Steinzeitliche Moderne? Sprachrekonstruktion in Far Cry Primal
Sprachen sind ein zentraler Teil des Spielerlebens. Das war auch den Entwickler*innen des First-Person-Shooters Far Cry Primal klar. Deswegen haben sie Linguist*innen engagiert, um für ihre steinzeitliche Welt Proto-Proto-Indoeuropäisch zu rekonstruieren, was keine leichte Aufgabe war. Fast alle europäischen Sprachen haben gemeinsame Ursprünge, die mithilfe von aufweändiger linguistischer Arbeit entdeckt werden konnten. Hierbei wurden beispielsweise Gemeinsamkeiten im Wortschatz und ihre Entwicklungen durch strukturelle Lautverschiebungen untersucht, aber auch grammatische Strukturen. So wurde herausgefunden, dass Deutsch u. a. mit Persisch, Hindi, Anatolisch und Russisch verwandt ist, die alle einen gemeinsamen Sprachvorfahren haben. Je weiter man in der Zeit und Verwandtschaft zurückgehen möchte, desto weniger kann auf schriftliche Quellen zurückgegriffen werden. Da selbst Proto-Indoeuropäisch (PIE), das sich etwa 3400 v. Chr. aufgespalten hat, bereits mithilfe der genannten Verfahren rekonstruiert werden muss, ist die Genauigkeit seines viele Tausende Jahre älteren Vorgängers noch schwieriger und spekulativer. Aber auch hier wird natürlich nicht geraten, sondern es werden entsprechende wissenschaftliche Verfahren angewendet.

Vereinfachte Sprache der Wenja
Auf diese Weise haben die Linguist*innen für Far Cry Primal drei unterschiedliche Varietäten des Proto-Proto-Indoeuropäischen für das Spiel entwickelt: Wenja und Izila sowie die vereinfachte Wenja-Variante Udam. In einem Beiheft der Special Edition kann man sich durch Informationen zu den drei Völkern blättern. Hier werden ihre kulturellen Hintergründe erklärt, aber auch eine Auswahl an Wörtern und Aussprachehilfen geliefert. Dieser Einblick in die Entwicklungsarbeit lässt die Spielwelt lebendiger erscheinen.
Die drei ihren jeweiligen fiktiven Dialekt sprechenden Stämme stehen für unterschiedliche Lebensweisen. Sie sind Jäger*innen, Eroberer*innen und ‚Moderne‘ und sprechen wortwörtlich unterschiedliche Sprachen, um durch ihren Alltag zu kommen. Während die Wenja, die Jäger*innen, mehr oder weniger unserem klassischen, durch Popkultur geprägten Bild eines Steinzeitmenschen entsprechen, werden die Izila im Beiheft als sehr fortschrittlich beschrieben, da sie den anderen Stämmen in sozialer und technologischer Sicht überlegen seien. Als Beispiele dafür werden Ackerbau und eine sehr hierarchische Gesellschaftsstruktur genannt. Auch die Unterwerfung von Sklaven und die Opferung von als nicht produktiv gesehenen Menschen werden im Heft als fortschrittlich und überlegen beschrieben. Selbst ihre Grammatik weicht von der der Wenja ab. Während in Wenja das Wort warham sowohl ‚Ich spreche‘ als auch ‚Ich werde sprechen‘ oder ‚Ich sprach‘ heißen kann, unterscheiden die Izila ihre Zeitformen. Im Kontext ihrer Beschreibung entsteht der Eindruck, dass dieses Sprachfeature mehr wert sei und von mehr Bildung und kultureller Überlegenheit zeuge, obwohl Zeiten natürlich auch mit anderen Mitteln wie Temporaladverbien („Jetzt ich jage.“) ausgedrückt werden können. Dies weckt Erinnerungen an Sprachideologien, mit denen kolonialistische Unterdrückung begründet wurde.

Temporaladverbien in der Sprache der Wenja
Diese Denkmuster finden sich auch im Wortschatz, der für das Heft ausgewählt wurde. Der erklärende Abschnitt zum Thema ‚Eroberung‘ ist beispielsweise sehr umfangreich und enthält Vokabeln für ‚Krieger‘, ‚Schlacht‘, ‚Festung‘ und sogar ‚Armee‘, was für eine steinzeitliche Gesellschaft doch relativ ungewöhnlich klingt. Die Kultur-Abschnitte der Stämme fallen hingegen sehr kurz aus und geben keine Möglichkeit, über Musik zu sprechen. Vokabular hierzu wird nur besonders Interessierten in den Online-Ressourcen zur Verfügung gestellt.

Aus dem Beiheft „Wenja-Deutsch. Deutsch-Wenja. Die Referenz, wenn es um Steinzeit-Konversation geht“
Auch wenn im Heft mehrfach betont wird, dass die Entwicklung von Wenja Teil der Bemühungen um eine authentische Spielerfahrung sei (zum Authentizitätsbegriff vgl. Brandenburg 2021), erkennt man in ihrer Umsetzung vor allem kontemporäre gesellschaftliche Vorstellungen. Ein Gefühl der Authentizität unter den Spieler*innen wog teilweise stärker als Wissenschaftlichkeit, was am Beispiel des Säbelzahntigers als Reittier anschaulich wird, der zur dargestellten Zeit bereits ausgestorben war. Auch in der Entwicklung der Sprachen wurden Kompromisse ausgehandelt, um den Lernprozess der Sprecher*innen zu erleichtern. Zudem kamen noch ‚gefühlte‘ Gründe ins Spiel: manche Sprachfeatures wirkten zu modern und mussten abgeändert werden, andere wiederum waren zu unpraktisch, wie die Wortlänge, die der des Englischen angepasst wurde, um die Cutscenes nicht in die Länge zu ziehen.
Insgesamt gibt es viele Details, denen man anmerkt, dass sich ein modernes Publikum mit ihnen wohlfühlen sollte – wobei dieses nicht unbedingt aktuelle gesellschaftliche Ideen mitbringen muss. Im Wörterbuch findet man z. B. zwei unterschiedliche Begrüßungen, die nach Geschlechtern getrennt sind. Es gibt also eine für Männer und eine für Frauen und das bei allen drei Stämmen. Das entspricht unserer heutigen populären Vorstellung von ‚klassischen‘ Geschlechterbildern, obwohl dieses starke binäre Denken doch ein relativ modernes ist. So können einfache sprachliche Mittel dafür sorgen, dass eigene Vorstellungen als ursprüngliche menschliche Natur dargestellt werden, sodass aktuelle Diskussionen – egal ob gewollt oder ungewollt – als Abweichung von dieser geframed werden.


Das ist ein wirklich schöner Text und ich hab das Gefühl ganz viel Neues gelernt zu haben. Ich find auch das Spannungsfeld zwischen Akuratesse und Benutzer*innen-Freundlichkeit sehr spannend. Mein Gefühl wäre ja, dass hier Abstriche an Genauigkeit, wenn sie dazu dienen Spieler*innen für Geschichte allgemein und die Geschichte der Sprache im Speziellen zu interessieren völlig legitim sind. 🙂
Das ist natürlich immer legitim! Besonders interessant finde ich, welche Features, ob sprachlich oder anderweitig historisch, als „authentisch“ angesehen und deswegen verwendet werden und welche nicht, selbst wenn sie es sind. Da könnte man auch in anderen Spielen mal ein Auge drauf werfen.