachenlernens ab, nämlich die Verbindung von visuellen und auditiven Stimuli. Input, der mehrere Reize anspricht, sorgt nämlich für bessere Vernetzung der angestoßenen Nervenverbindungen und damit für besseres oder schnelleres Merken. Deswegen lesen wir beim Lernen ja auch manchmal leise die Vokabeln mit oder lassen uns von Freunden abfragen.
Habe ich nun durch das Absuchen der Umgebung einige Vokabeln erlernt, kann ich mich an einen Dialog trauen. Während in der Dialogbox ein alltäglicher indonesischer Satz steht, der mir natürlich überhaupt nichts sagt, gibt mir Lingotopia eine kleine Hilfe, um ein einzelnes, markiertes Wort aus diesem Satz zu lernen. Darunter bekomme ich einige Hinweise: Ein Tier plus Federn. In diesem einfachen Beispiel ist klar, dass ‘Vogel’ gesucht wird, und sobald ich das eintippe, wird die indonesische Übersetzung für ‘Vogel’ meinem Wörterbuch hinzugefügt und mir im Satz markiert, sodass ich sie immer parat habe. Den Rest des Dialoges verstehe ich trotzdem nicht, aber theoretisch kann ich ja zurückkommen, wenn ich solche einfachen, aber effektiven Konstruke wie ‘ich’, ‘haben’ oder ‘sein’ erlernt habe, um mich noch einmal daran zu versuchen. Das Manko an dieser Art der Sprachenlehre ist natürlich, dass hier nur Vokabeln und keine Grammatik effektiv vermittelt werden können. Lingotopia wird also niemals als einziges Werkzeug zum Erlernen einer Sprache genügen. Das sollte man aber eigentlich von keiner Lernsoftware erwarten, ohne anderweitigen Lehrer wie einen engagierten Muttersprachler oder ein Lehrbuch geht Sprachen lernen selten vonstatten.
Entwicklung in deutschem Hause
Zudem stammt das kleine Spiel aus Berlin und wird dort entwickelt von Tristan Dahl, dem Inhalber der kleinen Lernspiele-Firma Lingo Ludo. Der englische Muttersprachler hat beim Aufwachsen in Kapstadt früh Deutsch gelernt und es sich vor allem gerne selbst beigebracht. Am liebsten hat er in deutschen Büchern die Dialoge Wort für Wort entschlüsselt: dass dies heute zur Inspiration für die Dialoge in Lingotopia geführt hat, ist kein Wunder. Auch wenn ich selbst so gut wie alles auf Englisch spiele, macht es mir daher große Freude, dass Lingotopia zu einem großen Teil deutschsprachig produziert wird. Denn die meisten Sprachenlern- oder Tippspiele, die auf bekannten Spieleplattformen wie Steam, GOG oder itch.io vertrieben werden, basieren auf der englischen Sprache. Wenn auch oft deutsche Optionen vorhanden sind, so sind diese meist nicht ganz ausgereift und beinhalten des Öfteren Übersetzungspatzer – etwas, das gerade in einem Lernspiel natürlich fatal ist. Auch Lingotopia konzentriert sich auf die englische Sprache, von der aus sich die zahlreichen anderen Sprachen lernen lassen. Deutsch ist jedoch, sowohl in Richtung Deutsch-Englisch als auch Englisch-Deutsch, besonders herausgestellt und derzeit naheliegenderweise auch mit den meisten lernbaren Vokabeln versehen. Das ist toll und ein echtes Herausstellungsmerkmal in der deutschen Spielelandschaft! Denn wir dürfen nicht vergessen: Auch wenn es in Journalisten- und Forscherkreisen mehr als üblich ist, Spiele standardmäßig auf Englisch zu konsumieren, gibt es unzählige Spieler, deren Englisch dafür nicht gut genug ist oder die sich bewusst für die deutsche Sprachausgabe entscheiden. Gerade jene, die gerne Englisch durch das Spielen lernen möchten, haben in Lingotopia definitiv einen besonders guten Ansatzpunkt!
Vollwertiges Spiel mit Lernaspekt, nicht andersherum: Lingotopia als narrative Erfahrung?
Wer besonders großen Wert auf die Involvierung des Spielers oder die ungebrochene Erzählung des Spiels legt, der mag es vielleicht bereits gemerkt und heimlich kritisiert haben: Aus diegetischer Sicht ergibt es wenig Sinn, dass die Spielfigur durch das reine Anklicken von Gegenständen deren Namen und exakte Betonung lernt. Dahl ist sich dessen bewusst; als ich ihn darauf ansprach, gab er zu, dass die jetzige Methode eher eine technische Lösung sei. Im fertigen Spiel möchte er, sofern sich ihm die Möglichkeit dazu bietet, am liebsten die Worte von einem Muttersprachler einsprechen lassen. Das ließe sich dann narrativ über das Sprechen der Einwohner oder vielleicht eine Art Erzählerstimme begründen und würde so dem spielerischen Aspekt von Lingotopia beitragen. Mit den Mitteln, die Lingo Ludo zur Verfügung stehen wird sich das wohl nicht für alle im Spiel enthaltenen Sprachen ausführen lassen. Die jedoch, auf die er seinen Fokus gelegt hat und die am Ende sowohl von als auch nach Englisch eine vollständige Übersetzung erhalten sollen, nämlich Mandarin, Arabisch, Japanisch, Französisch, Spanisch und Deutsch, könnten aber sicher davon profitieren. Lingotopia ist kein trockenes Lernspiel, sondern eine Spielerfahrung, über die sich zudem Sprachen lernen lassen. Auch ohne das Verlangen, eine fremde Sprache zu erlernen, hat Dahl das Spiel im Stil eines Walking Simulators interessant und spielenswert gehalten. Das kann ich gut nachvollziehen und der Reiz daran offenbart sich mir sofort: Aus reiner Spielersicht halte ich die Aufgabe, in einer fremdartigen Stadt ohne Wissen über die Sprache zurechtzukommen und die Landschaft Stück für Stück zu erkunden und zu verstehen für sehr ansprechend.
Ein interessanter Ansatz der automatischen Übersetzung
Ein weiterer Punkt innerhalb der technischen Umsetzung von Lingotopias Hauptmechanik hat zudem so sehr mein Interesse geweckt, dass ich ihn euch zuletzt noch näher vorstellen möchte. Gerade aus der Sicht eines Sprachforschers ist die Methode, mit der Lingotopia Worte in einzelnen Sprachen miteinander assoziiert, nämlich sehr interessant. Dahl hat über diese Methode bereits in einem Medium-Post gesprochen und sie an einem Beispiel erklärt. Ich möchte an diesem Beispiel noch ein wenig mehr ins Detail gehen.
Da Lingotopia eine nach oben nicht begrenzte Zahl an Sprachen unterstützt, die auch von Community hinein gemoddet werden können, können natürlich nicht alle davon von Hand eingearbeitet und miteinander in Übersetzungen verknüpft werden. Dahl hat daher einen interessanten Ansatz gewählt: Statt einzelne Worte separat miteinander zu verbinden, etwa ‚Haus‘ und ‚house‘, lässt er den Rechner Satzbausteine in beiden Sprachen auslesen und auf ihre Position und Struktur vergleichen. Damit umgeht er das im Übersetzen allgegenwärtige Problem der konzeptualen Verschiebung von Begriffen in verschiedenen Sprachen. Ihr kennt das als nicht ganz gleichbedeutende Synonyme: Welche Bedeutungen im Deutschen von ‘Nebel’ abgedeckt werden, können im Englischen entweder unter ‘mist’ oder ‘fog’ fallen, und nicht immer können beide Übersetzungen frei untereinander ausgetauscht werden. Um Dahls Praxisbeispiel zu wählen: im Satz “I am going home” lässt sich nicht jedes Wort auf ein einzelnes sinnbehaftetes Wort der deutschen Sprache übertragen. “Ich gehe nach Hause” ist nicht nur strukturell anders aufgebaut, ‘Hause’ ist auch kein alleinstehend funktionierendes Wort, kann also nicht pauschal für ‘home’ übersetzt und ins Wörterbuch eingetragen werden. Die Lösung: Lingotopia speichert eine interne Übersetzung als “i go to X”, mit X als Markierung für ein nicht eigenständig nutzbares Wort, und hinterlegt diese Zwischenlösung als unsichtbaren Kontext hinter jeden Wörterbucheintrag. Damit kann aus diesem kleinen Satz nicht nur das X, also ‘Hause’, ausgelesen und bei erneutem Auftauchen je nach Kontext angezeigt werden, auch die anderen drei Satzbausteine können dem Computer damit sinnvoll definiert und dem Spieler dadurch korrekt angezeigt werden. Nicht nur ist das eine clevere Lösung für eine beliebig erweiterbare Spielmechanik, auch linguistisch ist es ein spannender Ansatz. Ganz ähnlich werden beispielsweise einzelne Satzbausteine oder auch Morpheme in der Strukturanalyse von sprachlichen Äußerungen kategorisiert. In der Morphologie spricht man dabei von Morphen gegenüber Morphemen, allgemeiner können wir jedoch von Typen gegenüber Token sprechen: Während der Typ die Metaebene darstellt, im obigen Beispiel X – das wir als “alles, was ‘home’ bedeuten kann” definiert haben – ist das Token die konkrete sprachliche Äußerung in diesem Fall, die auch die Form wechseln kann, ohne die Bedeutung zu verlieren. Neben ‘Hause’ wäre in Dahls Beispiel also etwa auch ‘heim’ ein Token vom Typ X.
Fazit
Konzepte wie Lingotopia sind aus vielerlei Hinsicht selten. Nicht nur würde ich gerne viel mehr vollwertige Spiele mit Lernfaktor sehen, als kleines Projekt eines Ein-Mann-Entwicklers mit kleinem Budget hat Lingotopia auch jede finanzielle Unterstützung verdient! Lingotopia ist für ungefähr 17 Euro auf Steam und itch.io erhältlich.